Donau-Radtouren (eBook)

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Der schwäbische Ikarus

Albrecht Ludwig Berblinger (1770–1829) war gelernter Schneider. Sein Lebenstraum aber war ein anderer: Er wollte wie ein Vogel durch die Lüfte fliegen. Als Schneider und Mechaniker (er hatte geniale Beinprothesen entwickelt) verfügte er über das notwendige Handwerkszeug, um sich aus Stoff einen Hängegleiter zu bauen, wobei er sich die Natur zum Vorbild nahm und den Flug der Eulen studierte. Heimlich schlich er sich mit ersten Modellen in die Ulmer Weinberge am Michelsberg, um die Aufwinde zu nutzen, welche die Südhänge entlangstreichen.

Die Leute nahmen ihn nicht ernst und verspotteten ihn, ja die Kollegen von der Schneiderzunft drohten ihm sogar mit Strafen, sollte er seine Spinnereien nicht einstellen. Doch Berblinger ließ sich nicht beirren. Sein Erspartes steckte der gebürtige Ulmer in immer neue Flugmodelle, bis er schließlich sicher war, den Jungfernflug wagen zu können. Der Traum vom Fliegen, der alte Traum der Menschheit, würde er dem jungen Schneider gelingen?

Ulm, 30. Mai 1811. Sogar König Friedrich I. von Württemberg, der den mutigen Schneider mit einer großzügigen Spende unterstützt hatte, war zum Premierenflug gereist. Weil Berblinger nicht vom Münsterturm springen durfte, wich er auf die Adlerbastei am Donauufer aus, wo er die Abflughöhe durch ein Gerüst auf zwanzig Meter erhöht hatte. Leider aber waren am 30. Mai die Windverhältnisse ungünstig, der Schneider bekam einfach nicht genügend Luft unter die Flügel. Er musste den Versuch auf den nächsten Tag verschieben, was besonders enttäuschend war, weil der König bereits wieder abreisen musste.

Am nächsten Tag hatte sich erneut eine dichte Menge von Schaulustigen an den Donauufern eingefunden, darunter auch der Bruder des Königs. Erneut aber spürte der Schneider, dass der Wind auch heute nicht mitspielte, und zögerte. Darauf wurde die wartende Menge ungeduldig und forderte lautstark seinen Sprung. Ein Polizeidiener stieß ihn an, der Schneider sprang, taumelte, stürzte – und landete in der Donau. Bereitstehende Fischer zogen ihn unter dem Hohngelächter des Publikums aus dem Fluss.

Von dieser Schmach hat sich der Flugpionier nicht mehr erholt. Der Ikarus von Ulm starb verarmt mit nur 58 Jahren in seiner Heimatstadt. Auch sein Fluggerät erlitt ein trauriges Schicksal und wurde unter amtlicher Aufsicht auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Sein Fluggerät aber ist trotzdem noch zu bewundern: Ein Nachbau schwebt im Treppenhaus des Ulmer Rathauses.

Die Adlerbastei: Startrampe für den Jungfernflug

Es wird Zeit, wieder hinabzusteigen. Beim Hinabwendeln lässt mich Jonas die Anzahl der Stufen schätzen, ich tippe auf 800, Jonas auf 799. Wer näher dran ist, gewinnt. Ich bekomme den Auftrag, mir die vollen Hunderter zu merken. 300, 400, 500 … Die Erde kommt bedrohlich näher, die Ameisen werden wieder zu Menschen und die Punkte zu Einsteinen. 600, 700, 754! Jonas hat gewonnen, wieder einmal. Wir verabschieden uns von unserer netten Garderobenfrau. Sie hat recht behalten, unsere Taschen sind noch da. Jonas gibt ihr den Tipp, oben am Turmumlauf eine Einbahnstraßenregelung zu etablieren, sie verspricht, die Anregung weiterzugeben.

Nachdem wir wieder auf die Räder gestiegen sind, befragen wir den Einsteinaufsteller, wie viele Plastikmännchen es denn noch werden, erhalten aber nur eine ungefähre Angabe – was Einstein wiederum gefreut hätte, denn nichts ist gewiss und alles relativ. Gewiss aber ist, dass unsere gesuchte Ulmer Künstlerin einen der größten Skandale der deutschen Filmgeschichte verursacht hat. Im Film Die Sünderin, der 1950 gedreht wurde, huschte sie im Evakostüm über die Leinwand, Demonstrationen und Vorführverbote waren die Folge – wissen Sie nun, um wen es sich handelt? Es ist Hildegard Knef. Der Weltstar wurde kurz nach dem Weihnachtsfest 1925 in Ulm geboren, der Vater starb sehr früh, die Mutter zog mit der kleinen Hildegard nach Berlin. Wer mehr über das Leben der Knef erfahren möchte, der greife zum Geschenkten Gaul, ihre Autobiografie war ein echter Bestseller. Oder er fahre vom Münsterplatz zur nahen Bockgasse. Zwischen ihr und der parallelen Turmgasse stand das Geburtshaus der kleinen Hildegard.

Hildegard Knef: ein echtes Donaukind

Nun aber hinunter durch ein Stadttor zum Fluss! Wir grüßen die Donau herzlich. Für die nächsten Tage wird sie uns zur Gefährtin werden. So jung sie in Ulm noch ist, verfügt sie doch schon über eine beachtliche Größe. Wer wird ihr wohl ihren Namen gegeben haben?

Woher hat die Donau ihren Namen?

Danuvius hieß die Donau bei den Römern, Danuvius war zugleich der römische Name für den personifizierten Flussgott des Donaustromes. Aber natürlich ist die Donau auch in vorrömischer Zeit nicht namenlos gewesen, die Römer haben ihren Namen lediglich latinisiert. Möglicherweise waren es die Kelten, die den Namen Donau geprägt haben, oder mit den Skythen oder Sarmaten ein iranisches Volk. Die Sprachen beider Völker sind indogermanischen Ursprungs, die Wurzel dehnu bedeutet schlicht und einfach das Fließende oder eben Fluss, wodurch das wesentliche Charakteristikum der Donau schon bezeichnet ist, denn was wäre ein Fluss, der vergäße zu fließen?

Auch eine andere Übersetzungsvariante schien lange gebräuchlich gewesen zu sein. Friedrich Nicolai, der Berliner Aufklärer und Reiseschriftsteller, behauptete, der Name Donau heiße übersetzt der zweiflüssige Strom und spiele damit auf die Hochzeit von Brigach und Breg an.

Interessant ist, dass die Donau in der Antike noch einen zweiten, gänzlich anderen Namen trug. Nur der Oberlauf hieß Donau, der Unterlauf aber Ister. Die Gelehrten streiten noch darüber, ob sich Ister vom indogermanischen »schnell, hurtig« ableitet oder vom keltischen »hoch, tief«, womit die unterschiedlichen Wasserstände bezeichnet werden. Als die Kartografen begriffen, dass es sich bei Donau und Ister um denselben Fluss handelte, beendete man die doppelte Bezeichnung, seitdem kennt man die Donau nur als Donau, von den Quellen im Schwarzwald bis zur Mündung ins Schwarze Meer.

Ein Weilchen grübeln wir darüber nach, warum die Donau wie die meisten Flüsse im Deutschen weiblichen Geschlechts ist. Ausnahmen sind der Rhein und der Main, auch der Neckar, ansonsten dominieren die Damen: die Isar, die Havel, die Spree, die Weser, die Elbe, die Mosel … Zufall? Oder ein Zeichen dafür, dass die Germanen der Meinung waren, Flüsse hätten vorwiegend weibliche Eigenschaften? Vielleicht ist etwas dran. Argument 1: Mit dem Wasser der Flüsse tränkt Mutter Erde Mensch und Tier. Argument 2:Während viele Männer mit dem Kopf durch die Wand wollen, umschmeicheln die Flüsse sanft den harten Fels, schleifen ihn unermüdlich ab und bahnen sich so mit Geduld und Beharrlichkeit ihren Weg. Frauen-Power eben.

Ulm: auch von der Flussseite sehenswert

Als weiblich gilt auch die Eigenschaft des Sammelns. Flüsse sind Wassersammler, und die Donau ist einer der eifrigsten unter ihnen. Wo all das Wasser herkommt, das hier bei Ulm vorbeiströmt? Der Einzugsbereich der Donau ist gewaltig. Auf die gesamte Flusslänge berechnet, entwässert die Donau acht Prozent von Europa, eine Fläche fast dreimal so groß wie Deutschland. Anders ausgedrückt: Jeder zwölfte Regentropfen, der auf Europa niedergeht, landet in der Donau. 200 Millionen Menschen leben in ihrem Einzugsbereich. Das Donauwasser hier bei Ulm kann von hohen Alpengipfeln stammen, aus dem österreichischen Kleinwalsertal, aus dem Allgäu, von der Schwäbischen Alb und aus dem Schwarzwald natürlich, um nur die wichtigsten Einzugsgebiete zu nennen. Setzt ein Kind in Kempten eine Nussschale auf die Wellen, kann das Schiffchen am Ulmer Münster vorbeitreiben, ein Fisch könnte Verwandte in Memmingen besuchen oder die Oberschwäbische Hochebene, fast bis zum Bodensee. Das meiste Wasser stammt eindeutig von den rechten Zuflüssen. In den Alpen und im Alpenvorland regnet es eben mehr als in den nördlichen Regionen, deren Flüsse der Donau von links zufließen.

Schön ist das Stadtpanorama vom Donauufer aus. Über die Stadtmauer – oder ist es ein Hochwasserschutzwall? – geht’s nun flussaufwärts Richtung Westen. Ein Sonnentrotzer sei die Donau, befand der griechische Chronist Herodot, fließt sie doch der Sonne entgegen, während die meisten europäischen Ströme die Nord-Süd-Ausrichtung bevorzugen. Schiller nimmt die Perspektive der Donau ein und lässt sie ihre Fließrichtung in Versen ausdrücken:

Gegen den Aufgang ström’ ich, der Freiheit, der Musen Gefilde Lass’ ich hinter mir, lang, eh’ der Euxin mich noch trinkt.

Euxin? Was meinte Schiller, der Freiheitskämpfer, damit? Rasch mal nachgegoogelt. Aha! Euxin ist ein Synonym für das Schwarze Meer, Pontos Euxeinos nannten es die Griechen, das gastfreundliche Meer. Aber was meint Schiller damit, dass die Donau die Freiheit hinter sich lässt? Konnte Schiller hellsehen? Hatte er den Eisernen Vorhang vorausgeahnt, der 150 Jahre später aus der Donau einen geteilten Fluss machen sollte, bevor ihn die friedliche Revolution von 1989 wieder lüftete? Ein Rätsel.

Am Uferweg taucht ein Hinweisschild auf, das uns auf unserer weiteren Reise begleiten wird, eine blaue Welle über grünem Ufer: der Donauradweg. An der Einmündung der Blau sehen wir längliche Boote auf dem Wasser schaukeln, die sogenannten Zillen. Eine von ihnen steht hübsch bemalt auf einem nahen Platz zu bewundern. Zu den größeren Zillen gehört der vielleicht berühmteste Bootstyp, der in Ulm je gebaut wurde.

 

Schlank und elegant: die Zille

Die Ulmer Schachtel

Das berühmteste aller Ulmer Boote ist die Ulmer Schachtel. »Schachtel« war ein Spottname, trieben die Schiffe doch breit und behäbig und wenig elegant mit den Donauwellen. Im Spott aber war sicher eine Prise Neid mit dabei, denn die von der Ulmer Schiffbauerzunft konstruierten Lastkähne erfreuten sich großer Beliebtheit. Besonders schnittig mussten sie auch gar nicht sein, ging ihre Fahrt doch ausschließlich die Donau abwärts, »Naufahrten« nannte man das. Im Verhältnis zur Ladung waren die Schachteln sehr gewichtig, was aber nichts ausmachte, ganz im Gegenteil, denn am Ziel wurden die Boote zerlegt und die stolzen Stämme teuer verkauft. Die bis zu dreißig Meter langen und bis zu 7,5 Meter breiten Schachteln, die mit langen Stangen und Ruderblättern gesteuert wurden, konnten jede Menge Waren und Passagiere aufnehmen; eine Hütte in ihrer Mitte ließ sie wie die schwäbische Variante der Arche Noah aussehen.

Die Ulmer Schachtel: Mit ihr geht’s nur flussabwärts

Die Schachteln verkehrten nach einem regelmäßigen Fahrplan, weshalb man sie »Ordinari« nannte, und gelangten über Regensburg, Passau und Linz bis nach Wien und gelegentlich noch weiter die Donau hinunter nach Budapest oder Belgrad. Von Weitem bereits erkannte man ihre Herkunft, leuchtete doch das Weiß und Schwarz der Ulmer Stadtfarben als lustiges Streifenmuster an der Bordwand. Schon im Mittelalter baute man die Zillen, wie dieser Bootstyp offiziell genannt wurde. Wer will, kann die Ulmer Schachteln noch beim Nabada, dem traditionellen Wasserumzug, bewundern.

Das Wetter ist sonnig, die Temperaturen in den hohen Zwanzigern. An den Uferwegen geht es lustig zu, Spaziergänger, Jogger, Inlineskater und Radfahrer umkurven sich gegenseitig. Eine Gruppe von Rentnern lässt fröhlich die Nordic-Walking-Stöcke auf den Asphaltboden knallen. Die Ulmer halten sich fit. Wir aber machen noch einen kleinen, aber wichtigen Abstecher zu einer Kirche, die von ihrer Größe und Baugeschichte zwar nicht mit dem Ulmer Münster mithalten kann, deren Besuch aber dennoch dringend empfohlen werden muss, die Martin-Luther-Kirche. Sie darf nicht unerwähnt bleiben, will man den mutigen Ulmern ein Denkmal setzen.

Die Pfeifenkammer der Martin-Luther-Kirche

Die Martin-Luther-Kirche ist eine architektonisch originelle Kirche aus den 1920er-Jahren. Hinter dem Orgelprospekt befindet sich ein versteckter Raum, die Pfeifenkammer. In dieses Versteck zogen sich im Januar 1943 zwei junge Leute zurück, Franz-Josef Müller und Hans Hirzel. Auch Susanne Hirzel, die Schwester von Hans, gehörte zu dem geheimen Zirkel. Vor ihnen lag eine echte Fleißaufgabe, ein dicker Stapel von Flugblättern. Jedes Blatt musste kuvertiert und beschriftet werden. Das ging nicht mit der Hand, das wäre zu gefährlich gewesen, man hätte ihre Handschriften identifizieren können. So mussten die Freunde die Adressen mit der Schreibmaschine schreiben, Dutzende, Hunderte von Kuverts. Nächtelang waren sie beschäftigt.

Hans und Susanne Hirzel, Franz-Josef Müller: mutige FreiheitsheldenMartin-Luther-Kirche: Widerstandsnest in der Pfeifenkammer

Das Flugblatt, das sie in Umlauf bringen wollten, hatte ebenfalls ein Ulmer entworfen, der jetzt in München lebte, Hans Scholl. Es war bereits das fünfte Flugblatt dieser Art, das schärfste, das entschiedenste der Weißen Rose. Es war unter dem Eindruck der Niederlage von Stalingrad verfasst, rief alle Deutschen unmissverständlich dazu auf, mit den Nazis zu brechen, den Irrsinn des Krieges zu beenden und für ein freies und gerechtes Europa zu kämpfen. Heimlich hatte es Sophie Scholl, die Schwester von Hans, mit dem Zug nach Ulm gebracht. Kurz darauf wurden die beiden Widerstandskämpfer beim Verteilen der Flugblätter in der Münchner Universität erwischt, eingesperrt und hingerichtet.

Auch ihre Ulmer Unterstützer aus der Pfeifenkammer wurden verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, ein weiteres Mitglied der Weißen Rose hatte unter der Folter ihre Namen verraten. Glücklicherweise überlebten die Helden aus der Ulmer Pfeifenkammer den Terror. Vielleicht hatten ihnen ihre blonden Haare und die blauen Augen das Leben gerettet. Nazi-Chefrichter Freisler brüllte: »Sie haben ja ein rassisch gutes Aussehen, wie konnten Sie da gegen den Führer sein?« Franz-Josef Müller (1924–2015) gründete 1986 die Weiße-Rose-Stiftung. Die Pfeifenkammer wurde zu einem kleinen Gedenkraum umgestaltet.

Zurück am Donauufer gerät nach wenigen Radelminuten linker Hand ein stolzer Zufluss in den Blick, die Iller. Die Iller kann mit der Donau absolut mithalten. Welcher Fluss mehr Wasser führt, können wir mit bloßem Auge nicht unterscheiden. (Nur von der Elbe weiß man, dass sie mehr Wasser führt, das Mehr aber muss man mit doppeltem e schreiben, damit der Witz zum Witz wird.)

Der Name Iller kommt aus dem Keltischen und bedeutet »die Eilige«, was wir gut nachvollziehen können, wer hätte es nicht eilig, sich in die schöne Donau zu stürzen? Genau wie ihre große Schwester hat auch die Iller mehrere Mütter, die Breitach, die Stillach und die Trettach, die sich bei Oberstdorf vereinigen. Vor dem Münden in die Donau aber wird die Iller immer stiller – (ist das von Schiller?). Wieder tanzt uns der Merksatz durch den Kopf: »Iller, Lech, Isar, Inn …«

Mit der verdoppelten Wassermenge hat die Donau ihre Pubertät beendet und ist zum reifen Fluss geworden. Von Ulm an konnte sie Lasten tragen. Flussaufwärts aber reichte das Wasser nicht für nennenswerte Schiffe, so werden wir auf dem Weg zu den Quellen keine Häfen beschreiben können. Schade – und auch wieder nicht. Denn Flüsse, die nicht schiffbar sind, dürfen noch munter durchs Land fließen. Ob man der Donau diese Freiheit gelassen hat? Wir werden sehen.

Aber wäre es nicht klüger gewesen, die Ulmer hätten ihre Stadt vor den Zusammenfluss von Donau und Iller gelegt? Bekommen sie nicht ständig nasse Füße? Diese Gefahr ist zum Glück gering, Donau und Ilm verteilen ihr Hochwasser hübsch verschieden. Schmilzt der Schnee auf der Alb und im Schwarzwald und rollt die erste Donauhochwasserwelle auf Ulm zu, hält sich die Iller vornehm zurück und wartet, bis in den Alpen die Temperaturen steigen. Fällt im Einzugsbereich der beiden Flüsse ergiebiger Regen, schickt die flotte Iller das Wasser rasch an Ulm vorbei, bevor die träge Donau mit ihrem Hochwasser angeschwommen kommt. So arbeiten Donau und Iller auf sympathische Weise antizyklisch.

Wollten wir ins Allgäu, könnten wir den Iller-Radweg wählen, der auch sehr schön sein soll. Aber natürlich bleiben wir der Donau treu. Auf Reisen braucht man zweierlei: offene Augen für alles, was links und rechts des Weges lockt, zugleich jedoch den festen Willen, sich nicht vom rechten Weg abbringen zu lassen. Zur Not muss man die Odysseus-Methode wählen, Sie wissen schon. Als sich der antike Held den Sirenen näherte, deren verführerischer Gesang jeden sogleich über Bord springen ließ, verzichtete er zwar auf das von der Crew gereichte Oropax, ließ sich zugleich jedoch an den Mastbaum binden, eine Maßnahme, die ihm das Leben rettete. Was wird wohl unser Mastbaum sein, wenn die Sirenen singen?

Also den Blick strikt geradeaus gerichtet und munter voran. Jungen Eltern müssen wir ausweichen, die stolz ihre Kinderwägen schieben. Ob auch Frau Einstein ihren Kleinen am Donauufer entlanggeschoben hat? Bald nach seiner Geburt im März 1879 zog die Familie nach München, wo der Vater mit einem Onkel einen Betrieb zur Gas- und Wasserinstallation gründete – viele Erinnerungen wird der kleine Albert an seine Geburtsstadt kaum gehabt haben. Dennoch fand er, schon als genialer Physiker berühmt, anlässlich seines 50. Geburtstags schöne Worte für seine Heimatstadt: »Die Stadt der Geburt hängt dem Leben als etwas ebenso Einzigartiges an wie die Herkunft von der leiblichen Mutter. Auch der Geburtsstadt verdanken wir einen Teil unseres Wesens. So gedenke ich Ulm in Dankbarkeit, da es edle künstlerische Tradition mit schlichter und gesunder Wesensart verbindet.« Das war im Jahr 1929, fünf Jahre später wurde er vom Deutschen Reich zwangsausgebürgert.

Nach der großen Konfluenz, der Vereinigung von Donau und Iller, ist dringend ein Abstecher ans andere Donauufer zu empfehlen. Im Zwickel der beiden Flüsse, besser noch im Zwickel des Autobahnkreuzes Neu-Ulm, liegt die zu Ulm gehörende Ortschaft Wiblingen.

Strahlendes schwäbisches Barock: Kloster Wiblingen

Wiblingen

Die Kirche der ehemaligen Benediktinerabtei ist ein großartiges Beispiel für einen Baustil, der den gesamten Lauf der Donau prägt: das Barock. Die lichte Kuppel des Zentralraums ist von Januarius Zick (1730–1797) ausgemalt worden, von dem auch der Hochaltar stammt.

Trotz der barocken Pracht wirkt die Kirche nicht überladen, im Gegenteil, der Raum ist von einer fast vornehm zu nennenden Zurückhaltung, man meint bereits, den einsetzenden Klassizismus zu atmen. Im Kontrast zur barocken Ausstattung steht das Kruzifix, ein Werk der Hochgotik, das einst im Ulmer Münster gehangen hat. Fast noch großartiger als die Klosterkirche aber wirkt auf uns der Bibliothekssaal, der gleichfalls zu besichtigen ist. Auch wer es nicht so mit dem Gottesglauben hat, hier kommt er auf seine Kosten, denn den Saal beherrschen die Wissenschaften. Lebensgroße Statuen verkörpern die Tugenden – die Geschichtswissenschaft etwa wird durch einen jungen Mann dargestellt, der auf der Schulter seines Vorgängers sitzt, sympathische Bescheidenheit, die auch heutigen Wissenschaftlern gut zu Gesicht steht. Licht und hell ist der Raum, essenzielle Voraussetzungen für Vernunft und Verstand, die man in einer wissenschaftlichen Bibliothek anzutreffen hofft. So licht und hell der Raum aber auch ist, kommt die Nacht, soll es hier spuken. Davon berichtet eine alte Klostergeschichte.

Wo stöbert man schöner? Bibliothekssaal Wiblingen

Der vergessliche Mönch

Im 18. Jahrhundert lebte im Kloster ein Pater mit dem Namen Johannes. Eines Tages kam eine adelige Dame zu ihm mit dem Wunsch, bei ihm die Beichte abzulegen. Sei es, weil der Pater so vertrauenerweckend war, sei es, weil die Dame der Sünden gar viele zu beichten hatte: Das Gespräch muss sehr intensiv gewesen sein, so intensiv, dass Pater Johannes sich schriftliche Notizen über die begangenen Verfehlungen machen musste, er hätte sie sonst nicht alle im Gedächtnis behalten.

Damit der Zettel mit den Sünden der Dame aber nicht in fremde Hände fiel, steckte der Pater das Blatt in ein Buch. Das hätte vermutlich nicht so schlimme Folgen gehabt, wenn er nicht so vergesslich gewesen wäre. Denn nun nahm das Unheil seinen Lauf. Statt den pikanten Zettel wieder zu entfernen und zu vernichten, stellte er das Buch in ein Regal der Klosterbibliothek. Kurz darauf starb der Pater. Von seinem Gewissen gepeinigt aber muss er seitdem jede Nacht als Geist durch die Bibliothek schweben und Buch um Buch durchblättern, um seine Notizen wieder an sich zu nehmen. Sollten Sie den Zettel zufällig finden, bitte lesen Sie ihn nicht, sondern verbrennen Sie die Beichtgeheimnisse sofort. Pater Johannes wird es Ihnen danken.

Ich beschließe, sollte ich jemals wieder die Ohrenbeichte ablegen, meinen Beichtvater auf die Datenschutzgrundverordnung hinzuweisen. Am besten, er verzichtet auf jede Form schriftlicher Dokumentation. Ich hatte in meiner Jugend einmal einen Pfarrer erlebt, der war in seinem Beichtstuhl eingeschlafen. Ob mir allerdings meine damaligen Sünden vergeben worden sind, bedarf einer theologischen Untersuchung.

Das Kloster Wiblingen ist übrigens deutlich älter als das Barockzeitalter. Es geht auf eine Stiftung des Grafen von Kirchberg im Jahre 1093 zurück. Trotz dieser heiligen Handlung, die dem Adligen das ewige Seelenheil sichern sollte, scheinen auch die Grafen von Kirchberg des Sakraments der Beichte bedürftig gewesen zu sein, besonders Graf Wilhelm III., der im 13. Jahrhundert herrschte. In seiner Jugend hatte er in seiner Wut zwölf Männer erschlagen, während eines Streits dann zu allem Überfluss noch den eigenen Vater. Zwanzig Jahre vergingen, ohne dass diese Untat gesühnt worden wäre. Mord aber verjährt nicht. Der gerade an die Macht gelangte Kaiser Rudolf I. ließ den Wüstling verurteilen und enthaupten. Und noch etwas verfügte der Kaiser: Zum ewigen Gedenken an die Missetat mussten die Kirchbergs ihr Wappen ändern. Aus der unschuldigen weißen Jungfrau mit rotem Talar und glänzender Krone wurde eine wilde Mohrin mit zerzausten Haaren.

 

Frischer Saft in alten Mauern

Politische Korrektheit war damals noch nicht angesagt. Rückgängig machen lässt sich der Wappenwechsel nicht mehr, denn mit Philipp von Kirchberg starben die Kirchbergs 1510 aus. Übrigens ist das Kloster der Moderne zugetan: Wer frische Elektronen tanken will, nur zu!

Zurück auf dem Donauradweg geht’s an Gögglingen und Donaustetten vorbei, dann in leichtem Zickzack nach Erbach. Man merkt, die Schwaben sind fleißige Leute, überall in den Donauauen tummeln sich Gewerbegebiete und Fabriken. Langsam aber dünnen die Funktionsbauten aus und es wird grüner. Der Weg mäandert durch Felder und Wiesen, nicht immer ist die Donau gewillt, lästige Radler nahe an ihr Ufer zu lassen. Sei’s drum. Zu einem Fluss gehören immer auch sein Tal und die Gemeinden an seinen Ufern.