Buch lesen: «Gottes Herz für deine Stadt»
JOHANNES REIMER
Gottes Herz
für deine Stadt
Ideen und Strategien für Gemeinde in der Stadt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-96140-056-0
© 2018 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelfoto: fotolia eve
Satz: Brendow Web & Print, Moers
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Abkürzungen
TEIL 1 Zur Theorie des Gemeindebaus in der Stadt
Kapitel 1 Gemeinden gründen, wo der Glaube stirbt
1.1. Sehnsuchtsort Stadt
1.2. Die Kloake Sao Paulo und der Saustall in Berlin
1.3. Wo der Glaube stirbt
1.4. Gemeinde Jesu – Lichtblick am Horizont
1.5. Gott in die Stadt folgen
„Mein ganzes frommes Denken sprach dagegen.“ Tina bekehrt sich zu den Menschen
Fragen zur Weiterarbeit.
Kapitel 2 Leben in der Stadt
2.1. Die Stadt verstehen
2.2. Soziale Welten der Stadt
2.3. Gesellschaftstypen
2.4. Menschengruppen in der Stadt
2.5. Die Frage nach der Macht
„Gott sei Dank haben wir uns mit unserer Stadt beschäftigt.“ Manfred lernt seinen Stadtteil neu kennen
Fragen zur Weiterarbeit
Kapitel 3 Urgemeinde und die Stadt
3.1. Es begann in der Stadt
3.2. Der urbane Charakter der Urgemeinde
3.3. Urban, multikulturell und missional
3.4. Von der Peripherie ins Zentrum
3.5. Familie im Zentrum
3.6. Ekklesia vor Ort in vielerlei Gestalt
„Die waren alle effektiver als wir.“ Nikolai wundert sich
Fragen zur Weiterarbeit
Kapitel 4 Gemeindeaufbau – was ist gemeint?
4.1. Gemeindeaufbau – was ist gemeint?
4.2. Territorialer Gemeindebau
4.3. Gemeindegründung und Gemeindepflanzung
4.4. Gemeindeaufbau, -entwicklung und -wachstum
4.5. Gemeindeaufbau in der Stadt als Fortpflanzungsprozess
4.6. Ansätze, Strategien, Methoden
4.6.1 Autonome Modelle
4.6.2 Integrative Modelle
4.6.3 Multioptionale Modelle.
4.7. Gesellschaftstransformierender Gemeindebau
4.7.1 Kontextuelle Theologie als Basis
4.7.2 Von der kontextuellen Theologie zur Theologie des urbanen Gemeindebaus
4.7.3. Zur Vision einer gesellschaftstransformierenden Gemeinde in der Stadt
„Ich hatte es satt.“ Sabine lässt sich neu begeistern
Fragen zur Weiterarbeit
TEIL 2 Praxis des Gemeindeaufbaus in der Stadt
Kapitel 5 Gemeinde für die Stadt bauen
5.1. Gemeinde als Change-Agent in der Stadt
5.2. Zyklus gesellschaftstransformierender Gemeindearbeit (ZGG)
5.3. Gemeinwesenarbeit als Bezugspunkt
5.4. Gemeindebau mit den Anderen
5.5. Wo können und sollen sich Christen engagieren?
5.6. Bauen auf Fortpflanzung hin
5.7. Eine Gemeinde – viele Gottesdienste
5.8. Urbane Diaspora – Chance für urbanen Gemeindebau
5.8.1 Diasporale Gemeinschaften – was ist gemeint?
5.8.2 Diasporas – eine neue Perspektive für Mission
(a) Transnationale Konnektivität
(b) Gastfreundschaft und Willkommenskultur
(c) Großfamilien-Zentriertheit
(d) Flexicurity
(e) Biblisches Modell
5.8.3 Die ethnokonfessionelle Falle
5.8.4 Missionale Gemeinde im Kontext der Diaspora
„Wie, mehr als nur einen Gottesdienst?“ Maria erlebt Vielfalt
Fragen zur Weiterarbeit
Kapitel 6 Evangelisation in der Stadt
6.1. Ohne Evangelisation geht es nicht
6.2. Integrative Evangelisation
6.3. Nachbarschafts- und Familien-Evangelisation
6.3.1 Evangelisation muss gelernt werden
6.3.2 Willkommenskultur in der Gemeinde praktizieren
6.3.3 GWA-Projekte unterhalten
6.3.4 Gottesdienst in der Welt feiern
6.3.5 Wertewoche als Evangelisation
6.4. Prozesse müssen geleitet werden
„Der da oben scheint auf dich zu hören.“ Steffi führt einen Mitschüler zu Jesus
Fragen zur Weiterarbeit.
Kapitel 7 Von der Evangelisation zum Gemeindebau
7.1. Evangelisation als Jüngerschaftsprozess
7.2. Sie sammeln sich bei Jesus
7.3. Gott bleibt am Pult
7.4. Neue Gaben – neue Verantwortung
7.5. Ein Dach über dem Kopf
7.6. Eingebunden in das Netzwerk Stadt
7.7. Auf die Leitung kommt es an
„Die Müllers sind unser geistliches Zuhause“
Fragen zur Weiterarbeit
Kapitel 8 Vom Gemeindebau zur Evangelisation
8.1. In Bewegung gesetzt
8.2. Von der Orts- zur Stadtgemeinde
8.3. Das urbane Dorfzentrum
8.4. Gemeinsam für die Stadt
8.5. Permanente Evangelisation auf der ewigen Baustelle des UGN
„Die warten nur darauf, dass wir endlich aufwachen.“ Lasse erkennt das Potenzial
Fragen zur Weiterarbeit
Verzeichnis der Abbildungen
Register
Personenregister
Sachregister
Bibelstellenregister.
Bibliographie
Weitere Bücher
Anmerkungen
Vorwort
Im Juli 2008 wurde ich von der südafrikanischen Gesellschaft für urbane Mission eingeladen, im Rahmen ihres Jahreskongresses eine Serie von Vorträgen zum Thema Mission und Gemeindebau in urbanen Räumen zu halten. Die Konferenz fand in dem alten Feuerwehrgebäude der Stadt Pretoria statt, oder wie man sie heute nennt: Tswane. Es war Winter, und die versammelten Teilnehmer aus Südafrika und den benachbarten afrikanischen Ländern froren erbärmlich. Jeder Versuch, gegen die dicken Betonwände des Feuerwehrgebäudes anzugehen, die die ganze Kälte des südafrikanischen Winters in sich gespeichert zu haben schienen, scheiterte kläglich.
„Das ist ein Bild für unsere Mission in den afrikanischen Großstädten“, sagte einer der Teilnehmer. „Je mehr wir uns darum bemühen, das Licht und die Wärme der Liebe Gottes in die Stadt zu bringen, desto kälter scheint es in der Stadt zu werden.“
Aus diesen Worten sprachen viel Frustration und Hoffnungslosigkeit. Ich war nicht der einzige Teilnehmer aus Europa, der den weiten Weg nach Südafrika auf sich genommen hatte. Wir trafen uns immer wieder als Europäer und versuchten, das Gehörte auf unsere Städte in Europa zu beziehen. Und bald wurde deutlich: Die Frustration des afrikanischen Gemeindebauers könnte man genau so auch in den Mund eines Europäers legen. Christlicher Gemeindebau in den Städten dieser Welt ist zu einer schwierigen Übung geworden. Die Urbaniten, wie man die Stadtbevölkerung nennt, lassen sich offensichtlich nicht so einfach einladen, ein Leben in der Gemeinschaft einer christlichen Kirche zu führen. Christen überall in der Welt äußern mehr Frustration als Freude über die Stadt und ihren Versuch, Gemeinde in der Stadt zu bauen. Der berühmte amerikanische Evangelist Dwight L. Moody brachte es für viele andere auf den Punkt: „The city is no place for me“ (Die Stadt ist kein Platz für mich).1 Und der bekannte amerikanische Theologe und Stadtkenner Conn beschreibt, wie ihn einmal eine Frau nach dem Gottesdienst grüßte und meinte: „Wissen Sie, dass Sie Gott auf dem Lande näher sind?“2
Mit diesem Buch habe ich mir die Aufgabe gestellt, die Probleme des Gemeindebaus in der Stadt zu reflektieren. Es gilt zu verstehen, warum Mission und Evangelisation in urbanen Räumen zu einer so schwierigen Aufgabe geworden sind. Und es gilt, nach möglichen Lösungen zu suchen. „Das Christentum ist allem anderen voran ein Weg des Sehens“, schreibt der amerikanische Theologe Robert Barron.3 Wir wollen sehen, ob uns Gottes Geist nicht jene Sicht schenken wird, die Frustration in Begeisterung, Hoffnungslosigkeit in eine neue Leidenschaft und Hilflosigkeit in Sachen urbaner Gemeindearbeit in Kreativität verwandeln kann. Gelänge es mir, so wäre die Aufgabe erfüllt. Denn schließlich ist es ja Gott selbst, der seine Gemeinde baut, nicht wir. Dietrich Bonhoeffers Worte erinnern uns daran, worauf es ankommt. Er schreibt: „Kein Mensch baut die Kirche, sondern Christus allein. Wer die Kirche bauen will, ist gewiss schon am Werk der Zerstörung; denn er wird einen Götzentempel bauen, ohne es zu wollen und zu wissen. Wir sollen bekennen – ER baut. Wir sollen verkündigen – ER baut. Wir sollen zu ihm beten – ER baut.“4 Wir Menschen bauen nur mit. Alles, was wir können, ist Augen und Ohren offen halten und von IHM lernen.
Nein, in diesem Buch will ich keine Anleitung zum Gemeindebau geben. Es ist weniger ein „How-to-do“-Buch. Ich will vielmehr zum Denken anregen. Veränderung setzt die Änderung des Denkens voraus, schreibt der Apostel Paulus (Röm. 12,1-2). Unsere Unzulänglichkeit ist in der Regel das Ergebnis eingerosteten Denkens. Wer lange genug in traditionellen Sichtweisen verweilt, wird bald für neue, innovative Wege blind. Diese Blindheit zu überwinden heißt am Ende, eine neue Welle kreativer Ansätze im Gemeindebau zu wagen. Genau das wünsche ich mir für meine Leser. Ich selbst habe immer wieder durch die Lektüre eines Buches oder eine Vorlesung Aha-Erlebnisse gehabt, die mich herausforderten, aber auch aus der Lethargie, aus der Unbeweglichkeit der eingefahrenen Situation, befreiten. Man kann auch sagen, Gott nutzte Bücher, um meinen Horizont zu erweitern. Ich hoffe, das tut ER auch durch dieses Buch.
Ich will zum Nachdenken über die Chancen und Möglichkeiten urbaner Gemeindearbeit anregen. Und ich tue das nicht nur als Theologe. Ich trage nicht aus der Bibliothek einer Fakultät für urbane Mission vor, auch wenn ich durch Hinweise auf entsprechende Literatur den Zuhörern einen Zugang zu der zurzeit geführten Diskussion ermöglichen möchte. Ich trage als betroffener Gemeindegründer und Gemeindepastor vor. Gemeindearbeit ist meine Leidenschaft. Was wäre meine theologische Arbeit wert, wenn da nicht die Herausforderung der praktischen Gemeindearbeit wäre? Dieses Buch ist in bewusster Reflexion der Praxis, und hier vor allem meiner eigenen Praxis, entstanden. Es atmet eine Theologie, die aus der Praxis kommt und in die Praxis führen will. Und so widme ich es auch allen jenen Gemeindemitarbeitern, die mit mir zusammen an Konzepten für Gemeindebau gearbeitet haben.
Johannes Reimer
Bergneustadt im Herbst 2017
Abkürzungen
FZG | – Familien-Zentrierte Gemeinde |
GWA | – Gemeinwesenarbeit |
GWM | – Gemeinwesen-Mediation |
HRD | – Healing Rooms Deutschland |
IVP | – Inter Varsity Press |
LDLT | – Lausanne Diasporas Leadership Team |
LKWE | – Lausanner Komitee für Weltevangelisation |
LOP | – Lausanner Occasional Paper |
ÖRK | – Ökumenischer Rat der Kirchen |
PRN | – Peace and Reconciliation Network |
UGN | – Urbanes Gemeindenetzwerk |
WEA | – Weltweite Evangelische Allianz |
ZeV | – Zyklus evangelistischer Verkündigung |
ZGG | – Zyklus gesellschaftstransformativer Gemeindearbeit |
TEIL 1
Kapitel 1
Gemeinden gründen, wo der Glaube stirbt
1.1. Sehnsuchtsort Stadt
Die Stadt – seit Urzeiten ist sie ein Ort menschlicher Sehnsucht. An keinem anderen Ort erhofft sich der Mensch so sehr, das Leben in die eigene Hand nehmen zu können. Und so strömten seit der Gründung der ersten uns bekannten Stadt Jericho vor 10 000 Jahren bis heute Millionen von Menschen in die rasant wachsenden Städte der Welt.5 Sie verlassen ihre Dörfer, weil sie sich auf dem Land unsicher fühlen und oft nur wenig Chancen zum Überleben sehen.
John, ein junger Afrikaner, der gerade in Hamburg gelandet ist, erzählt:
„Ich bin in einem Dorf im östlichen Kongo geboren. Zusammen mit einigen jungen Leuten aus meinem Dorf gelang mir nach Jahren langer und gefährlicher Reise die Flucht nach Deutschland. Heute lebe ich hier in Hamburg in einer Flüchtlingsunterkunft. Nur noch wenige Alte leben in unserem Dorf. Die meisten Einwohner sind weg. Bei uns zu Hause wollen alle so schnell wie möglich in die Stadt. In der Stadt gibt es Arbeit, und man findet immer etwas zu essen. Im Vergleich mit dem Elend auf dem Land im Kongo ist jedes Leben in der Stadt ein Paradies. Sogar in den Slums von Kinshasa.“
So wie John geht es Millionen. Fast ein Drittel der Weltbevölkerung lebt bereits in Städten, und es werden immer mehr. Am Ende des 21. Jahrhunderts, so die Prognosen, werden drei Viertel der Weltbevölkerung in Städten wohnen. Die Erde wird zu einem urbanisierten Planeten.
Städte wachsen, weil Menschen in die Stadt fliehen. Während die klassische Landbevölkerung, z. B. in Afrika, hohe Geburtenraten vorweist, werden die Familien in der Stadt immer kleiner.6 Es ist die wachsende Landbevölkerung, die für das Wachstum der Städte sorgt. Die Urbanisierung erweist sich somit als die effektivste Methode der Geburtenkontrolle.
Menschen suchen ihr Glück in der Stadt. Kommen sie dieser aber näher, so finden die meisten von ihnen zunächst bittere Armut und Elend. Viele von ihnen landen in den Elendsvierteln, Slums und Favelas, die Doug Saunders, kanadischer Journalist und Reisender, „Arrival Cities“ nennt. Er hat 25 Slums auf fünf Kontinenten besucht und überrascht mit einer radikalen, weil positiven These. Sein Buch „Arrival City“ weitet den Blick und zeigt auf, wie gerade die Landflüchtlinge heute die Zukunft so mancher Stadt bestimmen.7 Denn sie sind es, die den Kampf ums Überleben aufnehmen und dabei nicht nur einen erstaunlichen Lebenswillen, sondern auch einen hohen Grad an Innovation aufweisen. In ihren „urbanen Dörfern“ wird alles von dem einen Ziel getragen, so schnell wie möglich den Weg zum sozialen Aufstieg zu finden, koste es, was es wolle. Saunders spricht von den Ankunftsstädten als Hotspots urbaner Innovation.
Natürlich, jeder auch noch so geringe Aufstieg resultiert in der Transformation oder auch im Wechsel des sozialen Raumes. Und schafft man den Aufstieg in die besser betuchte Gesellschaft, so landet man heute in den sogenannten „gated communities“, geschlossenen Wohnvierteln, in die man nur durch einen entsprechenden Ausweis hineinkommt. Diese Entwicklung nahm ihren Anfang in den USA8 und ist heute in den meisten Ländern der Welt zu beobachten.9 Der soziale und ökonomische Wohlstand sind gerade in der Stadt gefährdet, schließlich drängen Massen von Neuankömmlingen nach oben und beanspruchen den gleichen Stand auch für ihr eigenes Leben. Die Angst vor Kriminalität zwingt dem Erfolgreichen regelrecht ein Leben hinter hohen Mauern auf.10
Städte sind somit keine einheitlichen sozialen Räume. Sie zeichnen sich durch ständige Veränderung, Wachstum und Verfall und vor allem Ausdehnung aus. Die kompakte, ummauerte Stadt, wie sie noch im Mittelalter existierte, gibt es so nicht mehr. Heute dehnen sich die Städte weit ins Umland aus und bilden ein metropolitanes Gebiet, das in seinen Vororten immer wieder beides sein kann, sowohl Stadt als auch Dorf mit urbanem Charakter. In der Literatur spricht man von der Zwischenstadt.11 Zeichneten sich Städte früher durch Urbanität aus, eine Haltung größerer Toleranz und Durchmischung der Bevölkerung, die die Lebensweise der Städter von der Landbevölkerung unterschied, so ist das Bild heute um ein Vielfaches differenzierter und komplexer. Die rasante Entwicklung dieser komplexen, sozialen Räume schürt seit der Mitte des letzten Jahrhunderts Angst vor dem Kollaps gesellschaftlicher Strukturen.12 Muss man tatsächlich Angst vor der Stadt haben? Oder bietet diese Entwicklung eine Chance, die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren? Meinungen, ja sogar Untersuchungen dazu gehen weit auseinander. Und was bedeutet die Urbanisierung für die Entwicklung der christlichen Mission und den Gemeindebau? In diesem Buch gehen wir der Frage nach.
1.2. Die Kloake Sao Paulo und der Saustall in Berlin
Sao Paulo im Osten Brasiliens ist eine der größten Städte der Welt. 26 Millionen Menschen leben in dieser Stadt. Wie keine andere in der Region hat sie die verarmte Bevölkerung des Landes angezogen. Viele, sehr viele, haben in ihren überdimensionalen Fabriken Arbeit gefunden. Volkswagen, GM, Bosch und andere Weltkonzerne haben sich hier angesiedelt und produzieren für den Weltmarkt. Man sagt, in Sao Paulo gibt es mehr deutsche Firmenniederlassungen als in irgendeiner deutschen Stadt.
Sao Paulo ist riesig. Das Leben hier pulsiert Tag und Nacht. Die Straßen ersticken an dem niemals endenden Verkehr. Drei Stunden brauche er für die sieben Kilometer von seinem Haus bis zur Arbeitsstelle, berichtet mir ein Mitarbeiter der Brasilianischen Bibelgesellschaft. „Bei uns gibt es immer Stau“, fügt er traurig und müde hinzu. Sicher auch, weil es keinen vernünftigen öffentlichen Nahverkehr gibt. Die städtischen Verkehrsbetriebe scheinen den Kampf gegen das Wachstum dieser Metropole längst aufgegeben zu haben. Genauso, wie die Stadtväter den Kampf gegen die Luftverschmutzung aufgegeben haben. Überall stinkt es nach Abgasen und dem längst toten Wasser des einmal so stolzen Rio Tietê. Die Einheimischen nennen ihn fast schon liebevoll „unsere Kloake“. Das Wasser im Fluss ist dunkelgrau, an manchen Stellen fast schwarz. Was da alles mitschwimmt! Sowohl die Industrie als auch private Haushalte lassen ihre Kanalisation hier abfließen.
„Unsere Kloake“ wurde für mich, je länger ich in Sao Paulo blieb, zum Symbol der Stadt überhaupt. Ähnlich wie dem Wasser dieses Flusses, das ursprünglich aus einer sauberen Quelle in Salesópolis in der Serra do Mar stammt und das verschmutzt und ohne Leben ist, wenn es die Stadt durchfließt, ergeht es auch Millionen der Einwohner dieser Stadt. Sie kamen vom Land. Sie suchten Arbeit, Broterwerb, eine sichere Existenz. Gefunden haben viele von ihnen noch größere Armut, ärmliche Behausungen in den Favelas, den Armenvierteln, in denen das Leben gezeichnet ist von Krankheiten, Drogen und Kriminalität. „Du kommst aus diesem Zustand nur durch ein Wunder heraus“, erzählte mir Frederico, ein junger Mann, der seit Jahren auf der Straße lebt. „Auch wenn du es willst, da gibt es kaum ein Entrinnen. Diese Stadt lässt dich aus ihrem Rachen nicht mehr frei, wenn sie dich einmal hat.“
Leben gesucht – Tod gefunden. So kann man heute das Leben großer Massen von Menschen, die in die rapide wachsenden Städte der Welt geflohen sind, beschreiben. Sie ähneln sich alle. Ob Hanoi, Johannesburg, Moskau, Nairobi, Bangkok, Mexiko-City, New York oder eben Sao Paulo. Lebensflüsse, die durch sie fließen, werden erstickt und zu Kloaken. Sie sind Orte der Sehnsucht für Millionen und werden zu Orten der Verzweiflung für die meisten von ihnen.
Unsere deutschen Metropolen heißen Berlin, München, Hamburg, Düsseldorf, Köln oder auch das Ruhrgebiet mit Dortmund, Bochum, Essen, Oberhausen und Duisburg. Berlin ist unsere „Hauptstadt der Armut“, wie sie der Berliner Kurier genannt hat.13 Jeder fünfte Berliner lebt unter der Armutsgrenze.14 Entsprechend problematisch entwickeln sich bestimmte Bezirke der Stadt. Längst spricht man von Slums. Im Stadtteil Kreuzberg zum Beispiel. Ein Kurier-Reporter spricht gar vom „Saustall Kreuzberg“. Er schreibt:
„Zwischen Müll und Dreck, zwischen Spree und Schlesischer Straße: Hinter zuplakatierten Bauzäunen wächst ein wahrer Slum, in dem Lebensbedingungen wie in Armenvierteln von Bombay herrschen. Oder in Favelas brasilianischer Mega-Städte. Es sind etwa 30 Bretterbuden, Wellblechhütten und Zelte – zusammengeschustert zu einer kleinen Stadt. Mitten in Berlin. In Deutschland.“15
Foto: Sabeth Stickforth16
Wie in den meisten Städten dieser Welt ist auch das Berliner Problem verursacht von den in die Stadt strömenden Massen an Einwanderern. Auch hier suchen Menschen besseres Leben, Arbeit, sicheres Einkommen. Leider finden viele statt sozialem Aufstieg nur einen Platz in der Gosse.
Sicher, in Deutschland sind es noch nicht die Massen. Hier wachsen die Städte auch, weil Menschen der Faszination der Stadt mit ihrem bunten und breiten Angebot an Bildung, Kultur, Lebensfreude und Ähnlichem erliegen. Es ist eben „cool“, in der Stadt zu leben, sagen mir junge Leute. Und viele finden, was sie suchen. Aber die Schere zwischen denen, die sich in der Stadt finden, und denen, die von der Stadt „geschluckt“ werden, geht immer weiter auseinander.