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Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Johannes Saltzwedel,

Jahrgang 1962, studierte in

Tübingen und Oxford. Heute betreut er kulturgeschichtliche Themen, Sachbücher und klassische Musik beim SPIEGEL in Hamburg. Im Mittelpunkt seiner privaten Interessen stehen Goethe und die klassisch-romantische Geistesgeschichte (»Das Gesicht der Welt. Physiognomisches Denken in der Goethezeit«, 1993), die Antike sowie Rudolf Borchardt und seine Epoche. 2004 veröffentlichte er ein ausführliches Register zu G. A. E. Bogengs Standardwerk »Die großen Bibliophilen«, 2009 edierte er die Mitschrift einer Vorlesung von Hermann

Diels über »Griechische

Philosophie«.

JOHANNES SALTZWEDEL

Finderglück

Mäßig unzeitgemäße

Betrachtungen


Inhalt

Cover

Titel

Reihe zu Klampen Essay

Ins Offene Vom Ideal sprachlicher Bildung

Abschied vom Sequentiellen Notizen zur digitalen Vielfalt (1999)

Vom Weltbild in der Goethezeit

»Die Consequenz der Natur tröstet schön über die Inconsequenz der Menschen« Karl Ludwig von Knebel und Weimar

Ein Billet Goethes vom 20. November 1797

Pünktlichkeit als geistige Lebensform Karl August Varnhagen von Ense und die Bürde der Akribie

Archimedische Dichtung Rudolf Borchardt und das Unzeitgemäße

Mit fortgehenden Noten Anmerkungen über Sinn und Zukunft des Kommentierens

Elementare Bibliophilie

Nachweise

Impressum

Anmerkungen

Ins Offene

Vom Ideal sprachlicher Bildung

Haben Sie schon einmal von einem Pensch gehört, ahnen Sie, was das ist? Die Antwort folgt sogleich – aber vorher zwei kleine wahre Geschichten.

Die erste spielt 1877 in Bingen am Rhein. Sie handelt von einem neunjährigen Jungen, der sich mit den Kameraden auf Dachböden und im Uferschilf ein Königreich ausdenkt. Der Regent im Rollenspiel ist natürlich er selbst, und um die Sache so richtig exklusiv zu machen, führt er in seinem imaginären Staat machthaberisch eine eigene Sprache namens »Imri« ein. Zwei Zeilen davon, nicht mehr, haben sich erhalten. Sie lauten: »co besoso pasoje ptoros/​co es on hama pasoje boañ.« Die seltsam hispano-hellenisch klingenden Worte sind bis heute nicht enträtselt, denn ihr Erfinder, der spätere Dichter Stefan George, hat als echter Souverän im Reich von Laut und Sinn keinen Wink zu ihrer Deutung hinterlassen.

Auch in der zweiten Geschichte spielt ein Monarch die Hauptrolle. Am 10. Februar 1910 tritt im Hafen von Weymouth an der englischen Südküste eine farbenprächtige Gruppe orientalischer Würdenträger in Erscheinung: Der Kaiser von Abessinien und sein Gefolge wollen das Flaggschiff der britischen Heimatflotte besichtigen. Als an Bord der »Dreadnought« ein Admiral Uniformen erklärt, stockt der Dolmetscher nach drei Wörtern kurz, doch dann fährt er wie befreit fort: »Tahli bussor ahbat tahl aesqu miss. Erraema, fleet use«– und der Negus erwidert huldvoll, vermutlich etwas wie »Ahmavir umque canoe«. Erst zwei Tage später melden Schlagzeilen, welchem Scherz die Marine der Weltmacht aufgesessen ist. Studenten aus Cambridge, braungeschminkt, in langen Gewändern, mit Turbanen und falschen Bärten ausstaffiert, hatten sich einen riskanten Jux gemacht; mit dabei im kaiserlichen Gefolge war auch ein junges elegantes Wesen namens »Ras Mendax«, in Wahrheit Miss Virginia Stephen, aus der zwei Jahre später Mrs. Virginia Woolf werden sollte. Und geredet hatten die kecken Bildungsbürgerkinder, als ihre wenigen Brocken Kisuaheli erschöpft waren, vorzugsweise in antiken Versen, zum Beispiel aus dem vierten Buch von Vergils Aeneis, »Talibus orabat talisque miserrima fletus … «, oder vom Anfang des Epos, »Arma virumque cano«.

Natürlich soll der Spaß mit den ehrwürdigen Versen nicht als Vorbild hingestellt werden. Aber er zeigt, wie auch Georges seltsames Privatidiom, daß Laute und Sprachklänge ungeahnte Eigenkräfte entwickeln können, wenn sie losgelassen sind. Sprachliches Handeln ist für den Menschen ein durchaus elementarer Vorgang. Auch der ominöse Pensch gehört in diese Kategorie – immerhin ist er eines der ganz wenigen, scheuen Reimwörter auf »Mensch«. Leider verbirgt sich letztlich etwas recht Profanes dahinter, nämlich das unentbehrliche, zentrale Stück eines Lam-pensch-irms.

Zugegeben, die kleine Spielerei ist ziemlich angestaubt; ich habe sie schon als Kind von meinem Vater gehört, der ein Altphilologe ist, und heute wird sie im Internet hundertfach herumgereicht. Aber man spürt daran eben gut, worum es hier gehen soll: Sprache gliedert unsere Weltsicht; Sprache und Bildung gehören zusammen, sie bedingen und fördern einander; von der spielerischen Lust an der Offenheit lautlicher Möglichkeiten und der Neugier auf Bedeutung über die Freude am treffenden Ausdruck und das Horten eines Wortschatzes bis hin zum Bewußtsein poetischer Form erstreckt sich das, was zur Grundausstattung philologischen Sinnes gehört.

Kein Wunder, daß Vorläufer und Verwandte des Pensches schon in antiker Zeit ihr Wesen treiben. Da möchte Ciceros Freund Publius Nigidius Figulus das Wort ›frater‹ aus ›fere alter‹ herleiten (Gellius 13, 10, 4). Sein Zeitgenosse Marcus Terentius Varro, der stilistisch nicht allzu ehrgeizige Vielwisser der ausgehenden Republik, tadelt den Lucius Aelius Stilo, der behauptet hatte, ›lepus‹ rühre von ›levipes‹ her (Gell. 1, 18); Varro selbst wiederum war freilich überzeugt, daß ›ornatus‹ von ›os‹ und ›natus‹ abzuleiten sei (de lingua latina 5, 29, 129). Und auch sein pädagogisch weiserer Erbe, Bischof Isidor von Sevilla, meinte es nur gut, als er in seiner Realenzyklopädie namens »Etymologiae« das Wort ›lucus‹, Hain, analogisch vom Gegenteil herleitete, »quia umbra opacus parum luceat« (1, 29, 3) – übrigens ein direktes Zitat aus Quintilian (1, 6, 34), das seit langem zur spöttischen Formel »lucus a non lucendo« verdichtet ist. So gern wir über dergleichen Etymogelei lächeln, das brave Erklärungsmuster behält seinen Wert als Indiz, daß im Spielen und Spekulieren die Sprache besonders gut gedeiht. Der unermüdliche, unerbittliche Sprachdiagnostiker Karl Kraus hat gesagt: »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück«– welch ein Ansporn, immer wieder aus verschiedenen Abständen hinzuschauen. Noch im Stammeln, Verhaspeln und verbalen Abarbeiten aneinander baut sich schließlich jeder aus Wörtern seine Welt.

Wie so vieles hat die Antike auch dies längst gewußt. Abenteuernd in ihrer begeisterten Lautsüchtigkeit haben die Griechen mit Wörtern oder Namen jongliert und Begriffswelten geschaffen; auch für die auf Regeln erpichteren Römer ist und bleibt der Kulturmensch in erster Linie ein zῷon lógon e ¢con. Am knappsten und vielleicht schönsten formuliert ist der Gedanke vom Epikureer Horaz, der beim Stichwort der Freundschaft mal eben die menschliche Zivilisation entstehen läßt, allein dank der Sprache:

Cum prorepserunt primis animalia terris,

mutum et turpe pecus, glandem atque cubilia propter

unguibus et pugnis, dein fustibus, atque ita porro

pugnabant armis, quae post fabricaverat usus,

donec verba, quibus voces sensusque notarent,

nominaque invenere; dehinc absistere bello,

oppida coeperunt munire et ponere leges,

nequis fur esset neu latro neu quis adulter.

(Sat. 1,3)

In der klugen Übersetzung von Rudolf Helm:

Als aus der frühesten Erde die Lebewesen entschlüpften,

Stumm noch und häßlich wie Vieh, da stritt man

um Eicheln und Lager,

Erst mit Nägeln und Fäusten, mit Knütteln sodann

und so weiter

Mit den Waffen, die drauf das Bedürfnis ihnen

geschaffen,

Bis man für Dinge und Handlung Bezeichnungen fand,

um die Laute

Und Empfindung in Worte zu formen; vom Kampfe

zu lassen

 

Fing man da an und Städte zu baun und Gesetze

zu geben,

Daß sich nicht Diebe noch Räuber noch Störer der Ehe

mehr fänden.

Wenn das keine anfängliche Bildung ist, die hier im Zeitraffer von acht Versen vorüberhuscht, was dann? Das sprachhistorische Gegenstück findet sich bei einem Blick ins Deutsche Wörterbuch. Dort errichtet sein Begründer Jacob Grimm 1860 höchstpersönlich auf dem schönen alten Grundstück der ›Bildung‹ ein wohnliches Sinngebäude von vier Stockwerken, die er nach seiner Art mit lateinischen Äquivalenten belegt: Zunächst ist Bildung imago, dann auch forma und species, als nächstes (erst seit etwa 1750) cultus animi und humanitas, schließlich (ungefähr seit Grimms eigener Zeit) formatio und institutio.

Daß Humanitas sprachlich verfaßt sein muß, daß also die ›gebildeten Stände‹, an die schon Schleiermacher und Fichte in Buchtiteln appellieren, ihre Sonderstellung weniger einem materiellen Vorteil, sondern vor allem dem geschärften Bewußtsein für den Umgang mit Wort und Rede verdanken, wird in der liberalen Atmosphäre Berliner Salons, an der auch Jacob Grimm partizipierte, eigentlich als selbstverständlich angesehen. »Der wahre Zwek des Menschen […] ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen«, erklärt noch so ein preußischer Kulturbürger, Wilhelm von Humboldt, mit 25 Jahren. Daß dieses Ideal allseitiger Selbstformung in reflektierter Ausdrucksfähigkeit gründet, mußte man nicht mehr eigens hinzufügen.

Dabei kann das sogar ein eminent Sprachbewußter aus dem Blick verlieren. Martin Heidegger hat aus dem Concetto des Novalis, daß die Sprache »sich blos um sich selbst bekümmert«, sein Mantra »Die Sprache spricht« destilliert und von ihm aus zu orakeln begonnen, Sprache sei »lichtendverbergende Ankunft des Seins selbst«. Demgegenüber lohnt es sich vielleicht doch, in Erinnerung zu bringen, daß sich Humboldt als Schüler der Aufklärung von solchem Geschehenlassenmüssen und tendentiell entmündigendem Mystizismus nie anstecken ließ: Bewußter als die meisten hat er ein Leben lang die Sprache gerade in ihrer unüberschaubaren Vielfalt als Kontinuum des Humanen begriffen und ihr um der Bildung willen nachzudenken versucht.

An dergleichen kulturhistorische Einzelheiten könnte sich erinnern, wer das heutige Verhältnis von Sprache und Bildung umrißhaft in den Blick zu bekommen versucht. Fast jede der erwähnten Ansichten scheint nämlich zur gegenwärtigen Theorie und Praxis quer zu stehen. Wohl braucht man nicht gleich einen Zweck des Menschen zu postulieren. Aber daß das Ringen um Ausdruck als Arbeit am Gedanken (sofern man noch weiß, was das bedeuten könnte) etwas mit Humanität zu tun hat, wie Sprache individuellen Charakter und bürgerliches Miteinander erst ermöglicht und welch fundamentaler Wert um dieser Ziele willen dem Spiel mit Wörtern und der Freude an Lauten zukommt, all dies wird im öffentlichen Bewußtsein nahezu völlig verdrängt.

Von Sprachfreude ist sowieso kaum je die Rede, und an die Stelle so verdächtig vollmundiger Begriffe wie Humanität und Bildung sind um der scheinbaren Transparenz und Freiheit von Bevormundung willen nüchterne, nach Möglichkeit meßbare Größen wie etwa das Wissen getreten. Dessen Akkumulation kann man je nach geistiger Wetterlage feiern oder fürchten, sein Vorhandensein suggeriert beruhigende Konkurrenzvorteile, und sollte einmal etwas damit schiefgehen, ist immer ein Experte greifbar, der wenigstens die nötigen Vokabeln kennt; in schweren Fällen bittet man um einen Termin beim Epistemologen. Sprache als geistige Atmosphäre und schöpferischer Impuls, als Anreiz und Aufgabe läßt sich, so scheint es, weitgehend delegieren – in der noch immer gängigsten Sozialtheorie jedenfalls ist die Macht des Wortes virtuos ausgeblendet. Demokraten als Glieder der Wissensgesellschaft sollen da ihre gesellschaftliche Existenz (oder reicht uns für derlei vage Beschreibung etwa noch das ausgeleierte Wort Diskurs?) durch kommunikatives Handeln gestalten, in dem das gemeinsame Bemühen um Wahrheit immer schon vorausgesetzt ist. Ein derart zur Trainingshalle kollektiver Vernunft ernüchtertes Ideal der Öffentlichkeit stellt die Lust am formulierenden Überzeugen, selbst an der Frischluft guten Stils, unter den Generalverdacht der Manipulation und verbannt zugleich jedes ungesteuert freie Spiel der Wortkräfte ins Zwielicht des folgen- und somit nutzlosen Allotrias. Allerdings: Wer spricht, trägt Verantwortung; was ich sage, kann also prinzipiell gegen mich verwendet werden. Diese freudlose, ja angstbesetzte Einstellung hat sich in Sachen des Wortausdrucks während der vergangenen Jahrzehnte zur öffentlichen Normalität entwickelt.

Aus solchen und ähnlichen Gründen mutet das Eintreten für gehaltvollen Ausdruck, zunächst im Deutschen, momentan beklagenswert sektiererisch an. Die intellektuelle Kritik der Rede und Schreibe liegt fast gänzlich brach – rühmenswerte Ausnahmen wie die Bücher des Freiburger Germanisten Uwe Pörksen bestätigen es eher noch. Daß mancherorts für amüsante Ausflüge zwischen Dativ und Genetiv Eintrittspreise wie beim Kabarett verlangt werden, daß anderswo keine 25 Zeilen Sprachglosse mit flinken Ad-hoc-Meinungen der Pflicht genügen müssen, sind nur Randsymptome der Notlage. Die öde, geduckte Verlautbarungsprosa aus Wirtschaft, Politik und Akademie – denken Sie nur an die geradezu realsatirisch anmutende Terminologie der unvermeidlichen Förderungsanträge – scheint teufelskreisartig auch die Medien zu erfassen, um dann, anstatt geläutert zu werden, eilig wiedergekäut den nächsten Umlauf zu beginnen. Ähnlich wie es im Sport regelmäßig um die Bezichtigung neuer Dopingsünder geht, beschäftigt sich die Öffentlichkeit bei Fragen der Wortwahl fast nur noch mit der rituell ablaufenden Skandalisierung politischer Inkorrektheiten. Sich äußern ist riskant; wer Pech hat, dessen Sprachprägung wird vielleicht als »Unwort des Jahres« angeprangert. Also redet man lieber halblaut, en passant, unauffällig. Historisch angestaute Pathosscheu, Flüchtigkeit und fast völliger Mangel an Stilempfinden lassen in unheiliger Allianz die Sprache vergrauen.

Dabei blüht die Freude am pfiffigen Ausdruck gerade im unüberschaubaren elektronischen Mitteilungsalltag bunter denn je: Auf dem engen Raum von Rap-Reimen und SMS, in den 140 Zeichen von Tweets, den Twitter-Botschaften, im Rahmen sozialer Netzwerke, Blogs und anderswo toben sich Wortspieler bisweilen derart aus, daß kein Lexikograph mehr nachkäme. Abseits dieser zahllosen Sonderwelten jedoch scheinen die Sprachtechnologen der sechziger und siebziger Jahre mit ihrem Lernziel nüchterner Verständigungskompetenz einen späten, aber nahezu vollständigen Sieg errungen zu haben. Inmitten der multimedialen Getriebenheit, wo E-Mail und Blogging schon zu den behäbigeren Mitteilungsarten zählen, erschöpft sich die Spracherfindung heute so gut wie ausschließlich im eiligen Gag; Formbewußtsein und die Sicherheit von Kontinuität können erst gar nicht aufkommen.

Das ist sogar sehr verständlich: Wenn erkenntnisförmige Wahrheit, auch und gerade die der sprachlichen Mannigfaltigkeit, etwas ist, das jeder mit anderen für sich machen, über das man reflektieren, ja an dem man arbeiten muß, so wird man zu dieser Einsicht des Giambattista Vico schwerlich auf die Art gelangen, wie wir größtenteils unbewußt miteinander umzugehen trainiert sind, nach dem Muster technisch gestützter Sender-Empfänger-Modelle kognitionswissenschaftlicher, eo ipso kunstferner Prägung. Allenfalls innerhalb der Clique, In-Group oder Fangemeinde, dem Äquivalent der Horde aus grauer Vorzeit, bildet sich ein – dann um so eigenwilligerer – Code heraus, etwa wie viele signalhaft einen Popsong nachsummen; aber trotz der Verschriftlichung auf all den Displays verhallt der Wortaufwand meist im Nu. Sprache und Bildung, einst in der Königsdisziplin der Rhetorik aufs engste verknüpft, erscheinen so nahezu völlig entkoppelt. Ginge das auch anders?

Vor mehr als einem Vierteljahrtausend, im Januar 1757, begann ein siebenjähriger Junge in einer Stube des geräumigen Elternhauses sein erstes »Exercitium privatum« mit der Übersetzung eines Satzes ins Lateinische: »Wenn es regnet, fallen die Tropfen ins Wasser und machen viele Blasen, aus welchen Schaum wird«–»Si pluit incidunt guttae in aquam et faciunt multas bullas ex quibus spuma fit«. Etliche Seiten seines Schulheftes füllt er so mit säuberlicher Schrift. Etwas später hat der Lehrer ihm offenbar aufgetragen, möglichst viele lateinische Ausdrücke für »mori«, »sterben«, zu finden. Es werden stolze 23, von »Naturae debitum solvere« über »obdormire« und »decedere terris« bis zu »vivorum consortio eliminari«.

Nur eine Seite umfaßt diese Stilübung des kleinen Johann Wolfgang Goethe, und sein Lehrer Johann Jacob Gottlieb Scherbius hat ihm dabei mit Sicherheit kräftig geholfen. Dennoch: Hier entsteht eine Sprachwelt unmittelbar aus dem Arsenal rhetorischer Variationslust. Dialoge zwischen Vater und Sohn, die der kleine Wolfgang zur gleichen Zeit ins Lateinische überträgt, malen das behagliche Ambiente am Hirschgraben bis zur Unverwechselbarkeit aus: Da will der Vater in den Keller, um die »vina replenda« zu versorgen, sein Sohn möchte mitgehen, denn er will einmal wieder den »lapidem fundamentalem et clausularem« des Hauses sehen. Gesagt, getan: Beide steigen die Treppe hinab und erinnern sich amüsiert, wie damals beim Hausbau »der Obergeselle … nach Gewohnheit eine Rede« anfing (»Primarius nempe eorum murariorum Ciceronem |: ut solent:| agere voluerit«), aber steckenblieb und ausgelacht wurde. Sorgsam erklärt der Vater danach, welch seltene Weine hier in den großen Fässern lagern, wie man sie aufzufüllen hat und daß der Sohn nur ja mäßig von ihnen trinken solle, damit »solche auf die Zukunft überliefert werden« (»ut aliquando illis moderate utaris et in seram posteritatem illa transferri quoque studeas«).

Noch die säuberlich zweispaltige Reinschrift der kleinen Wechselrede zeugt von der Hingabe ans Detail, mit der hier nahezu spielerisch die Einsicht herangebildet wird, daß, mit Hölderlins unvergeßlicher Wendung, »ein Gespräch wir sind«, daß bis ins Geringste und Privateste der vorhin erwähnte cultus animi, den man doch wohl geistige Kultur nennen darf, nur in sprachlicher Gestaltung vorstellbar sein kann. Für Goethe ist der Fall klar: Wörter finden, Sätze bauen, Ausdruck schaffen, ob Aktennotiz oder freches Xenion, Zigeunerruf oder Sonett und Ghasel, versteifter Dankesbrief oder Großdichtung, das wird der Inhalt seines Lebens werden. Die Grundtatsache aber gilt weit über das zweifellos enorm privilegierte Söhnlein eines Kaiserlichen Rates in Frankfurt hinaus: Je früher einem Menschen bewußt ist, daß – um noch eine berühmte Wendung zu borgen – die Grenzen seiner Sprache die Grenzen seiner geistigen Welt sind, desto mehr kann und mag er dann selbst dafür tun, diese Grenzen immer weiter auszudehnen.

Warum ist dieser Gedanke so sehr in Vergessenheit geraten? Man wird kaum allein sogenannte Bildungsplaner verantwortlich machen können, die Wissensvermittlung nach dem Schema einer volkswirtschaftlichen Abfüllanlage über Kapazität und Auslastung kalkulieren – was beiläufig dazu geführt hat, daß heute nahezu jede größere Diskussion des Gegenstandes schnell auf die Tankstellenfrage eingeengt wird, wie hoch letztlich wohl der staatlich zu veranschlagende Finanzbedarf ausfallen dürfte. Wesentlich, wenn nicht gar entscheidend, beigetragen zur erstaunlichen Sprachvergessenheit ausgerechnet in Deutschland hat sicher weit mehr der prinzipielle Argwohn jedem fulminanten Wort gegenüber, den der doppelte moralische Zusammenbruch und das Schuldtrauma zweier Weltkriege ausgelöst hat. Die Folgen, eine Art Syndrom irreführender Vorbilder, sind rasch skizziert.

Öffentliche Äußerungen am Rednerpult, auf Kanzel oder Katheder folgen zumeist schon unbewußt im Bunde mit dem Publikum einem Komment, der sogenannte Inhalte – als ob die sich von ihrer sprachlichen Darbietung lösen ließen – prinzipiell über Eleganz stellt, ästhetische Formung somit als akzidentiell, als schmückendes Beiwerk begreift, das man nach Bedarf streichen kann wie ein klammes Geldinstitut sein Kultursponsoring. Literarische Anspielungen müssen heute fast immer mühsam erklärt werden, also verzichtet man besser gleich darauf. Clever bis in den Ausdruck hinein auftreten möchten allenfalls noch jargonkranke Akademiker, Manager mit Imponierzwang oder Matadore speziell des Bildschirms, kurz: habituelle Selbstdarsteller. Solchen Verdacht lenkt man ungern auf sich. Kommt hinzu, daß das Thesenragout von Talkshows und die leerlaufende Schlagfertigkeit von Comedy-Formaten ebenso wie der syntaxfeindliche Trott landläufiger Bildschirmpräsentationen jede Mühe um bleibende Worte gleichermaßen beschwerlich, unerheblich und somit aussichtslos erscheinen läßt. Das geschlossene Reiz-Reaktions-System der Wortwechsel reproduziert sich allem Anschein nach selbst; angebliche Originale wirken bestenfalls ein paar Minuten lang originell, dann ist der Zug der Aufmerksamkeitsproduzenten und geschäftigen Facebook-Lemminge auch schon vorüber.

 

Aber war die Lage früher wirklich weniger trüb? »So ein bißchen Bildung ziert den ganzen Menschen«, heißt es in bitterbös entlarvender, höchst sprachbewußter Rollenprosa schon bei Heinrich Heine – man hört geradezu die virtuellen Anführungszeichen der Ironie. Ganz unironisch hat dann 1872 der junge Philologe Friedrich Nietzsche, ehrlich empört über das »Zeitalter des Zeitungsdeutsches«, vorgeschlagen, in den Bildungsanstalten müßten die »sprachlich verwilderten Jünglinge« (!) einfach »mit Gewalt unter die Glasglocke des guten Geschmacks« gezwungen werden; die Lehrer sollten nicht ablassen, »bevor nicht die geringer Begabten in einen heiligen Schreck vor der Sprache, die Begabteren in eine edle Begeisterung für dieselbe geraten sind«. Was schon damals illusorisch klingen mußte, wirkt heute nur noch kurios – es sei denn, man übersetzt das Unbehagen in die gegenwärtigen Zusammenhänge und den allzu forschen Appell des Zöglings von Schulpforta in den keineswegs abwegigen Einfall, Individualität im Ausdruck wieder angemessen zu schätzen oder schlicht Gespräch und Geschwätz auseinanderzuhalten.

Wer sich das Tag für Tag zumuten mag, hat viel zu tun. Vom sensiblen Erkennen wirklich profunden Ausdrucks bis zur periodischen Zielübung im Kalauern, vom Abschalten des Fernsehers bis zur innerlichen Simultanübersetzung politischer Plastikwörter, vom Zögern vor der Tastatur bis zur Begeisterung über den neuesten Wort- oder Lektürefund: Überall heißt es der bequemen Selbstmechanisierung entgehen, den gewohnten Sozialkorsetten widerstreben, vorgefertigten Wortkonstrukten mißtrauen, unentwegt auf das Seltsame der Rede horchen. Werden Leistungen ausgezahlt oder doch besser erbracht? Hat das Huftsteak etwas mit dem Hifthorn zu tun? Wann wurde aus der Kreuzfahrt ins Heilige Land die Kreuzfahrt rund ums Mittelmeer? Darf man Frau Luna für die schlechte Laune verantwortlich machen? Sind Dutzende Beispiele wirksamer als Dutzende von Beispielen? Einiges läßt sich nachschlagen, doch über vieles kann man nur nachdenken. Auf Schritt und Tritt zeigt sich, daß das, was Robert Musil einmal über die Wahrheit geschrieben hat, mehr noch von der Sprache gilt: Sie ist »kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt«, etwas faszinierend Fluktuierendes, Offenes. Niemand kann pausenlos mit dieser Einsicht existieren. Aber jeder Moment, in dem sie wieder neu zum Vorschein kommt, könnte dauerhaftere oder mit dem neuen Modewort: nachhaltigere Wirkung entfalten als viel geschickte Lehrstoffpaukerei.

Selbst wo sie völlig unbewußt bleibt, kann sich keiner der Tatsache entziehen, daß sprachliche Prägung und sprachliches Vermögen entscheidend sind für Stil und Charakter, ja Kultur und Weltbild. Genaue Sprache gibt weiteren Blick, ein geübtes Mundwerk steigert die Sensibilität und umgekehrt, gute Sprache schärft das Traditionsempfinden, bedachte Rede verdichtet sich zur Individualität. »Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache« schreibt der alte Wilhelm von Humboldt lapidar. »Mit der richtigen Gangart der Sprache … beginnt die Bildung«, ergänzt der junge, tief wissensskeptische Nietzsche. Wohl am einfachsten hat es Kants Gesprächspartner, der sonst so geheimniskrämerische Johann Georg Hamann, formuliert, in einem apokryphen Sokrateswort, das die Kommentatoren bislang nur bei Erasmus entdeckt haben: »Rede, daß ich dich sehe.« Wer sich Maximen wie diese bisweilen in Erinnerung ruft, kann sie als Schnelltest gegen die Floskelflut der verschalteten Welt anwenden.

Zu solcher Arbeit am Logos können nun die alten Sprachen mehr beitragen als wohl jedes andere Fach – gerade weil keiner mehr mit ihnen anfängt, um später sichere Verträge zu entwerfen oder besser in der Welt voranzukommen (obwohl beides auf lange Sicht ziemlich wahrscheinlich ist), weil sie zum Denken in erzählbaren Zusammenhängen und zum Hinhorchen zwingen, weil sie sich vom geheimnisvollen, anfangs vertrackten grammatischen Baukasten bis zur Gründungsinstanz westlicher Poesie und Weltdeutung auf jeder Verständnisebene neu erschließen. Das britische Empire hat gut gewußt, warum es mit Vorliebe altsprachlich Trainierte als Kolonialoffiziere nach Indien oder Afrika sandte: Das Vermögen, Systematik von Wildwuchs, Dissonanz von Einklang zu unterscheiden, dazu Geschmack und Temperament, erst recht die allmähliche Verfertigung witziger oder entscheidender Gedanken beim Reden, all diese nahezu universalen Maßstabsgrößen vermitteln die alten Sprachen in nuce. Der endlos diskutierte, mitunter bis auf Buchlänge ausgedehnte Katalog von Argumenten, mit denen man Eltern überzeugen will, daß ihre Kinder Latein und Griechisch lernen sollen, erscheint mir letztlich als die Entfaltung dieses einen Gedankens: Wer auf Sprache achten lernt und an ihr Freude hat, wird achtsam für die gewachsene, auf Wachstum angelegte Vielfalt des Lebens, und genau das macht Bildung aus.

Natürlich sind die »Jünglinge«, um deren geistiges Wohlergehen der Juniorprofessor Nietzsche ehedem so mächtig besorgt war, nicht nur lexikalisch längst eine Antiquität. Von den vielen, die jeden Tag auch für sich selbst am Begriff sinnvollen Übersetzens arbeiten, werden sich die wenigsten dazu durchringen mögen, den adulescens einfach mal wieder Jüngling zu nennen – es tönt eben allzu deftig nach den Zeiten von Rauschebart und Droschkenfahrt. Wer es aber doch probiert, kann plötzlich einen ganzen sozialgeschichtlichen Mikrokosmos darin wiederfinden, die leise Melodie entschwundener Epochen. Mit Nostalgie hat das nichts zu tun. War denn nicht auch im Wilhelminismus der Jüngling eigentlich schon ein verflixt unalltägliches Wesen – und deshalb für den Blick auf Antikes gerade recht? War er nicht vielleicht schon lange zuvor eine künstliche Figur, silhouettenhaftes Formschema entschlossener Idealisierer? Mag er also ruhig in Anführungsstrichen stehenbleiben, der Gast aus dem muttersprachlichen Jenseits, unwillkommen sollte er nicht sein. Denn wer sich bisweilen solche Auftritte leistet, hält ganz nebenbei sein Gespür für Historizität und Tradition geschmeidig. Ich zumindest bin froh, das Wort Jüngling nicht erst bei Schiller, sondern in einer der frühesten, simplen Lektionen des »Ludus Latinus« kennengelernt zu haben, wo übrigens die deutschen Vokabeln listigerweise noch in Fraktur gedruckt waren. Durchblicke wie dieser führen ganz nebenbei vor Augen, daß, mit Egon Friedells Bonmot, das Altertum keineswegs antik zu sein braucht.

Philologen, speziell Altphilologen, haben die ungeheure Chance, solche Entdeckungen humaner Echoräume spielerisch zu fördern – deshalb ist vorhin der absurde Pensch aufgetreten. Denn Experimentierfreude, Lust auf lautliche Entdeckungen, Spaß an Wortgeschichten, Wortwitz und, jawohl, Redekünste (bei Nietzsche ganz selbstverständlich »Sinn für die Form«) sind nicht nur die besten Helfer dabei, Pensumsdruck zu verscheuchen. Es passiert hier etwas Entscheidendes. Im genießenden Erleben auch der einfachsten sprachlichen Schöpfung fernab aller instrumentellen, taktischen Äußerung tritt die natürliche Poiesis des Wortes hervor, das, was Humboldt gegenüber dem érgon als enérgeia bezeichnet hat, die tätige Offenheit des Ausdrucks selbst. Und es bedarf wohl keiner umständlichen Erklärung, daß diese Offenheit, der im Sprachlichen gründende Möglichkeitsmodus des Denkens, letztlich gleichbedeutend mit dem Humanum an sich ist.

Wie oft und wie gewunden haben die geisteswissenschaftlichen Fächer in den vergangenen Jahrzehnten ihr Dasein rechtfertigen müssen! Wie lange schon glauben sich Sprachen, vor allem die alten Sprachen – vom kleinen Zwischenhoch gerade in den letzten Jahren sollte man sich nicht täuschen lassen – schulpolitisch in der Defensive! Es muß wohl erst wieder bewußt werden, daß es die Aufgabe von Geisteswissenschaften bis hin zur Philosophie nicht sein kann, überlieferte Fragestellungen zu erledigen, sondern sie offenzuhalten für die sprachliche, also gedankliche Vielfalt. Nicht Problemlöser, sondern Problemversteher und Problemgestalter sind hier gefragt. Ist endlich auch die fatale Ungleichung von Bildung und Wissen überwunden, dann wird das lebendige Interesse an Sprache als der Basis jeder menschlichen Offenheit wie von selbst in sein Recht treten – und damit der Eigenwert der alten Sprachen als Uratmosphäre und Ferment europäischen Geistes.

Ein 20jähriger Feuerkopf, der zu einem der am weitesten blickenden, sprachbewußtesten Intellektuellen und Poeten seiner Zeit werden sollte, hat 1754 in Zürich geschrieben, Bildung sei die »Kunst, welche junge Leute lehret, das Gute und Böse vermittelst des bloßen Geschmacks richtig zu unterscheiden«. Ästhetisch fundierte Moral, cultus animi, kein Wissen. Daß dazu Vermögen und Anstrengung der Rede nötig waren, folgte für Christoph Martin Wieland, den Pastorensohn, ganz selbstverständlich aus dem Humanum schlechthin; Sprache als Energie des Miteinander und zivilisierendes Substrat der Bildung eigens vorzustellen wäre ihm, auf den der Gedanke der »Weltliteratur« ursprünglich zurückgeht, und den meisten wachen, rhetorisch versierten Zeitgenossen wie ein seltsam tautologisches Bemühen vorgekommen. In einer Zeit jedoch, da die Begeisterung für guten oder wenigstens treffenden Ausdruck so sehr von Schaltkreisen eingeschnürt ist und der flüchtigen Privatexistenz überlassen bleibt, scheint es geboten, einmal die Stimme dafür zu erheben, daß nur ein bis zum Spielerischen freier, mutig gestalterischer Gebrauch der Sprache kulturelle Neugier und somit Bildung überhaupt gedeihen läßt. Wenn sich die alten Sprachen und ihre zum Glück zahlreichen Fürsprecher dieser Zusammenhänge bewußt bleiben, dann wird die Zukunft ihnen offenstehen.