Grobe Nähte

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Grobe Nähte
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Victor stammt aus Afrika. In München wird er für seine Tore in der Champions League gefeiert. Benedikt spielt Tuba in einer HipHop-Band. Er hofft, irgendwann von der Musik leben zu können. Korbinian lebt mit seiner Patchworkfamilie in einem multikulturellen Viertel. Als Journalist schreibt er für eine bessere Welt.

Packend und provokant beschreibt Johannes Schweikle die Zerreißprobe der sogenannten Flüchtlingskrise und wirft Schlaglichter auf die Widersprüche einer Gesellschaft. Ein Roman über die fragile Befindlichkeit einer Stadt von Welt.

Johannes Schweikle, 1960 in Freudenstadt geboren, schrieb in München für die Süddeutsche Zeitung. Heute arbeitet er als freier Autor u. a. für Die Zeit und FAZ, Geo und Brand eins. Seine Erzählungen und Romane, allesamt bei Klöpfer & Meyer erschienen, spannen den Bogen von der Gegenwart zu historischen Stoffen. Zuletzt erschien 2017 die Romanbiografie Die abenteuerliche Fahrt des Herrn von Drais. In der hoch gelobten, mehrauflagigen literarischen Reisereportage Westwegs (2012) erkundet der Autor zu Fuß das Zentralmassiv deutschen Gefühls: den Schwarzwald. »Er macht sich einen Begriff von Heimat, der ohne die Piefigkeit vergangener Tage auskommt«, so die Süddeutsche Zeitung.


Johannes Schweikle

Grobe Nähte

Roman einer deutschen Stadt

1. Auflage

in der Edition Klöpfer

Stuttgart, Kröner 2021

ISBN DRUCK: 978-3-520-75401-1

ISBN EBOOK: 978-3-520-75491-2

Umschlaggestaltung: Denis Krnjaić

unter Verwendung eines Motivs von Anna Pruski und Kristina Hilles

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2021 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

In diesem Buch treten fiktive Figuren auf. Sie stellen Widersprüche dar und sollten deshalb weder von links denunziert noch von rechts vereinnahmt werden.

Besser ein Anzug nach Maß

als eine Gesinnung von der Stange.

KURT TUCHOLSKY

IN DIESEM LICHT SEHEN WIR DIE STADT AM LIEBSTEN. Die Sonne spiegelt sich in unserem Stadion. Das passt – hier stehen nicht die üblichen Tribünen um einen Sportplatz. Wir haben ein Dach gebaut, das mehr bietet als bloßen Wetterschutz. Durchsichtig schwebt es über den Rängen. So viel Leichtigkeit hat uns kaum jemand zugetraut. Aber dann kam die Welt zu Gast und hat sich überzeugt, dass wir die Hauptstadt des Südens sind – ja, Deutschland kann heiter sein.

Wir mögen auch die kleinen Wolken. Hoch oben ziehen sie über unsre olympische Inszenierung hinweg und werfen keine Schatten auf ihre transparente Eleganz. Mit ihnen wird der bayrische Himmel nicht langweilig. Sie strahlen weiß, haben verspielte, trotzdem klare Ränder und verschmieren nicht das frische Blau, in dem sogar die breiten Straßen freundlich wirken. Keiner kann sagen, ob diese groben Nähte die guten Viertel unsrer Stadt mit den anderen verbinden. Oder ob es Trennlinien sind.

Jedenfalls bekommt an diesem Samstag im Sommer sogar das arme Ende der Schleißheimer Straße etwas ab vom großen Glanz. Wo sie am Stadion vorbei pfeilgrad ins Zentrum führt, leuchtet ein runder Schein über den Autos. Er bewegt sich langsam. Schwebt über den Mittleren Ring, strahlt zwischen Pizza Rapido und dem Pflegedienst Sonnenschein. Erhellt kurz das Felgenparadies, streift das Fitnessstudio Body Street, dann das Café Back Power. Vor dem Bio-Solarium sagt ein Kind: Guck mal, Mama, da fährt der Mond!

Der Mann unter dem Mond sitzt auf einem Fahrrad. Mit einem roten Bonanzarad fährt er aufrecht durch leichten Wind, der die Hitze fröhlich macht. Übermütig drückt er auf den Gummiball der Hupe am Lenker. Sein eigentliches Instrument hat er auf den Rücken geschnallt. Der glänzende Schallbecher des Sousaphons ragt über seinen Kopf, er ist größer als die Räder mit den Weißwandreifen und kreisrund nach vorn gerichtet. Dieser goldene Trichter hüpft, als es über die Schienen der Straßenbahn geht. Er schwankt, als der Radfahrer einem Fußgänger ausweichen muss, der sein Telefon nicht aus den Augen lassen kann. Knapp schrammt er an der Zamperl-Wirtschaft vorbei, das ist ein Laden für Hundefutter. Zwei Blocks weiter kommt ein Geschäft für Katzenbedarf, es heißt Raubtiersalon. Hier beginnt Schwabing.

Benedikt schwitzt. Am Siegestor hadert er: Bis hierher hätten wir gemeinsam fahren können. Hätten unterwegs gehalten und ein Eis gegessen. Aber sie meint, sie muss die U-Bahn nehmen. Damit sie ihrem Ausbeuter frisch geduscht zur Verfügung steht. Dabei hat sie eine Reservebluse eingepackt, sogar die Strumpfhose könnte sie wechseln, hat brav Ersatz dabei. Und ich bin schon vor dem ersten Ton wie aus dem Wasser gezogen. Kein Wunder, mit zwölf Kilo im Kreuz.

Der Wind bläst von vorn in den großen Trichter. Benedikt spürt einen Zug am Schulterriemen und stellt sich die verkehrte Welt in seinem Instrument vor. Normalerweise, denkt er, fließt der Atem aus meinen Lungen, geht durch das Mundstück, die Rohre und Ventile, dann kommt ein Ton aus dem Schallbecher. Aber jetzt strömt die Luft genau andersrum, und die Sousi bleibt stumm – ich kann mehr als der Wind! Die Theatinerkirche ragt in den Himmel wie vom Zuckerbäcker modelliert. Marzipan auf einer Hochzeitstorte, Ananas oder Aprikose, was darf ’s sein? Am Hofgarten rollt der Radfahrer wieder mit sich ins Reine. Ist froh, dass er die Oper links liegen lassen kann. Denkt an den Kollegen, der sich dort die Stelle des Tubisten erspielt hat. Sieht die Schaufenster der Residenzstraße und höhnt: Kauf dich glücklich! Für eine IWC reicht’s nicht, schon bei Prada für die Gattin wird’s eng.

Locker fährt er am bayrischen König vorbei, der auf seinem Denkmal sitzt wie der Kaiser von Rom. Irgendetwas ist verkehrt, an der Maximilianstraße stoppt ihn eine Kelle.

Wo müssen wir so dringend hin? fragt der Polizist.

Der Radfahrer mit dem Sousaphon ist so perplex, dass ihm die Wahrheit rausrutscht: Zum Guerilla-Gig.

Hinterher fragt sich Benedikt: Ist Guerilla für die bayrische Polizei noch immer ein Reizwort? Oder weiß der Depp nicht, was ein Gig ist? Auf jeden Fall muss er seinen Strafzettel zahlen und wird belehrend auf das Schild am Max-Joseph-Platz hingewiesen:

Radfahren auf der abgesenkten Verkehrsfläche nur im Schritttempo erlaubt

Familie Moser hat kein Problem mit erhöhter Geschwindigkeit. Mitten in der Stadt ist sie im Aufbruch begriffen, und der gestaltet sich zäh. Das neue Cargobike, das Eva Moser nach längerem Abwägen und Vergleichen ausgesucht hat, verfügt über zwei gepolsterte Kindersitze. Diese befinden sich in einer Art Kiste, die zwischen den beiden Vorderrädern montiert und marineblau lackiert ist. Es dauert, bis Maja sicher angeschnallt sitzt. Lennart findet es unter der Würde eines Schulkinds, neben seiner kleinen Schwester auf die gleiche Weise festgezurrt zu werden. Also tritt er gegen die Kühlbox mit dem Picknick, die vor seinen Füßen in der Kiste steht, und mault: Will selber Rad fahren.

Mein Großer, du weißt doch: Wir müssen über die schlimme Straße, wo alle Autos höllisch rasen.

Lennart: Dann will ich wenigstens mein Kickboard!

Seine Schwester stimmt ein, gekonnt weinerlich: Laufrad haben!

Die Mutter gibt diese Anweisungen weiter an ihren Mann: Mosi, holst du’s bitte? Beides müsste unter der Treppe zur Galerie stehen.

Unwillig unterbricht Dr. Korbinian Moser die Inspektion seines Hollandrads, es hat in beiden Reifen wenig Luft. Aus dem Hof mit Sandkiste und Rutsche geht er in den vierten Stock des Altbaus. Überlegt im Treppenhaus, ob sie eine Luftpumpe haben, und, falls ja, wo diese sein könnte. Frisch abgeschliffene Stufen knarzen. Das Laufrad lehnt am Trampolin im Wohnzimmer, eine Pumpe findet er nicht. Treppab scheppert das Kickboard gegen das geschmiedete Geländer, auf das der Makler mit dem Sehnsuchtswort Jugendstil hingewiesen hat, als im dritten Stock eine Wohnung frei wurde und sich sieben Dutzend Interessenten bei drei Besichtigungen quetschten. Eva Moser verlädt das Laufrad quer zur Fahrtrichtung in der Cargobox. Das geht aber nur, wenn sie die Kühltasche anders positioniert. Sie stellt diese zwischen die Kinder, was zu Protesten führt. Das Kickboard verstaut sie so, dass der Lenker seitlich heraushängt und sich in den Speichen des Laufrads verhakt.

Befriedigt schaut sie auf dieses Arrangement, benutzt das Wort süß und sagt: Da muss ich unbedingt ein Foto machen, von der ersten Fahrt mit unsrer Familienkutsche.

Korbinian, rasch: Aber die Kamera holst bittschön selber.

Die Überquerung der schlimmen Straße verläuft reibungslos. Trotz korrekten Halts an allen Ampeln rund um den Platz mit dem Blumenkiosk und der Eisdiele dauert die Fahrt an die Isar nur sieben Minuten. Gegen 16 Uhr breitet Eva Moser am Ufer die Picknickdecke aus.

In der Arena, die hinter dem Müllberg aus der bayrischen Schotterebene ragt, herrscht eine andere Zeit. Hier läuft die 70. Minute, und München liegt hinter den Erwartungen zurück. Der Statistik zum Hohn steht es noch immer null-null: 68 Prozent Ballbesitz, neun zu eins Ecken, Schussgenauigkeit 34,1 Prozent. Die Choreographie auf den Rängen wird lahm, bereits nach einer halben Runde verebbt die Welle. In der BMW-Lounge fragt der Verkaufsleiter eines Autohauses aus Rheda-Wiedenbrück: Was haben die eigentlich im Trainingslager gemacht? In Block 112 stapft ein Mitglied des offiziellen Fanclubs Wurmannsquick nach oben. Im Umgang lädt er an einer Aufwertstation seine Arenakarte, schimpft über den bargeldlosen Schmarrn und holt eine Palette Frustbier. Dann kann der Sprecher endlich das erste Tor verkünden, in einstudiertem Wechselsprech mit seinem Publikum, das beliebte Ritual Wir-gegen-die:

 

München – eins

Hannover – null

Danke – bitte.

Der Name des Torschützen geht ihm weniger routiniert über die Lippen. Er ist neu in der Mannschaft und erst nach der Halbzeit eingewechselt worden: Victor Akbunike. Im Überschwang reißt der Stürmer das rote Trikot vom Oberkörper, lässt es hubschraubernd ums Handgelenk kreisen und rennt so zur Kurve. Dieser Jubel entspricht nicht den Regeln des Deutschen Fußballbunds, der Schiedsrichter zeigt die gelbe Karte. Seine Verwarnung befeuert das Toben auf der Tribüne. Verwandelt die Begeisterung der Roten in Raserei, die Grünen klatschen höhnisch. Vor der Kulisse großer Gefühle halten Kameras dieses Bild fest: Ein halbnackter Mann tanzt. Er besteht aus Muskeln: Muskeln an den Armen, Muskeln über dem Brustkorb, Muskeln vor dem Bauch. Die Sehnen an den Schultern glänzen im Schweiß, das Gesicht gerät zur Nebensache. Dabei zeigt es einen Ausdruck, der im Berufssport selten zu sehen ist. Nicht diese routinierte Freude, die gemischt ist mit Gedanken ans weitere Funktionieren: zurücklaufen, nicht träumen, das Spiel geht weiter, noch ist nichts gewonnen. Dieses Gesicht sieht so aus, dass die besseren Deutschen es lieber nicht genau beschreiben, aus Angst vor der Rassismusfalle. Es ist schwarz, kohlrabenschwarz. Umso heller strahlen die Augen in einem ungehemmten Gefühl des Triumphs. Der Ball, riskant aus der Luft genommen, ist drin. Fehlschüsse, Niederlagen, Probetraining – alles weg. So sieht Glück aus.

Auch Benedikt Scholl trägt rote Stutzen. In kurzen Hosen steht er breitbeinig an der Isar. Sein Sousaphon hält den Laden zusammen. Weiche Töne bauen eine Treppe mit breiten Stufen, die verlässlich aus dem Keller nach oben führen. Im Erdgeschoss angekommen, geht der Bass brav wieder hinunter und steigt, verlässlich wie Sisyphus, Mal um Mal hinauf. Über dem Vollmondklang schmachtet das Saxophon. Die Trompete gibt dem Funk die Härte, das Glissando der Posaune vermischt sich mit Grillgeruch. Der Sänger verstärkt seinen Rap mit einem Megafon und kommt gerade so an gegen den Freizeitlärm:

Sehr geehrter Herr der Lage

Ich schreibe Ihnen, weil ich eine Beschwerde habe

Ich wohn in einer Stadt in einem Haus in einer geteerten Straße

Irgendwo zwischen Kraftwerk und Kläranlage

Und es läuft nicht rund bei uns auf der Etage

Irgendwo muss es einen geben

Der sich wirklich einen Arsch voll Kohle verdient

Mit der Herstellung von grauer Farbe

Lennart Moser wippt mit dem Oberkörper im Takt. Er kaut an einem Gurkenstift, den seine Mutter geschnippelt hat, stößt seinen Vater an, zeigt auf die Stutzen des Musikers mit dem Sousaphon und fragt: Spielt der auch für München?

Korbinian Moser versteht nicht, was sein Adoptivsohn meint. Er liegt auf der Picknickdecke an der Isar, mit seinem Jack Wolfskin-Rucksack als Kopfkissen, ist allerdings am Mittelmeer. Hat die Beine aufgestellt, auf den Schenkeln liegt ein Dossier, zusammengestellt von der Dokumentarin. Das Agenturfoto verstört: Ein Junge, feingliedrig, mit schwarzem Haar, liegt tot am Strand. Das Kind ist ertrunken und etwa so alt wie seine Tochter, die gerade versucht, mit ihrem Laufrad durch den Kies am Stadtstrand zu kommen. Morgen will er einen Leitartikel schreiben zu diesem Bild.

Geistesabwesend sagt er zu seinem Sohn: Nein, der spielt nicht Fußball. Sondern Tuba, oder so was Ähnliches.

Ein Student mit Surfer-Bermudas holt Bier aus einer Kiste, die im Fluss gekühlt wird. Ein ausgemergelter Mann zieht einen Einkaufswagen holpernd hinter sich her und sucht die Wiese nach Leergut ab. Das rote Bonanzarad lehnt an einem blauen Dixiklo. Warmes Licht fällt schräg auf eine Kiesbank, das Wasser strömt smaragdgrün. Kristallwellen spülen die Hitze eines großen Sommers weg. Die Fotografin Eva Moser lässt ihre Kinder aus den Augen und greift zur Kamera. Sie muss den südlichen Zauber dieses Abends festhalten. Bälle fliegen durch den Himmel, ein Hund paddelt im Fluss. Auf der Weideninsel sitzt einer im Liegestuhl und zupft selbstvergessen an den Saiten seiner Gitarre. Die Clique um den Surfer planscht bis zum Nabel in der Isar, die Jungs recken die Arme mit den Bierflaschen in die Höhe und posieren um die Wette.

Eva bedauert, dass man auf ihren Bildern keine Dialoge hören kann. Einer trumpft auf: Wo gibt’s das sonst, dass du mitten durch die Stadt schwimmen kannst?

Der nächste, nach einem Schluck aus der Flasche: Man könnt das Wasser sogar trinken, wenn wir’s nötig hätten.

Der dritte: Müüünchen!

Eine Frau mit gezielt nassgespritzem Top grinst herausfordernd: Wer war schon mal in Basel? Da gibt’s eine Badeanstalt am Rhein.

Der Surfer: Du mit deiner Schweiz – das ist doch Bullerbü!

Süßlicher Geruch wabert zur Brücke mit dem Reiterstandbild. Eigentlich wollte BrassXpress nur zwei Blöcke spielen, Stücke für das geplante Album live testen, das war der Plan. Ganz entspannt beim Grillen, da kann man was probieren. Ist egal, wenn noch nicht alles hinhaut. Aber das Zufallspublikum am Ufer geht ab, und die Band lässt sich mitreißen. Nach einer Stunde kommt Benedikt auf den Felgen daher, seine Lippen sind längst durch, trotzdem wagt er noch ein Solo: Aufgeblasene Backen hüpfen im Gesicht, Augenbrauen zucken hoch und runter, auf den Ventilen tanzen die Finger, aus dem Brummen katapultieren sich Läufe in schrille Höhe. Der Bass befreit sich aus dem Unaufdringlichen, eine Hand reibt den Schallbecher, die Sousi klingt jetzt wie ein DJ beim Scratchen, abgerissen und hysterisch, dann geht’s ab nach ganz unten, wo die Töne brüchig werden und kaum noch ansprechen. Bene verliert beinah die Balance, ihm wird schwummrig, und die Hörer bibbern: Geht’s noch tiefer – wie weit treibt er das Spiel? Der gräbt ja noch einen aus, Wahnsinn!

Hinterher sitzen die Blassportfreunde ums Lagerfeuer und stoßen mit Edelstoff an. Der Schlagzeuger reicht sein Telefon herum. Es zeigt das Bild des Tages, den schwarzen Stürmer mit dem spektakulär definierten Oberkörper ohne Bauchfett. Im Netz wird kommentiert, als ob den Leuten im analogen Leben langweilig wäre. Einer erlangt die Deutungshoheit:

Endlich – die Münchner Antwort auf Cristiano Ronaldo!

ZWECK DIESES VEREINS

ist die Förderung des Fußballspiels.

Auf unserem Platz ist jeder Mann willkommen,

ohne Ansehung von politischer Bindung,

Nation oder Religion,

der zum gemeinsamen Ziel stürmen will:

Das Wohlbefinden des Körpers zu stärken,

die Frische des Geistes und den Mut.

In gerechtem Wettstreit folgen wir dem Ideal

des freien Spiels.

Gründungsurkunde des 1. FC Bavaria München,

unterzeichnet am 20. Februar 1898 im Wirtshaus

Jennerwein, Siegesstraße 18, Schwabing

VICTOR AKBUNIKE WAR NOCH nicht lang in Bayern. Er wusste nicht, was Filser-Englisch ist. Also lachte er. Der Stürmer aus Afrika saß auf dem Beifahrersitz, Hermann setzte den Blinker und zog auf die Überholspur. Eigentlich hätte der Fahrer beleidigt sein können, weil der Beifahrer über ihn lachte. Ein hohes Hi-Hi, das sich lustig machte, glucksend und fistelig. Aber dieser kleine Spott mischte sich mit einem großen Lachen. Man könnte auch sagen, er ging darin unter. Diese Fröhlichkeit kam direkt aus dem Herz. Ein ursprüngliches Gefühl, das mitreißend wirkte. Seine Kraft spülte kleinliche Ehrenkäsereien einfach fort. Zwischen Victors Lippen strahlten weiße Zähne, seine Zunge leuchtete purpurrot, dann wiederholte er den Satz, noch immer geschüttelt vom Lachen: We go shopping for the Lederhosen-Shooting!

Hermann gab seinem Beifahrer einen Klaps auf den Schenkel und lachte mit. Er war schon so lange beim FC Bavaria München, dass sich kaum jemand an eine Zeit erinnern konnte, als der Verein noch keinen Hermann hatte. Bei den Spielern war er beliebt, weil er dem Wesen nach ein Fußballer geblieben war. Bei den Funktionären war er beliebt, weil er sich für keinen Auftrag zu schade war. Er stellte nicht nur keine Fragen, sondern machte sich sonnigen Gemüts an die Arbeit. Jede Mannschaft braucht mindestens einen Hermann, wenn sie funktionieren soll.

Das Auto, in dem die beiden fuhren, kam vom Sponsor. Die grauen Sitze waren mit roten Nähten abgesteppt. Victor strich über das Leder und freute sich, wie glatt und kühl es sich anfühlte. Hermann freute sich über den Sound. Wenn er Gas gab, kam ein fetter, tiefer Klang, lauter als Bayern 3. Man hörte und spürte eine kaum gebändigte Kraft. Victor sagte wow und reckte den Daumen nach oben. Die beiden Männer fuhren behaglich vereint. Das Nummernschild gab ihnen ein gemeinsames Ziel vor: M – CL 2016. Nur Menschen, die nicht auf dem Planeten Fußball lebten, musste man erklären, wofür CL stand: Champions League.

Nach drei Autobahnkreuzen zeigte Hermann stolz zum Horizont und erklärte dem Afrikaner, das seien die Alpen. Wirklich hohe Berge, mit ewigem Schnee. Der Watzmann, der steht aufrecht wie ein Zuckerhut. Bayern ist nicht überall flach, verstehst, wir haben mehr zu bieten als Schotter. Bei uns kannst du auch Skifahren. Wir hatten sogar schon mal die Olympiade, im Winter 36, in Garmisch siehst du noch die Schanzen.

Kann sein, dass Victor nicht alles verstand, aber er fühlte sich wohl in dieser Mischung aus Englisch und deutschem Dialekt. Vor Hermanns ungekünstelten Sätzen musste er nicht auf der Hut sein. Der weiße Mann sprach freundlich, seine Neugier auf den Schwarzen hatte nichts von einem Zoobesucher. Und er kränkte ihn nicht mit Dummdeutsch für Ausländer. So holprig Hermann sprach, so ehrlich war sein Bemühen um Verständigung. Auf dieser Grundlage kam Victor ins Erzählen. Er staunte weniger über das Licht, das Gipfel und Grate leuchten ließ. Sein Interesse galt der Straße. Ein Grünstreifen in der Mitte, ordentliche Leitplanken, drei Spuren auf jeder Seite, so ging es zwischen Wiesen und Hügeln dahin. Ab und zu waren Dörfer in die Landschaft gesprenkelt. In Lagos gab es auch breite Straßen. Aber gleich hinter der Stadt hörten sie auf.

Wenn du aufs Land fährst, kommt schnell das richtige Afrika, weißt du, viel Staub und Schotter. Streckenweise nehmen wir Asphalt, aber der hat große Löcher, und es gibt keine weißen Streifen. Wenn wir mit dem Bus zum Auswärtsspiel gefahren sind, kamen wir manchmal zu spät, weil der Fahrer unterwegs einen Reifen wechseln musste.

Hermann hatte noch seinen Atlas aus der Schulzeit. Er stand im Wohnzimmer im Regal, neben dem Buch von Beckenbauer, Einer wie ich. Er hatte nachgeschaut, wo Nigeria lag. Drei Städte waren in diesem Land verzeichnet, Lagos fand er ein bisschen links vom großen Knick in der afrikanischen Küste. Er fragte seinen Beifahrer, ob er dort das Fußballspielen gelernt habe.

Das ist eine lange Geschichte, mein Freund, sagte Victor. Dann erzählte er von seinem Dorf und von der ersten Fahrt in die große Stadt. Er hatte nichts mitgenommen, weil er viel Schlimmes gehört hatte über Diebe, ganz Lagos sei voll von Gesindel. Also stieg er mit kurzer Hose und dem gestreiften Trikot in den Bus. Keiner konnte ihm die Stutzen klauen, weil er keine hatte.

Zwischen Englisch, Deutsch und Bayrisch holperte das Gespräch dahin. Möglich, dass auch Hermann nicht alles verstand, was Victor erzählte: Ich hatte einen Schuh, für den rechten Fuß. Der war schwarz und hatte ein Loch am Innenrist. Aber kein Fake, original Adidas, die weißen Streifen waren gut genäht. Weil ich nicht wie ein Amateur aussehen wollte, trug ich links einen Schlappen. Der war eigentlich braun, aber ich habe ihn schwarz angemalt. Gleich nach dem Anpfiff merkte ich, dass ich mit ihm nicht schnell laufen kann, deshalb legte ich ihn neben den Torpfosten und spielte halb barfuß. So schoss ich das Tor zum Sieg.

 

Mit welchem Fuß? fragte Hermann.

Mit dem Kopf, sagte Victor. Unser Sieg war eine Sensation. In Afrika gewinnt die Heimmannschaft. Sie bezahlt den Schiedsrichter, und der weiß, was er schuldig ist. Aber mein Tor war eindeutig. Kein Abseits, kein Foul – ich konnte mich bei keinem Verteidiger aufstützen, weil keiner mich bewacht hat. Außerdem hatten sie in Lagos Netze an den Toren. Der Ball lag drin, und keiner konnte behaupten, mein Schuss sei vorbei gegangen. Der Torwart hat heftig mit Händen und Armen auf den Schiedsrichter eingeredet, ihn beschimpft. Aber als der standhaft geblieben ist, landete die Schuld ganz schnell beim Torwart. Die Anhänger seiner Mannschaft haben ihn verspottet und auf der Tribüne gesungen: In unsrem Tor, da steht ein alter Mann!

Nach dem Schlusspfiff lag mein Schlappen nicht mehr neben dem Pfosten. So schnell wir konnten, sind wir zum Bus gerannt. Die Wut der Gegner galt jetzt uns. Der Fahrer hat den Gürtel aus der Hose gezogen, das war seine Peitsche, damit hat er uns den Weg freigedroschen. Im Gedränge hat mein nackter Fuß einiges abbekommen. Mit Geheul haben die Verlierer am Bus gegen das Blech getrommelt. Als wir drin waren, haben wir die Fenster aufgemacht und sie verhöhnt. Ein dicker Mann hat sich nach vorn geboxt und zu mir herauf gerufen: Hey, Nummer neun, komm raus. Ich bin Manager – ich bring dich zu den Bridge Boys!

Geh, so ein Schmarrn, sagte Hermann, wer sind die Bridge Boys?

Julius Berger Football Club, sagte Victor, spielt in der Premier League. Berger ist eine Baufirma, sie baut alle großen Brücken. Jonathan Akpoborie hat für die Bridge Boys gespielt, und Sunday Oliseh hat es von dort nach Europa geschafft. Zuerst dachte ich, das ist eine Falle. Der Dicke will mich aus dem Bus locken, damit sie mich verhauen können. Aber er trug das aktuelle Trikot von Manchester United. Und Gold, viel Gold: goldene Uhr, goldene Brille, goldene Halskette, goldene Ringe. Jeder konnte sehen: Das ist ein Big Boy. Überzeugt hat er mich mit einem Paar Fußballschuhen. Nike, mit denen hat er herumgefuchtelt. Sie haben geglänzt, mussten direkt aus der Shopping Mall für die Reichen kommen. Der Bus fuhr an, ich konnte nicht lang überlegen. Hab mich aus dem Fenster gezwängt und mich fallen lassen, in die Arme von Alhaji. Er hat mich beschützt und mitgenommen. In einem Mercedes sind wir zu seinem Compound gefahren. Rings um das Haus war eine hohe Mauer, oben mit Glasscherben und Stacheldraht gesichert. Alhaji hat gehupt, da kam der Boy und hat das Stahltor aufgeschoben. Ich hab eine fette Satellitenschüssel auf dem Dach gesehen, er hat mir stolz das Generatorhäuschen gezeigt. Weißt du, wenn wir zuhause Fußball im Fernsehen geguckt haben, musste immer auch das Radio laufen, weil das Bild jederzeit verschwinden konnte, wenn der Strom ausfiel. Alhaji konnte immer alles sehen. Die Mauer um seinen Compound war weiß, sein Haus aus blauem Stein, er hatte die Farbe von Taubenfedern. Das sei Marmor aus einem fernen Land, hat er mir erklärt. Und im Pool schwamm ein aufblasbarer Flamingo, der war pink.

Hinter Schneizlreuth fuhren sie an einem Fußballplatz vorbei. Ein Mann saß auf einem kleinen Traktor und fuhrwerkte zwischen den Toren herum.

Was macht der Mann? fragte Victor. Das ist der Platzwart, sagte Hermann, er mäht den Rasen. Im nächsten Dorf lachte Victor wieder. Er zeigte auf den Kirchturm und sagte: Sieht aus wie eine Zwiebel! – Ja mei, sagte Hermann, so gfallt’s uns halt in Bayern. Dann fragte er vorsichtig: Bist du Moslem? Er schaute in Victors dunkle Augen und konnte seinen Blick nicht deuten – war er finster? Hatte er etwas Falsches gefragt? Victor nestelte die goldene Halskette aus seinem T-Shirt, an der ein Kreuz hing, und sagte ernst: In Nigeria haben wir vor jedem Spiel gebetet. Wenn wir am Sonntag gekickt haben, durften wir nicht nur auf den Ball schauen. Die Frauen gingen quer über den Platz zur Kirche. Die rote Erde war staubig, vor der Regenzeit bekam der Boden Risse. Und die Frauen in Afrika sind anders als die in Deutschland. Am Sonntag ziehen sie bunte Kleider an. Solche Farben gibt’s gar nicht in deinem Land – hier ist alles ernst. In Afrika gehen sie mit prächtigen Röcken zur Kirche, stolz und langsam. Wenn eine kam, mussten wir das Spiel auf den anderen Flügel verlagern, damit ihr Kleid nicht schmutzig wurde. Das hätte großen Ärger gegeben.

Hermann war erleichtert. Der Neue war kein Moslem, sondern Christ, und nicht bigott. Das Leben wurde kompliziert, wenn er bei jedem zweiten Satz überlegen musste, welche fremden Gefühle zu berücksichtigen waren, ob er jemand auf die Zehen trat. Erleichtert sagte er: Gott sei Dank, mit dem gräuslichen Boko Haram hast du nix am Hut! Victor verstand das bayrische Adjektiv nicht, aber rasch erfasste er, dass sie einen gemeinsamen Feind hatten, und sagte grimmig: Ich weiß nicht, welches Verbrechen schlimmer ist: Was die Terroristen mit unseren Mädchen machen. Oder die Feigheit unserer Regierung. Im ganzen Land siehst du Soldaten. Sie lungern herum und kassieren Wegzoll, wenn du irgendwohin willst. Haben aber nicht die Eier, um gegen ein paar Terroristen zu kämpfen. Die Generäle stehen mit ihren Orden herum wie Gockel. Wenn der Präsident die Parade abschreitet, denkt er nicht an sein Land. Sondern an seinen Clan – ob vielleicht irgendwo noch einer die Hand aufhalten kann. In Europa habt ihr falsche Vorstellungen. Nigeria will eine Nation sein, so wie Deutschland oder England. Aber das funktioniert nicht. Fußball ist das Einzige, was unser Land zusammenhält. Wenn die Super Eagles beim Afrika-Cup spielen, stehen die Moslems im Norden genauso hinter der Mannschaft wie die Christen im Süden. Wenn wir gegen die Löwen von Marokko gewinnen, gibt’s alles umsonst: Bier und Pfeffersuppe, und die Frauen auch.

Das Ziel der Fahrt lag kurz vor der Grenze. Der Dorfbrunnen war mit Blumenkübeln geschmückt. Hermann zeigte quer über den Rathausplatz und spottete: Da hinten liegt Österreich. Sogar dort gibt’s gute Straßen.

Das Geschäft, in dem sie erwartet und überschwänglich begrüßt wurden, war eine Boutique. Die Einrichtung wagte einen Balanceakt: Einerseits erzählte sie von Tradition. Zwischen den Regalen hingen Geweihe von Gams und Hirsch, hinten ging’s zur Werkstatt. Andererseits durfte diese Inszenierung nicht provinziell aussehen, kein Münchner sollte sich hier fremdschämen müssen. Deshalb waren die Hocker mit Kuhfell bezogen, und auf dem Schild über der Tür zur Werkstatt stand Manufaktur. Die junge Verkäuferin trug Dirndl und musste keine Freundlichkeit heucheln, als sie bei Victor das Maßband anlegte, Bund und Schrittlänge. Dieser Kunde hatte schwarze Haut, aber das machte nichts, denn er strotzte vor Saft und Kraft und lachte strahlend. Zudem war er prominent.

Die Lederhose für den Afrikaner war an den Nähten mit hellen Paspeln verziert. Handgestickte Ornamente schmückten das Hosentürl und lenkten den Blick auf die männlichste Region des Körpers. Rechts gab’s eine Seitentasche für das Jagdmesser. Das dunkle Leder war weich und passte sich geschmeidig den Muskeln des Sportlers an. Hermann zeigte auf das große Geweih an der Wand und sagte: Hirsch, mein Lieber, da kriegst was Gscheits! Die Verkäuferin brachte noch ein Leinenhemd, weiße Kniestrümpfe und Haferlschuhe. Mit den Größen gab es kein Geschiss, bald passte alles, der Mann aus Nigeria füllte die bayrische Tracht gut aus. Aber Victor war unsicher. Er beschaute sich im Spiegel und fragte skeptisch: Zieht der Torwart das auch an?

Jetzt lachte Hermann. Was glaubst denn du? Sogar unser wilder Chilene, der Held des Münchner Nachtlebens, steigt in die Tracht. Auch der Trainer kommt selbstverständlich in Lederhosen zum Shooting. Und so zieht ihr dann auf die Wiesn.

Schon länger spielte kein Münchner mehr in der ersten Mannschaft des erfolgreichsten Vereins der Stadt. Ein Verteidiger kam aus dem Speckgürtel, ein Stürmer aus der bayrischen Provinz. Mit der Brauerei, einem Sponsor des FC Bavaria, verhielt es sich ähnlich. Sie warb mit einer Tradition, die wenig mit der Gegenwart zu tun hatte. Ihre Sudkessel standen nicht mehr am Nockherberg, sondern in einer neuen Bierfabrik. Sie lag so weit draußen vor der Stadt, dass die Bewohner von Schwabing, Giesing und Haidhausen diesen Vorort nicht mehr als München gelten ließen. Außerdem hatte ein Konzern aus den Niederlanden die Hälfte des Unternehmens gekauft. Deshalb hatte die Marketingabteilung der Brauerei die Idee entwickelt, Fußballspieler in bayrischer Brauchtumsuniform zu zeigen. Ein Vertrag regelte die Angelegenheit. Er sicherte dem Sponsor das Recht auf einen Tag, an dem alle Spieler, Trainer und Betreuer für Werbeaufnahmen zur Verfügung stehen mussten.