Donau-Radtouren (eBook)

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Erbach

Bei Erbach überspannt eine Eisenbahnbrücke die Donau, keine ganz gewöhnliche Strecke. Diese Eisenbahnlinie ist vielleicht die meist besungene der Welt.

Auf de schwäb’sche Eisebahne …

Auf de schwäb’sche Eisebahne

Auf de schwäb’sche Eisebahne

gibt’s gar viele Haltstatione:

Schtuegert, Ulm und Biberach,

Meckebeure, Durlesbach.

Trulla, rulla, rullala,

rulla, rulla, rullala,

Schtuegert, Ulm und Biberach,

Meckebeure, Durlesbach.

Ja, gar viele Haltstatione gab es auf der ersten württembergischen Eisenbahnlinie, die im Jahr 1850 durchgehend befahrbar wurde. Die Station Meckebeure kommt allerdings, anders als besungen, erst nach Durlesbach. Durlesbach reimt sich eben auf Biberach, darauf musste der unbekannte Schöpfer des Liedes Rücksicht nehmen.

Die schwäb’sche Eisebahne hätte schon viel früher in Betrieb gehen sollen. Sehr zum Ärger des württembergischen Königs Wilhelm I. aber stritten sich die Dörfer zwischen Erbach und Biberach, jedes wollte ebenfalls eine Haltstatione bekommen. Wutentbrannt ließ sich der König die Karte mit den Planungen geben, nahm ein Lineal und zog einen schnurgeraden Strich durch die Landschaft, an allen Dörfern vorbei, sodass er endlich zu seiner hübschen Sommerresidenz Kloster Hofen an den Bodensee dampfen konnte.

Auf de schwäb’sche Eisebahne

wollt emol a Bäuerle fahre,

geht an Schalter, lupft den Huet:

»Oi Billettle, seid so gut!«

Eine Geiß hat er si kaufet,

und dass sie ihm net verlaufet,

bindet sie der guete Ma

an de hintre Wage na.

Auf de schwäb‘sche Eisebahne wurde erstmals 1853 in einem Tübinger Kommersbuch gedruckt. Köstlich sollte man sich bald in ganz Deutschland über das dumme schwäbische Bäuerlein amüsieren, das aus reinem Geiz seines Ziegenbocks verlustig ging. Was musste er das arme Tier auch hinten anbinden? Der Gipfel der Dummheit aber war es, den armen Lokführer mit dem abgetrennten Geißkopf zu bewerfen. Wenn sich heutige Bahnmitarbeiter, leider oft zu Recht, über die mangelnden Manieren der Reisenden beschweren, so kann man sie vielleicht mit diesem Lied trösten. In den USA wäre der Bock natürlich am Leben geblieben, dort muss an jedem Zug geschrieben stehen, dass das Anbinden von Tieren am Zug tödliche Folgen haben kann.

In Schwaben und anderswo war das Anbinden eines Bocks an eine Postkutsche durchaus üblich, das muss zur Entschuldigung des Bäuerles noch erwähnt werden. Beim Weiterradeln pfeifen wir das fröhliche Liedchen, das mit seinem »Trulla-rulla-rullala« lautmalerisch gekonnt die Bewegungen einer Dampflok imitiert. Psychologisch betrachtet ist die heftige Reaktion des Bauern völlig korrekt. Sie steht in einem allgemeineren Sinn für das Gefühl vieler Menschen, in einer sich rasant verändernden Welt nicht mehr zurechtzukommen. Man kommt sich abgehängt vor, ohnmächtig. Wenn wir schon meinen, der immer neuesten technischen Entwicklung hinterherhecheln zu müssen, sollte man zumindest darauf achten, alle Menschen mitzunehmen.

Von Erbach geht’s weiter nach Ersingen. Hier ergießt sich ein weiterer Fluss in die Donau, gegenüber der mächtigen Iller allerdings eher ein Flüsschen, die Riß. Auch die Riß, die man weiter mit ß schreiben darf, hat zwei Quellflüsse, die Warme Riß und die Kalte Riß. Wie groß ihr Temperaturunterschied allerdings tatsächlich ist, können wir nicht angeben, auch nicht, zu welcher Temperatur sie sich mischen, da die Riß von Süden kommt, wir aber radeln am nördlichen Ufer entlang.

Die Riß hat es zu einiger Berühmtheit gebracht, ist nach ihr doch eine eigene Kälteperiode benannt, die Riß-Kaltzeit, das zweitjüngste der vier kalten Geschwister. (Von Eiszeiten zu sprechen ist nicht länger zeitgemäß, der Begriff der Kaltzeit hat sich durchgesetzt.) Vor circa 130.000 bis 350.000 Jahren kalbten die Alpengletscher gewaltig und schickten in vier Anläufen ihre eisigen Massen gen Norden auf die Reise. Das bekam auch die Donau zu spüren, denn alle heutigen Flusstäler waren damals schon vorhanden.

Eine der Gletscherzungen schob sich sogar frech über die Donau und begann sie zu stauen. Bis heute prägt die mächtige Riß-Kaltzeit das Landschaftsbild. Die Schotter der ihr zugeordneten Moränen haben die Hochterrassen der Donauzuflüsse aufgebaut.

Was die damals hier wohnenden Donaumenschen sich wohl angesichts der Eismassen gedacht haben? Prima, nun können wir das ganze Jahr Ski laufen?

Griesingen

In dem kleinen Ort Griesingen stoppen wir an einer Querstraße. Ein Gärtner ist damit beschäftigt, seinen Kompost zu befüllen. Wir loben den gepflegten Rasen und kommen ins Gespräch. Er sei seit wenigen Wochen Rentner, habe viele Jahrzehnte die Omnibusse durch Ulm gesteuert, gelegentlich auch die Tram. Manchmal lasse er sich noch anheuern, so sei der Sprung ins Rentnerleben nicht so hart.

Zahlreiche Obstbäume stehen auf dem gepflegten Grün, Pflaumen, Kirschen, Äpfel. »Macht sicher viel Arbeit, die Einmacherei«, sagen wir, »da wird Ihre Frau beschäftigt sein.« Er sei geschieden, lacht er, aber für eine neue Beziehung sei er offen. An Gelegenheiten würde es nicht mangeln, als Busfahrer habe er so manche Telefonnummer zugesteckt bekommen, beim nächsten Mal aber müsse wirklich alles passen. »Das Kribbeln im Bauch, woischt?« Wir wünschen ihm viel Glück und schwingen uns wieder in die Sättel. Langsam bricht der Abend herein. Wir radeln der untergehenden Sonne hinterher.

Ehingen

Der nächste größere Ort ist Ehingen. Auf »-ingen« endet hier fast alles, wobei der Schwabe das »n« am Ende konsequent ignoriert.

»-ingen«

»-enga«, sagt der Schwabe. »-ingen« oder »-enga«, gemeint ist genau das Gleiche. Die Germanen hätten mit dieser Endung eine Zugehörigkeit ausgedrückt, sagen die Sprachwissenschaftler. Sigmaringen bedeutet »dem Sigmar zugehörig«, also »die Siedlung des Sigmar«. Außer dem Namen eines lokalen Politikers konnte auch ein bestimmter Ort, etwa ein Fluss, mit der Endung »-ingen« versehen werden.

Marktplatz Ehingen mit stolzem Ständehaus

Nicht immer wird es gelingen, den Ursprung aller »-ingens« zu ergründen. Wie der Name Ehingen wohl entstanden ist? War es ein Herr Eh oder auch eine Frau dieses Namens? Oder sagte man sich, »da muss ich eh hin!«, und schon war der Name geboren? Später ging die Zugehörigkeitsbezeichnung »-ingen« im Ortsnamen auf. Die entlang der jungen Donau häufig anzutreffende Endung ist in Varianten in ganz Europa verbreitet, man denke nur an die englische Stadt Reading, das niederländische Scheveningen, das bayerische Freising oder an Blekinge in Schweden.

Ehingen war Schauplatz einer der merkwürdigsten Streitigkeiten der jüngeren schwäbischen Rechtsgeschichte. Eine Dame hatte es eilig, den Zug nach Ulm zu erwischen. Das herbeitelefonierte Taxi aber verspätete sich, im Ehinger Bahnhof leuchteten nur noch die Rücklichter des abfahrenden Zuges. Erbost rief die Dame den Chef des Taxiunternehmens an und verlangte, mit dem Taxi nach Ulm gefahren zu werden, auf Kosten des Taxiunternehmens selbstverständlich. Es kam zu einem längeren Disput. Nachdem alle Argumente ausgetauscht waren, beendete der Taxifahrer das Gespräch mit dem Ausruf: »Leck me am Arsch!«

Nun aber ging der Ärger erst richtig los. Die Dame war eben eine Dame, und als solche fühlte sie sich beleidigt, und zwar schwer. Sie zeigte den Taxiunternehmer an, es kam zum Prozess. Glücklicherweise fand sich ein weiser Richter, der nicht nur die Rechtswissenschaften, sondern darüber hinaus das Leben studiert hatte. Insbesondere schien er mit den Eigentümlichkeiten des schwäbischen Dialektes bestens vertraut, jedenfalls erklärte er den Taxiunternehmer für nicht schuldig.

Die vorgebliche Beleidigung, bestens auch als Schwäbischer Gruß bekannt, sei überhaupt keine, jedenfalls nicht in jeder Situation. »Leck me am Arsch« könne sogar ein Ausdruck höchsten Lobes sein, etwa wenn der für leicht debil gehaltene Sprössling plötzlich mit einer Eins in Mathe daherkommt. Zugleich kann sich in den Ausruf ungläubiges Erstaunen hineinmischen. Schlägt der VfB Stuttgart die Münchner Bayern, bedeutet der Schwäbische Gruß nichts anderes, als dass ein zu 100 Prozent sicher angenommenes Ergebnis nicht eingetreten ist.

Stets zu Streichen aufgelegt: der Spritzenmuck vom Theodul-Brunnen

Auch als Begrüßung eignet sich die Redewendung. »Leck me am Arsch, der Jürgen!«, entfährt es dem Schwaben, wenn er am Würstchenstand auf Ibiza überraschend seinem Schafkopffreund begegnet. Niemals würde sich Jürgen deshalb beleidigt fühlen, sondern stattdessen den Gruß freudig erwidern. Im Falle des Telefonats, so der kluge Richter, habe der Taxiunternehmer mit dem Schwäbischen Gruß lediglich das Ende des Gesprächs anzeigen wollen. Wenn alle Argumente zur Genüge ausgetauscht seien, sei der Ausdruck ein geläufiges und keinesfalls beleidigendes Instrument zur Beendigung einer fruchtlosen Konversation.

Ob der Richter selbst schon Situationen erlebt hat, bei dem ihm der Schwäbische Gruß auf der Zunge gelegen hat? Man möchte es fast vermuten. Nun aber genug der schwäbischen Sprachkunde. Sehen wir uns lieber in Ehingen um. Der Marktplatz ist hübsch. Ein moderner Brunnen sprudelt in seiner Mitte, Faschingsgestalten tummeln sich um ihn. Die schwäbisch-alemannische Fastnacht muss uns ein eigenes Kapitel wert sein.

 

Die schwäbisch-alemannische Fastnacht

»Als was gehst du denn dieses Jahr?«

Diese Karnevalsfrage, die man in Köln, Düsseldorf oder Mainz oft zu hören bekommt, stellt man sich an der Donau nicht. Die schwäbisch-alemannische Fastnacht ist anders. Hier wechselt man nicht jedes Jahr sein Kostüm, um mal als Cowboy, mal als Terminator zu gehen. An den Donauufern bleibt man seiner Häs treu, wie man das Faschingsgewand nennt, ja manche vererben es vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter.

Die verschiedenen Fastnachtszünfte haben jeweils ihre eigenen, identitätsstiftenden Masken, die sorgfältig gepflegt werden. Am 6. Januar ist es vielerorts Brauch, das Häs aus dem Schrank zu ziehen und feierlich ans Licht zu hängen, sichtbares Zeichen dafür, dass die fünfte Jahreszeit begonnen hat. Bei aller Verschiedenheit der Kostümierung, charakteristisch für das Häs ist die Ganzkörpervermummung, auch das Gesicht verschwindet hinter einer Maske. Und auf die Gestaltung derselben wird größter Wert gelegt. Manche sind aus Holz geschnitzt, andere aus Stoff, Ton oder Papier.

»Die Narren haben eine Art von Harlekinstracht an, einen Fuchsschwanz an der Mütze und hinten an den Beinkleidern. Sie machen sich einen Bart und schwärzen sich wohl die Wangen und andere Teile des Gesichts.« Diese Beschreibung der Ulmer Fastnachtsgestalten stammt aus dem Jahre 1790, aber natürlich ist die schwäbisch-alemannische Fastnacht schon viel, viel älter.

Man vermutet, der Fuchsschwanz sei das Relikt aus den Ursprungszeiten, als sich die Narren in fantasievolle Tierfelle genäht hatten. Um den Winter zu vertreiben und sich durch das tolle Treiben in eine bacchantisch-erotische Stimmung zu versetzen, schlüpfte man in ein wildes Kostüm, eine Art Tarnkappe, mit deren Hilfe man seine Triebe ausleben konnte, was dem gesitteten Bürger sonst streng untersagt war. Auch der Obrigkeit und den Würdenträgern konnte man im Schutze der Menge und der Anonymität ungestraft die Meinung geigen.

Manche vermuten, der Ursprung der Fastnacht liege in der anschließenden Fastenzeit begründet. Wohin mit all den Essensvorräten, die man nicht bis zum Osterfest aufbewahren konnte? Schnell noch ein paar Tage kräftig gesündigt! In diesem Sinne kann man in dem bunten Treiben eine Gegenwelt zu der folgenden Periode der Enthaltsamkeit und Selbstkasteiung sehen.

Was auch immer der Grund für die Fastnacht gewesen sein mag, man hält ihr an der Donau die Treue. Nicht nur in Ulm, auch und besonders in den kleineren Donaustädten schlüpft man in fantasievolle Masken. In Erbach kann man den Schella Bebbl, furchtbaren Wildschweinen und den blau-eleganten Schnai Walzer begegnen, in Griesingen fliegen grauenhafte Druden durch die Nacht, um sich einem armen Schläfer auf die Brust zu setzen und ihn mit Albträumen zu quälen, in Ehingen treiben die Grogga Däler ihr Unwesen, unterstützt von den Kretta Weibern, den Kügele Hoi, den Pfanna Mata und den Mückenspritzern mit ihren lustigen Feuerwehrkostümen.

Vorsicht, Narrenalarm! Der Hexensprung in Ehingen

Bei den Umzügen mischen die Zünfte der Nachbarstädte kräftig mit, viele haben eigene Begrüßungsrituale entwickelt, die Narrenrufe. Im Hochschwarzwald grüßen die Narren mit »Narri!« und die Zuschauer antworten mit »Narro!«, in Ehingen rufen die schellenbesetzten Narren »Kügele!« und erwarten ein freudiges »Hoi!«

Damit aber keiner auf falsche Gedanken kommt, bei allem Spaß ist das Fastnachtstreiben durchaus geregelt. So haben sich die meisten Narrenzünfte einen Verhaltenskodex gegeben, der aus vielen Paragrafen besteht. Verboten ist zum Beispiel, sich im Schutz der Maske Dreistigkeiten gegenüber dem anderen Geschlecht zu erlauben. »Jedem zur Freud, keinem zum Leid«, lautet die Maxime. Der vielleicht größte Narrensprung an der Donau geht in Ulm schon drei Wochen vor dem Faschingshöhepunkt über die Bühne. Beim großen ULMzug ziehen über 8000 Hästräger und Musiker durch die Innenstadt.

Die Narrenzünfte sind nicht nur in der Fastnachtszeit von Bedeutung, man trifft sich das ganze Jahr über. Die Zünfte sind ein wichtiges gemeinschaftsstiftendes Element und bereichern das Leben am Ort. Auch im allgemeineren Sinn spricht der Schwabe übrigens von seiner Häs, das Wort steht für Kleidung im weiteren Sinne. So versteht man unter der Schaffhäs die Arbeitskleidung, unter Sunntigshäs den Sonntagsanzug. Unsere Kleidung wiederum würde man als Radelhäs bezeichnen.

Vielleicht sollten wir unsere nächste Donauradtour zur Fastnacht machen. Dann gäbe es was zu erleben! Und zu genießen. Keine Einkehr wäre nötig, die Narren teilen stets großzügig ihre Gaben aus, sogar die schwäbischen. Schließlich muss ab Aschermittwoch gefastet werden. Wie weit man auf einer solch närrischen Tour allerdings käme, ist fraglich. An Schlaf wäre vielerorts nicht zu denken. Am besten, man gründete eine eigene Narrenzunft, die radelnden Teufelsboten etwa. Auch das Fahrrad ließe sich kostümieren, vielleicht als Höllenhund. »Klingeling!«, würden wir beim Passieren der Narrenzüge rufen, »Klingelong!«, schallte es dann fröhlich zurück.

Sollen wir vielleicht doch in Ehingen unser Zelt aufschlagen? Wir blicken uns an und schütteln die Köpfe. Wir sind noch fit und bis Munderkingen ist es nicht weit. Unseren Reiseführer zur Hand nehmend, zücken wir das Handy. Ein kurzes Telefonat mit einer Männerstimme. »Ein Doppelzimmer für heut’ Nacht? Jawohl, geht in Ordnung.«

In einem kleinen Bogen rollen wir durch Ehingen zurück zum Fluss. Vor 300 Jahren war neben Ulm und anderen Donaustädten auch Ehingen Schauplatz einer der größten Migrationsbewegungen der deutschen Geschichte. Mehr als 700.000 Menschen sind die Donau hinab in die Ferne gefahren.

Donauschwaben

Anfang des 18. Jahrhunderts. Am Unterlauf der Donau östlich von Wien, an den Ufern der ungarischen Donau, herrscht große Not. Zwar hat Prinz Eugen, der edle Ritter, mit seinen Truppen die Türken zurückgeschlagen und die Existenz des christlichen Abendlandes gerettet, die Kämpfe und die lange Fremdherrschaft aber haben unzählige Opfer gefordert, weite Landstriche sind entvölkert. Habsburgs Kaiser Karl VI. beschließt, tüchtige Leute anzuwerben, die sich an den ungarischen Donauufern niederlassen und die Landwirtschaft wieder in Schwung bringen.

Auf zu neuen Ufern! Die Reise der Donauschwaben (Hauswand in Ulm)

Wo aber soll man Siedler für diese schwierige Mission gewinnen? Besonders im südwestdeutschen Sprachraum gibt es viele Menschen, die unzufrieden mit den Verhältnissen sind, Tausende Familien finden sich für den ersten Schwabenzug, nur wenige Kreuzer hat man ihnen mitgegeben, sie fahren einer ungewissen Zukunft entgegen. Der Name Schwabenzug führt in die Irre. Zwar besteigen viele Siedler in Schwaben die »Schachteln«, wie man die eilig zusammengezimmerten Transportschiffe nennt, viele aber sind gar keine Schwaben, sondern kommen aus dem Rheinland, aus Luxemburg, Franken und Bayern. Ihr gemeinsames Schicksal aber schmiedet sie zusammen, erst recht in ihrer neuen Heimat.

»Donauschwaben« nennt man sie bald, als Donauschwaben bezeichnen sie sich selbst. Die Anfänge sind bitter. Trotz gewährter Steuerfreiheiten ist es höchst mühselig, sich in dem verödeten Land eine neue Existenz aufzubauen, im Banat und den benachbarten Regionen, von denen eine höchst offiziell Schwäbische Türkei genannt wird. Dank der schwäbischen Tugenden Tüchtigkeit und Sparsamkeit aber wird die Kolonisation zum Erfolgsmodell.

Bald prosperiert das Land, bilden sich Städte und Handelsplätze, wobei der Donau als zentralem Transportweg eine besondere Bedeutung zukommt. Auch viele schlaue Köpfe bringen die Donauschwaben hervor, so Ignaz Semmelweiß, den Erfinder der modernen Krankenhaushygiene und Retter der Mütter, und auch Nikolaus Lenau, den Dichter, der seine Heimat so wunderbar besungen hat.

Mit dem Zerbrechen der Habsburger Doppelmonarchie nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Grenzen neu gezogen, die Donauschwaben wurde zwischen Ungarn, Rumänien und Jugoslawien aufgeteilt. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde damit begonnen, die Donauschwaben zu evakuieren. Nur wenige blieben in ihrer Heimat. Ihr Dialekt zeigt an, dass gebürtige Schwaben bei den Auswanderern in der Unterzahl gewesen sein müssen, Donauschwäbisch klingt eher wie Pfälzisch.

Die Auswanderer in ihren Schachteln hatten es sicher nicht leicht, aber heutzutage wäre es noch schwieriger, von Ehingen aus eine Schifffahrt zu unternehmen. Stauanlagen bremsen immer wieder den Weg der Donau und lassen den Fluss breit anschwellen. Hochwasserschutz? Energiegewinnung? Die Böden hier scheinen fruchtbar zu sein. Weite Getreidefelder erfreuen das Auge, über das helle Gerstenhaar streicht zärtlich der Ostwind. Gelegentlich ein Altarm, von Sumpfpflanzen bestanden, Frösche quaken im Rohr fröhlich um die Wette.

Das Wetter ist seit Wochen außergewöhnlich warm, man spricht vom wärmsten Mai seit hundert Jahren. Blau und weiß leuchtet uns der Himmel, hinter uns aber, im Osten, beginnen sich die Wolken zu türmen. Ein Straßenschild kündigt »Deppenhausen« an. Wir müssen grinsen. Wer sagt, Schwaben hätten keinen Humor?

Rottenacker

Hinter Dettingen durchqueren wir eine Weiherlandschaft, dann geht es über eine Brücke nach Rottenacker hinüber.

Die mutigen Frauen von Rottenacker

April 1945. Die Alliierten rücken die Donau entlang nach Westen vor, Amerikaner und Franzosen. Überall lässt die Wehrmacht die Brücken sprengen, Verzweiflungsaktionen, um den Vormarsch des Feindes aufzuhalten. Sämtliche Donaubrücken zwischen Sigmaringen und Ulm hat man bereits in die Luft gejagt und auch an der Brücke von Rottenacker ist ein Sprengsatz deponiert. Hektisch bereitet man sich in dem Donaustädtchen auf den Kampf vor, die Nachrichten beunruhigen, morgen wird der Feind erwartet.

Viele Bürger hoffen, dass das Gefecht verhindert werden kann, dass keine Schüsse fallen. Eine kampflose Einnahme ist aber nur möglich, wenn kein Widerstand geleistet wird. Nahe der Donau, beim Gasthaus Löwen, hat die Wehrmacht eine Panzersperre errichten lassen. Im Schutze der Nacht schleichen sich drei Rottenacker heran. Als sie sich an der Sperranlage zu schaffen machen, um die Straße zu befreien, werden sie von einem Wehrmachtsoffizier überrascht. Zum Glück lässt er sie nicht erschießen, befiehlt ihnen nur, die Sperre wieder zu schließen.

Vier junge Frauen, Rotkreuzschwestern. Ihnen wird befohlen, in der Hohegasse ein Notlazarett einzurichten. Eine von ihnen ist Gertrud Schwarzenbach, die Tochter des Friseurmeisters aus der Unteren Bruckstraße. Kaum ist das Lazarett notdürftig eingerichtet, eilt wie ein Lauffeuer die Schreckensnachricht durch den Ort: Die Amerikaner! Panzer der Amerikaner rollen auf Rottenacker zu! Bald hört man erste Schüsse fallen. Auch die Familie des Friseurs wird von der Angst gepackt. Was, wenn die Brücke gesprengt wird? Sie wohnen doch gleich nebenan, direkt am Donauufer. Schnell flüchten sie in den Keller. Stimmen nähern sich, Hilferufe sind zu hören. Drei deutsche Soldaten schleppen einen Kameraden herbei, er blutet, ist schwer verwundet. Die Rotkreuzschwestern kümmern sich um ihn. Als einer der Soldaten die Haustür öffnet, um zum Kampf zurückzukehren, rattert ein Maschinengewehr, getroffen bricht der Soldat zusammen. Die Rotkreuzschwestern können ihm nicht mehr helfen.

Doch was ist mit all den anderen da draußen? Soll man sie in ihrem Blut liegen lassen? Zwei Schwestern greifen sich eine Trage und eilen vor die Tür, wo sie ein amerikanischer Offizier überrascht. Er kann Deutsch und weist ihnen die Richtung. Auf und neben der Brücke würden viele Verletzte liegen, die Hilfe bräuchten. »Bei der Brücke? Und wenn die Brücke in die Luft fliegt?« »Wenn Sie nicht gehen, setzen wir die Kämpfe fort«, droht der Amerikaner, »und schauen Sie nach, ob der Draht noch zur Bombe geht, und schneiden Sie ihn durch.« »Wir sind vom Roten Kreuz«, erwidern die jungen Frauen empört, »wir sind doch keine Soldaten.« Da mischt sich einer der schwer verletzten Soldaten ein. »Die Brücke kann nicht mehr hochgehen«, sagt er ächzend, »ich hab’ den Zünder mit meinem Taschenmesser abgeschnitten.« Kurz darauf stirbt der mutige Mann in den Armen der Friseurtochter, der dritte bereits an diesem Tage.

 

Die Schwestern laufen los, eilen zur Brücke und schleppen einen Verletzten nach dem anderen in ihr Notlazarett. Wirklich helfen aber können sie vielen nicht. Notdürftig versorgen sie die Wunden, das schon, aber Operationen können sie nicht ausführen. Ein Arzt muss her. In Ehingen soll es noch einen geben. Also schleicht sich eine der Schwestern hinaus und radelt unter Lebensgefahr los. Doch der Arzt weigert sich zu kommen, solange in Rottenacker geschossen wird. So müssen die Schwestern allein weitermachen. Auch französische Soldaten versorgen sie, egal, ob sie deshalb beschimpft werden. Einem von ihnen aber können sie nicht mehr helfen. Jubelnd ist er den Amerikanern entgegengelaufen, sie haben ihn irrtümlich für einen Deutschen gehalten und erschossen. Als der Kampf um Rottenacker zu Ende ist, müssen die vier Schwestern das Lazarett ins Rathaus verlegen, so viele Verletzte werden ihnen gebracht. Auch um das Essen müssen sie sich kümmern. Weil die Alliierten die Bäckerei beschlagnahmt haben, braten sie Kartoffeln. Noch bis in den Juli hinein haben sie Verletzte zu pflegen und Gefangene zu versorgen, versuchen, Kontakte zu den Angehörigen herzustellen, was ihnen streng verboten ist. Als einer der französischen Besatzungssoldaten davon Zeuge wird, zieht er die Pistole, hält sie der Friseurtochter an den Kopf. Zum Glück drückt er nicht ab. Gertrud Schwarzenbach überlebt, wird über neunzig Jahre alt. Die Kriegstage von Rottenacker aber wird sie nie vergessen.

Bewundernswerte Frauen in einer dramatischen Situation. Rottenacker wird uns im Gedächtnis bleiben.

Ein eigenes Kapitel ließe sich über die Donaubrücken schreiben. Wem Schilderungen wie diese vorkommen wie aus längst vergangenen Zeiten, dem sei das Jahr 1999 in Erinnerung gerufen. Bei der Operation Allied Force der NATO im Rahmen des Kosovokrieges wurden bis auf eine einzige sämtliche Donaubrücken Serbiens zerstört. Die Trümmer der Freiheitsbrücke von Novi Sad blockierten den Schiffsverkehr auf der Donau für lange Zeit. Was für ein Glück, dass alle Donauanrainer nun in friedlichen Zeiten leben.

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