John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski

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Aus der Reihe: gelbe Buchreihe #157
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John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski
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John Henry Mackay

John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski

Band 157 in der gelben Buchreihe

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort des Herausgebers

Der Autor John Henry Mackay

Eileitung

Vorwort zur Volksausgabe

Erstes Kapitel – Im Herzen der Weltstadt

Zweites Kapitel – Die elfte Stunde

Drittes Kapitel – Die Arbeitslosen

Fünftes Kapitel – Die Kämpfer der Freiheit

Sechstes Kapitel – Das Reich des Hungers

Siebentes Kapitel – Die Tragödie von Chicago

Achtes Kapitel – Die Propaganda des Kommunismus

Neuntes Kapitel – Trafalgar Square

Zehntes Kapitel – Anarchie

Die gelbe Buchreihe

Weitere Informatonen

Impressum neobooks

Vorwort des Herausgebers

Vorwort des Herausgebers


Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche.


Dabei lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.

Im Februar 1992 entschloss ich mich, meine Erlebnisse mit den See­leuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzu­tragen. Es stieß auf großes Interesse. Mehrfach wurde in Leser-Reaktio­nen der Wunsch laut, es mögen noch mehr solcher Bände erscheinen. Deshalb folgten dem ersten Band der „Seemannsschicksale“ weitere.

Der in diesem Band enthaltene Text von Amalie Sieveking zeugt von der tiefen Frömmigkeit einer vom Pietismus geprägten Dame aus der gutbürgerlichen Gesellschaft Anfang des 19. Jahrhunderts und spiegelt die Denkmuster und Lebensart eines Teils der damaligen Zeit. Für uns sind diese Ansichten heute kaum nachzuvollziehen, doch sind sie ein Zeugnis damaliger diakonischer Aktivität. Hamburg, 2021 Jürgen Ruszkowski


Ruhestands-Arbeitsplatz

Hier entstehen die Bücher und Webseiten des Herausgebers

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Der Autor John Henry Mackay

Der Autor John Henry Mackay


https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/mackay.html

John Henry Mackay wurde am 6.11.1864 in Grenoch bei Glasgow geboren; er starb am 16.05.1933 in Berlin.

Nach dem frühen Tod des Vaters zog die Familie nach Saarbrücken. Mackay besuchte die Gymnasien in Burgsteinfurt und Birkenfeld bei Trier, nahm in Stuttgart eine Lehre als Verlagsbuchhändler auf (1883/84) und hörte einige Semester philosophische Vorlesungen an den Universitäten Kiel, Leipzig und Berlin. Im Jahre 1885 trat Farquhar (sein Geburtsname) unter dem Namen Mackay an die literarische Öffentlichkeit.

In Berlin verkehrte er im Umfeld des Friedrichshagener Dichterkreises. Hier erkannte der circa 22jährige seine homosexuell-päderastische Grundneigung. Nach einem einjährigen London-Aufenthalt (1887/89) vertiefte er sich in den Theorien des Anarchisten Max Stirner, die er vollständig verinnerlichte.


Max Stirner

Nach der Erinnerung gezeichnet von Friedrich Engels

Im Jahre 1898 freundete sich Mackay mit Rudolf Steiner an, mit dem er die Propagandaschrift ‚Sind Anarchisten Mörder?‘ vorbereitete.


Rudolf Steiner

Durch den Tod seiner Mutter (1902) wurde er in eine tiefe Identitätskrise gestürzt, aus der er sich durch die Annahme einer zweiten Existenz unter dem Pseudonym ‚Sagitta’ (Der Pfeil) zu befreien versuchte.

Inflation und Weltwirtschaftskrise führten in den zwanziger Jahren zu seinem wirtschaftlichen Ruin. Mackay starb am 16. Mai 1933, vermutlich durch eine Überdosis Morphium und wurde auf dem Friedhof Berlin-Stahnsdorf beigesetzt.

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Eileitung

Eileitung

https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/mackay.html

Das Werk der Kunst hat für den Künstler zu sprechen, der es schuf; die Arbeit des betrachtenden Forschers, welcher hinter ihr zurücktrat, erlaubt ihm zu sagen, was ihn trieb, sich zu äußern.

Der Vorwurf der Arbeit, die ich vollende, erlaubt mir nicht nur, sondern verlangt von mir, sie mit einigen Worten zu begleiten.

Zuvor das Eine: Wer mich nicht kennt und in den folgenden Blättern etwa sensationelle Enthüllungen in der Art jener verlogenen Spekulationen auf die Urteilslosigkeit des Publikums erwartet, aus welchen dieses seine ganze Kenntnis der anarchistischen Bewegung schöpft, der gebe sich nicht die Mühe, über diese erste Seite hinaus zu lesen.

Auf keinem Gebiet des sozialen Lebens herrscht heute eine heillosere Verworrenheit, eine naivere Oberflächlichkeit, eine gefahrdrohendere Unkenntnis, als auf dem des Anarchismus. Die Aussprache des Wortes schon ist wie das Schwenken eines toten Tuches – in blinder Wut stürzen die Meisten auf dasselbe los, ohne sich Zeit zu ruhiger Prüfung und Überlegung zu lassen. Sie werden auch dieses Werk zerfetzen, ohne es verstanden zu haben. Mich werden ihre Stöße nicht treffen.

London und die Ereignisse des Spätjahres 1887 haben mir als Hintergrund meines Gemäldes gedient.

Als ich im Anfang des darauf folgenden Jahres noch einmal für einige Wochen auf den Schauplatz zurückkehrte, hauptsächlich um meine East End Studien zu vervollständigen, ahnte ich nicht, dass gerade die von mir zu eingehenderer Schilderung gewählte Gegend durch die Frauenmorde Jack „des Aufschlitzers“ bald nachher in aller Munde sein würde.

Das Kapitel über Chicago wurde nicht abgeschlossen, ohne dass ich auch das dicke Bilderbuch für große Kinder, mit dem seitdem der Polizeikapitän Michael Schaack den infamen Mord seiner Regierung zu rechtfertigen suchte: „Anarchy and Anarchists“ (Chicago, 1889), einer Durchsicht unterzogen hätte. Es ist nichts weiter, als ein – nicht unwichtiges – Dokument stupider Brutalität sowohl, wie raffinierter Eitelkeit.

Die Namen von Lebenden sind von mir in bewusster Absicht nirgends genannt; der Näherstehende wird trotzdem fast überall unschwer die Züge erkennen, die mir Vorbilder gewesen sind.

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Zwischen der Niederschrift des ersten und des letzten Kapitels liegen drei Jahre. Immer neu auftauchende Zweifel zwangen mich immer wieder, oft auf lange hinaus, zur Unterbrechung der Arbeit. Ich begann sie vielleicht zu früh; zu spät beende ich sie nicht.

Nicht jede Seite der Frage konnte ich erschöpfen; meist war es mir nicht vergönnt mehr zu geben, als die Schlusssätze oft langer Gedankenreihen. Die völlige Unvereinbarkeit anarchistischer und kommunistischer Weltanschauung, die Zwecklosigkeit und Schädlichkeit gewaltsamer Taktik, sowie die Unmöglichkeit irgendeiner „Lösung der sozialen Frage“ durch den Staat hoffe ich bewiesen zu haben.

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Das neunzehnte Jahrhundert hat die Idee der Anarchie geboren.


Symbol der Anarchie

(Anarchie (altgriechisch ἀναρχίαanarchía „Herrschaftslosigkeit“, von ἀρχία archía „Herrschaft“ mit verneinendem Alpha privativum) bezeichnet einen Zustand der Abwesenheit von Herrschaft. Er findet hauptsächlich in der politischen Philosophie Verwendung, wo der Anarchismus für eine solche soziale Ordnung wirbt. – https://de.wikipedia.org/wiki/Anarchismus)

 

In seinen vierziger Jahren wurde der Grenzstein zwischen der alten Welt der Knechtschaft und der neuen der Freiheit gesetzt. Denn es war in diesem Jahrzehnt, dass P. J. Proudhon die titanische Arbeit seines Lebens mit: „Qu'est-ce que la propriété?“ (1840) begann und Max Stirner sein unsterbliches Werk: „Der Einzige und sein Eigentum“ (1845) schrieb.

Sie konnte vergraben werden unter dem Staube zeitweiligen Rückschrittes der Kultur. Aber sie ist unvergänglich.

Sie ist bereits wieder erwacht.


Pierre-Joseph Proudhon – 1808 – 1865

Seit zehn Jahren kämpft in Boston, Mass., mein Freund Benj. R. Tucker mit der unbesieglichen Waffe seiner „Liberty“ für Anarchie in der neuen Welt.


Benjamin Ricketson Tucker – 1854 – 1939

Oft habe ich in den einsamen Stunden meiner Kämpfe meinen Blick auf das funkelnde Licht gerichtet, das von dort aus die Nächte zu erhellen beginnt...

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Als ich vor nun drei Jahren die Gedichte meines „Sturm“ der Öffentlichkeit übergab, begrüßten mich freundliche Stimmen als den „ersten Sänger der Anarchie“.

Ich bin stolz auf diesen Namen.

Aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass es heute nicht so sehr darauf ankommt, Begeisterung für die Freiheit zu erwecken, als vielmehr von der unbedingten Notwendigkeit ökonomischer Unabhängigkeit, ohne welche sie ewig der wesenlose Traum der Schwärmer bleiben wird, zu überzeugen.

In diesen Tagen der wachsenden Reaktion, die in dem Siege des Staatssozialismus ihren Höhepunkt erreichen wird, ist die Forderung unabweisbar für mich geworden, hier auch der erste Verfechter der anarchistischen Idee zu sein.

Ich hoffe, ich habe meine letzte Lanze für die Freiheit noch nicht gebrochen.

Rom, im Frühjahr 1891

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Vorwort zur Volksausgabe

Vorwort zur Volksausgabe

Mit dem Erscheinen einer wohlfeilen Volksausgabe meiner „Anarchisten“ verwirklicht sich mir ein immer gehegter Lieblingswunsch, den die Umstände bei der Drucklegung des Werkes selbst nicht zuließen und dessen Erfüllung sich seitdem alle jene Schwierigkeiten entgegengestellt haben, die bei der Ungunst der heutigen Verhältnisse jede freiheitliche Handlung zu einer Unmöglichkeit zu machen sich verschworen zu haben scheinen.

Die Schwierigkeiten sind überwunden und von neuem tritt, nachdem zwei Jahre vergangen, mein Werk an die Öffentlichkeit, sich heute vor Allem an Jene wendend, denen es bisher schwer zugänglich gewesen ist: an die deutschen Arbeiter.

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Zu ihnen ein erstes und voraussichtlich auf lange hinaus letztes, kurzes Wort zu sprechen, darf ich mir nicht versagen. So fest hat sich in den deutschen Arbeitern – mit dem Wachsen der sozialdemokratischen Partei – im Verlauf der letzten Jahrzehnte die Überzeugung eingewurzelt, dass die Befreiung der Arbeit, welche gleichbedeutend ist mit der Schwächung und dem Tod der Privilegien des Kapitals, nur möglich ist, wenn dies letztere den Händen des Einzelnen entzogen und auf dem Wege gewaltsamer Enteignung „Eigentum der Gesellschaft“ geworden ist, und so unerschütterlich scheint mir dieser Glaube geworden zu sein, dass ich nicht sehe, was anders sie von diesem Irrtum abzubringen im Stande sein könnte, als die Erfahrung. Wie bitter diese Erfahrung und wie groß die Enttäuschung sein wird, ahnt nur der, der gleich mir weiß, dass jede Unterbindung wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit zugleich eine Verstärkung des traurigen Zustandes gegenseitiger Abhängigkeit bedeutet.

Aber möge sie gemacht werden, wenn es denn nicht anders sein kann! ...

Freilich: Die großen Demagogen unserer Tage, die sonst so klein sind, wird dann der Tod der ungeheuren Verantwortlichkeit, welche sie auf sich geladen, enthoben haben und vergebens werden ihre opferfreudigen Kämpfer suchen, sie zur Rechenschaft zu ziehen für das, was sie versprechen und immer wieder – versprochen.

Den Kindern dieser Kämpfer wird, vor die traurigste Notwendigkeit gestellt, nichts anderes übrig bleiben, als ihr Heil endlich in der Freiheit, und nur in der Freiheit allein, zu suchen.

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Drei große Feinde hat der Arbeiter als Feinde zu erkennen und zu überwinden: die Politiker, die Philanthropen und – sich selbst. Erst wenn er eingesehen haben wird, dass die Knechte, um die Herren zu verdrängen, nicht erst selbst zu Herren von Knechten geworden sein müssen und dass die Erreichung dieses Zieles – des Zieles aller und jeder Politik – ihn um keinen Schritt seiner wirtschaftlichen Befreiung näher bringt, da diese allein eine Folge harmonischer Entwicklung im sozialen Organismus sein kann; erst wenn er sich von jenen neuen und letzten Predigern einer alten, in ihren Todeszuckungen sich noch einmal aufbäumenden Religion, den Weltverbesserern und Utopisten mit den heißen Köpfen und den lauwarmen Worten, den Ethikern und Moralisten jeder Art, losgemacht hat, die da alle nicht begreifen können und wollen, dass es nicht die Menschen, sondern die Verhältnisse zu ändern gilt, aus welchen heraus die Menschen ‚gut’ und ‚böse’ werden; erst wenn er durch und durch begriffen haben wird, dass nichts auf der Welt ihm zu helfen im Stande ist, als er selbst, und diese Erkenntnis ihn zu neuen, durch kein „Klassenbewusstsein“ mehr getrübten, gründlicheren Erwägungen der Bedingungen, unter denen er lebt und leidet, und damit zu ganz verändertem und aussichtsreicherem Handeln treibt, erst dann, sage ich, kann er hoffen, die Ketten seiner Abhängigkeit zu brechen und von sich zu werfen.

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Die Besprechungen, welche meinem Werke und seinen Übersetzungen so reichlich zu Teil geworden sind, haben ihm nichts nehmen und mir nichts geben können. Die Absicht, auf einige derselben zu antworten, gab ich auf; ich überzeugte mich, dass der Liebe Müh' doch umsonst sein würde. Von den Kommunisten wurden keine anderen, als die alten Argumente vorgebracht – dass ich sie aufs Neue widerlegen würde, durften sie selbst nicht erwarten; den professionellen Kritikern der Literatur waren die hier behandelten Fragen völlig verschlossen – ein Verständnis daher nicht zu erwarten; die große Tagespresse, die „Dirne der öffentlichen Meinung“, schwieg natürlich – sie wusste warum; und die meisten von den Organen der sozialdemokratischen Presse, welche sich das Werk unter ausdrücklicher Zusicherung einer Besprechung von Zürich senden ließen, kamen in ihrer feigen Servilität und jammervollen Abhängigkeit noch rechtzeitig von einem Entschlusse zurück, dessen Ausführung an Allerhöchster Stelle ein nicht unbegründetes Missfallen erregt haben würde.

Den Wenigen, die ernsthaft gelesen, über was sie schrieben, dankte ich im Stillen.

So schwieg ich auf alles. Nur ein einziges Mal schloss ich klatschend einen schamlosen Mund, der die ungeheuerliche Lüge gegen mich anwandte, zu sagen, die revolutionären Kommunisten seien von mir als Räuber und Mörder geschildert worden, während dieses ganze Buch nur ein einziger Protest gegen den gesetzmäßigen Diebstahl, den privilegierten Raub und den sanktionierten Mord des Staates ist. Dass ich heute – angesichts so vieler starrender Bajonette und Säbel – mehr als je von der völligen Aussichtslosigkeit eines gewaltsam geführten Kampfes für die Sache der Arbeit überzeugt bin, bekenne ich ebenso ungescheut, wie die stets neue Freude, welche ich empfinde, wenn ich höre, dass es meinen Worten gelungen ist, den Einen oder Anderen vor unbesonnenem Vorgehen bewahrt, d. h. den Klauen der Gewalt, der Verfolgung und dem Gefängnis entrissen und für die Taktik des passiven Widerstandes – den siegreichen Kampf einer hoffentlich nicht mehr so fernen Zukunft – gewonnen zu haben. Wie berechtigt diese Frage ist, wird mir dann am Meisten klar, wenn ich sehe, wie unausgesetzt weiter vom sicheren Auslande her durch ebenso unsinnige und törichte, wie zwecklose und feige Handlungen Sicherheit und Leben der „Genossen“ aufs Spiel gesetzt wird.

Die Volksausgabe der „Anarchisten“ ist unverändert geblieben. Bei einer Stelle empfand ich indessen die Verpflichtung, nicht sie zu ändern, sondern sie so durch einige ergänzende Zeilen zu erklären, dass sie hinfort keinem Missverständnis, welches einige Male glaubte sich als Beschuldigung gebärden zu dürfen, mehr ausgesetzt ist.

* * *

Ich habe auf die von vielen Seiten an mich gerichtete Frage zu antworten: Warum ich, um meinen Ideen eine weitere Verbreitung zu geben, nicht agitiere, nicht propagiere, nicht in den Versammlungen spreche und diskutiere, und vor allem, weshalb ich nicht auf dem einzigen Wege, auf dem die Mehrzahl der Menschen heute allem noch erreichbar ist, dem der Presse, zu ihnen gehe.

Ich erwidere darauf: Weil ich es nicht kann; weil ich es nicht könnte, auch wenn ich es wollte. Die Gaben der Menschen sind verschieden. Ich bin ein Künstler, vielleicht nicht „durch und durch“, denn mein Interesse gehört vielem im Leben, doch so manches lastet auf mir, von dem ich mich, ich fühle es, nur befreien kann in dichterischem Schaffen. Die Herausgabe und Leitung einer Zeitung aber würde mich töten, und ein Hervordrängen meiner Person in den lauten, rohen Kampf des Tages und seiner Meinungen wäre mir vollends unmöglich.

Man erwarte also nichts von mir, als „von Zeit zu Zeit ein Buch“. Vielleicht, dass ich die hier begonnene Arbeit direkt wieder aufnehme; aber so lange die großen, klaren Grundlinien der Weltanschauung des Anarchismus noch so wenig begriffen worden sind, solange der Boden, auf dem sie sich aufbaut, ein noch so unbetretener ist, so lange noch immer wieder anzukämpfen ist gegen das völlige und in seiner Allgemeinheit beispiellose Missverstehen des Wortes allein, so lange drängt mich nichts zu umfassenderen und begründeteren Darlegungen.

Möge daher vorerst dies Werk noch einmal seine ungeschwächte Kraft erproben und das Bollwerk der Voreingenommenheit von neuem berennen, immer dieselbe Stelle, bis ein Weg sich öffnet.

Ich habe meine letzte Lanze für die Freiheit noch nicht gebrochen. Aber die Wahl meiner Lanzen, ich muss sie mir immer vorbehalten.

* * *

Das letzte Wort den Freunden der Freiheit: meinen bekannten, meinen unbekannten Freunden...

Alles, sie mögen davon überzeugt sein, wird auch hier getan werden, wenn die Zeit dazu gekommen ist: mit den rechten Männern werden sich auch die rechten Wege, und dann auch die Mittel, sie zu beschreiten, finden. Nach dem so glänzend gegebenen Beispiel meines großen amerikanischen Freundes, dessen Sein und Wirken allein schon genügen müsste, um keinen Augenblick die Hoffnung sinken zu lassen, wird sich auch hier eine Propaganda entfalten, gewiss aus kleinen Anfängen heraus, aber unternommen und ins Werk gesetzt mit jener aus Wissen, Erkenntnis, Überlegung, Entschlossenheit, Zähigkeit und Mut geborenen Überlegenheit, welche zwar gelangweilt und ermüdet, nicht aber entmutigt und beirrt werden kann, da sie nicht zu reden, sondern einzig und allein zu zeugen bestrebt ist.

Dann wird dieses Buch ein Anfang gewesen sein... Das wünscht keiner heißer, als ich.

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Nur der versteht die Freiheit, welcher sie liebt. Wer sie aber – und das ist alle Zukunft – liebt als die Notwendigkeit seines Lebens, der muss sie auch, durch alle Irrtümer hindurch, verstehen lernen...

Aus dem Wirrwarr und dem Widerstreit der Meinungen hebt sich klar, verständlich, siegreich allein am Ende unseres Jahrhunderts die Lehre von der Souveränität des Individuums.

Wer wagt es zu leugnen, dass sie das Ziel aller menschlichen Entwicklung ist?

Barbarei und Knechtschaft vergangener Zeiten haben uns endlich zu der Erkenntnis gebracht, dass Kultur und Zivilisation erst in jenem Zustand der Gesellschaft ihre höchsten Triumph zu feiern im Stande sind, in welchem mit dem letzten Vorrecht auch die Gewalt, die es schützte, der Staat, geschwunden ist: dem Zustande gleicher Freiheit, wo ein verfeinerter und höchstgesteigerter Egoismus auch den letzten gelehrt hat, dass seine Freiheit wächst und abnimmt mit der Freiheit des Anderen, dass er in demselben Maße unabhängiger wird, als er seinem Nächsten erlaubt, unabhängig von ihm zu sein.

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Vergebens werden wir weiter versuchen, uns den letzten Konsequenzen zu entziehen, zu denen die Logik des Denkens uns mit unfehlbarer Sicherheit und unaufhaltsamer Kraft treibt.

 

Denn wir dürsten nach Glück, dem Glück auf Erden. Und nicht eher – den trüben Fanatikern des Kommunismus, wie den schwankenden Machthabern der Gewalt gleich zum Trotz – werden wir ruhen, bis wir uns dieses Glück, welches die Freiheit ist, errungen haben.

Berlin, im Frühjahr 1893

John Henry Mackay

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Erstes Kapitel – Im Herzen der Weltstadt

Erstes Kapitel – Im Herzen der Weltstadt

Über London hin begann sich ein nasskalter Oktoberabend zu breiten. Es war der Oktober desselben Jahres, in welchem noch nicht fünf Monate vorher jene albernen Feierlichkeiten der fünfzigjährigen Regierungszeit einer Frau, welche sich „Königin von Großbritannien und Irland und Kaiserin von Indien“ nennen ließ, in Szene gesetzt waren, nach denen das Jahr 1887 „Jubilee Year“ genannt wurde.


Königin Victoria – 1819 – 1901

An diesem Abend – es war der letzte einer Woche – suchte sich durch wirre, enge und fast leere Gassen ein Mann aus der Richtung von Waterloo Station her nach der Eisenbahnbrücke von Charing Cross seinen Weg. Als er langsam, wie ermüdet von einem stundenweiten Gange, die Holztreppe, welche zu einem schmalen, neben den Schienen sich hinziehenden Fußgängerpfad der Brücke führt, hinaufgestiegen und ungefähr der Mitte des Flusses angelangt war, trat er in eine der runden Ausbuchtungen nach der Wasserseite hin und stand dort eine Weile, während er die Menschen hinter sich vorbeitreiben fühlte. Es war mehr eine Gewohnheit als eigentliche Ermattung, die ihn Halt machen und die Themse hinunterblicken ließ. Da er trotz seines bereits dreijährigen Aufenthaltes in London nur selten „jenseits der Themse“ gewesen war, so versäumte er nie, bei Überschreitung einer der Brücken den großartigen Anblick, den London von einer jeden unter ihnen bietet, wieder in sich aufzufrischen.


London Waterloo Bridge

Es war noch eben hell genug, dass er bis nach Waterloo Bridge hin zu seiner Rechten die dunklen Massen der Lagerhäuser und auf dem Spiegel der Themse zu seinen Füßen die Reihen der aneinandergekoppelten weitbauchigen Frachtkähne und Flöße erkennen konnte, doch flammten bereits all die Lichter des Abends in das dunkle, gähnende Chaos dieser ungeheuren Stadt hinein. Wie parallele Linien zogen sich die beiden Laternenreihen auf Waterloo Bridge hin und jedes der Lichter warf seinen scharfen, flimmernden Schein tief und lang nieder in die zitternde, dunkle Flut, während zur linken in terrassenförmigem Aufstieg die ungezählten kleinen Flammen, welche die Embankments und den Strand mit seiner Umgebung allabendlich erhellten, aufzuleuchten begannen. Der ruhig Dastehende sah drüben auf der Brücke die vorhuschenden Lichter der Cabs; er hörte hinter sich die Züge der Südostbahn rasselnd und dröhnend in die Halle von Charing Cross hineinrasen und wieder hinaus; sah unter sich die trägen Wellen der Themse mit fast unhörbarem Plätschern an der sich tief herabziehenden dunkelschwarzen Schlammmasse lecken, und indem er sich zum Weitergehen wandte, öffnete sich vor ihm – von weißen Fluten des elektrischen Lichtes taghell durchleuchtet – die Riesenhalle des Bahnhofs von Charing Cross, dieser Mittelpunkt eines Tag und Nacht nicht rastenden Getriebes...


Charing Cross

Er dachte an Paris, seine Heimatstadt, als er langsam weiterschritt. Welcher Unterschied zwischen den breiten, flachen und hellen Ufern der Seine und diesen starren, ragenden Massen, auf welche selbst die Sonne keinen Schimmer von Freude zu zaubern vermochte!

Er sehnte sich zurück nach der Stadt seiner Jugend. Aber er hatte London lieben gelernt mit der leidenschaftlichen, eifersüchtigen Liebe des Trotzes.

Denn man liebt London entweder oder man hasst es...

Wieder blieb der Wanderer stehen. So hell war die riesige Halle erleuchtet, dass er die Uhr an ihrem Ende deutlich erkennen konnte. Die Zeiger standen zwischen der siebenten und der achten Stunde. Das Leben auf dem Fußwege schien sich verstärkt zu haben, als ob eine Menschenwelle von diesseits nach jenseits hin gespült würde. Es war, als ob der Zögernde sich nicht losreißen könne. Er betrachtete einen Augenblick das unablässige Spiel der Signalarme an dem Einfahrtspunkte der Halle; dann versuchte er die Schienen hinweg und durch das Gewirr von Eisenpfosten und Waggons Westminster Abbey mit seinen Blicken zu erreichen; aber er konnte nichts als das schimmernde Zifferblatt am Turm von Parliament House erkennen und die dunklen Umrisse gigantischer Steinmassen, welche sich drüben erhoben. Und all hin gewirrt die tausend und abertausend Lichter...

Wieder wandte er sich nach der freien Seite, an welcher er vorher gestanden hatte. Unter seinen Füßen rollten dumpf brausend die Züge der Metropolitan Railway hin; die ganze Weite des Victoria Embankment lag bis Waterloo Bridge halb hell erleuchtet unter ihm. Starr und ernst hob sich die Nadel der Kleopatra in die Höhe.

Zu dem Manne herauf drang das Lachen und Singen der Burschen und Mädchen, welche allabendlich die Bänke der Embankments belegt hatten. „Do not forget me – do not forget me“ war der Refrain. Ihre Stimmen klangen hart und schrill. „Do not forget me“ – all konnte man es im Jubilee Year in London hören... Es war das Lied des Tages.

Wer das Gesicht des eben den Brückenrand Gebeugten jetzt beobachtet hätte, dem wäre ein seltsamer Ausdruck von Härte nicht entgangen, der es plötzlich beherrschte. Der Fußgänger hörte nichts mehr von dem verhaltenen, hier gedämpften Lärm und dem trivialen Gesang. Ein Gedanke hatte ihn wieder beim Anblick der gewaltigen Kai-Anlage zu seinen Füßen gepackt: Wie viel Menschenleben mochten wohl unter diesen weißen Granitquadern, so sicher und unüberwindlich aufeinandergetürmt, zermalmt sein? Und er dachte wieder jener schweigenden, unbelohnten, vergessenen Arbeit, welche all' das Große, das er um sich sah, geschaffen.

Schweiß und Blut werden abgewaschen und der Einzelne erhebt sich lebend und bewundert auf den Leichen von Millionen Ungenannt-Vergessenen...


Hungerford Suspension Bridge

Als stachele ihn dieser Gedanke auf, schritt Carrard Auban weiter. Indem er die Steinbögen am Ende der Brücke durchmaß, die Überreste der alten Hungerford Suspension Bridge, sah er zu Boden und ging schneller. Wieder, wie immer, lebte er in den Gedanken, denen auch er die Jugend seines Lebens gewidmet hatte, und wieder packte ihn die grenzenlose Größe dieser Bewegung, welche die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die „soziale“ genannt hat: dorthin Licht zu tragen, wo noch das Dunkel herrscht – in die duldenden, unterdrückten Massen, deren Leiden und langsames Sterben „den Anderen“ das Leben gibt...

* * *

Aber als Auban die Brückentreppe niedergestiegen war und sich in Villiers Street, jener merkwürdigen kleinen Straße, die vom Strand nach dem Stadtbahnhof von Charing Cross hinabführt, befand, wurde er wieder von dem ihn umrauschenden Leben gefesselt. Unaufhörlich drängte es sich an ihm vorbei: Dieser wollte noch den Zug erreichen, der eben jene, welche so eilig dem Strand zueilten – verspätete Theaterbesucher, die sich vielleicht wieder in den Entfernungen Londons geirrt – ausgespien hatte; hier redete eine Prostituierte auf einen Herrn im Seidenhut ein, den sie mit einem Wort und einem Blick ihrer müden Augen hierher gelockt hatte, um mit ihm den ‚Preis’ handelseinig zu werden; und dort drängte eine Schar hungriger Gassenkinder ihre schmutzigen Gesichter an die Scheiben eines italienischen Waffelbäckers, gierig jede Bewegung des unermüdlich Arbeitenden verfolgend – Auban sah Alles: Er hatte dieselbe Aufmerksamkeit eines im Beobachten geübten Auges für den zehnjährigen Jungen, welcher den Voreilenden einen Penny abzubetteln suchte, indem er vor ihnen her auf dem feuchten Straßenpflaster Rad schlug, und für die verkommenen Züge jenes Burschen, welcher sofort, als er stehen geblieben war, sich an ihn drängte und ihm die neueste Nummer der „Matrimonial News“ – „für Alle unentbehrlich, welche zu heiraten wünschen“ ,– aufzuschwatzen suchte, aber sich sofort dem Nächsten zuwandte, als er sah, dass er keine Antwort erhielt.

Auban ging langsam weiter. Er kannte dieses Leben zu gut, als dass es ihn noch verwirrt und betäubt hätte; und doch packte und fesselte es ihn immer wieder aufs Neue mit seiner ganzen Gewalt. Er hatte während dieser Jahre Stunden und Tage seinem Studium gewidmet, und immer und all fand er es neu und interessant. Und je mehr er ihre Strömungen, ihre Abgründe und ihre Untiefen kennen lernte, desto mehr bewunderte er diese einzige Stadt... Seit einiger Zeit war diese Zuneigung, welche mehr war als Anhänglichkeit und weniger eigentlich als Liebe, zu einer leidenschaftlich erregten geworden. London hatte ihm zu viel – weit mehr als dem Bewohner und dem Besucher – gezeigt; und nun wollte er alles sehen. Die Unruhe dieses Wunsches hatte ihn denn auch an dem heutigen Nachmittag hingestoßen auf das jenseitige Themse-Ufer, zu stundenlangen Wanderungen in Kennington und Lambeth – jenen Vierteln eines entsetzlichen Elends –, um ihn müde und zugleich entmutigt und erbittert zurückkehren zu lassen und ihm jetzt am Strand den Widerschein wie die Kehrseiten jenes Lebens zu zeigen.

Er stand nun an dem Eingang des dunklen und öden Tunnels, welcher unter Charing Cross durch auf Nortumberland Avenue zuläuft. Die schrillen und zitternden Töne eines Banjo schlugen an sein Ohr; eine Gruppe von Vorgehenden hatte sich zusammengeschart: in ihrer Mitte schlug ein Knabe in zerrissenem Karikatur-Kostüm und mit verrußtem Gesicht – wer hat die bizarren Gestalten dieser „Neger-Komödianten“ nicht schon an den Straßenecken Londons ihre lärmenden Singtänze aufführen sehen? – sein Instrument, während zu den Tönen desselben ein Mädchen mit jener mechanischen Gleichgültigkeit tanzte, die keine Ermüdung zu kennen scheint. Auban warf, indem er sich vorbeidrängte, auch in das Gesicht dieses Kindes einen Blick: Gleichgültigkeit und doch zugleich eine gewisse Ungeduld lag auf ihm.

– Sie ernähren ihre ganze Familie, die Armen, murmelte er. In der nächsten Minute hatte sich die Menge zerstreut und das kleine Paar sich zur nächsten Straßenecke durchgedrängt, dort Spiel und Tanz von Neuem zu beginnen, bis der Policeman sie forttrieb, der gehasste, der gefürchtete.