Kalte Sonne

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Kalte Sonne
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa


Johannes Epple:

Kalte Sonne

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: JaeHee Lee

Gestaltung: Lucas Reisigl

ISBN 978-3-90320-006-7

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de


YOU ARE FUCKED! Ich weiß, warum ihr hier seid. Ihr wollt Titten sehen. Miriams Titten und Miriams Panzerarsch. Ihr wollt aussehen wie sie. Oder wie Zyzz oder wie Ulisses. Aber das werdet ihr nie. Dafür seid ihr viel zu faul und zu bequem und zu verwöhnt. Ihr werdet euer Leben lang daherkommen, als hätte euch Gott nach einer viertägigen Sauftour in die Landschaft geschissen. Wie auch immer, damit ist Schluss jetzt. Die Backyard-Seite ist ab heute meine Seite. Ich bin Hacker. Mein Name ist Lordtom99 aka Dr. Tomtom. In der Neigungsgruppe »Firmenspionage und Datenklau« bin ich bekannt als Gründungsmitglied der Steroidhacker-Crew. In den nächsten Stunden werde ich 17 Word-Dokumente hochladen. Miriams Halbbruder hat sie geschrieben. Ihr werdet feststellen, dass die Geschichten über Miriam und ihre Tochter, die auf gannikus.com und team-andro.com herumgeistern, falsch sind.

Seht selbst …

Mitte Juni, 2015
Lordtom99\1\Wien:Sommer.docx

»Bin gelandet. Alles gut. Melde mich später.«

Manuel drückte auf »Senden« und holte sein Notebook aus dem Gepäckfach. Er schlüpfte in sein Jackett und wartete, bis die Flugbegleiter die Ausstiegsluken öffneten. Während der Fahrt mit dem Flughafenbus nahm er ein Aspirin gegen seine Kopfschmerzen und ließ seinen Blick über den Hangar schweifen. Zwei Arbeiter standen rauchend vor einem Hallentor. Die Leuchten am Tower warfen grelle Lichtkegel über die Landebahn.

Manuels Koffer gehörte zu den ersten, die in der Gepäckausgabe auftauchten. Er packte das dreckige Ding und hievte es auf seine Schultern. Am Weg durch die Empfangshalle trottete er an einem Sicherheitsbeamten vorbei, der ihn gleichgültig musterte. Draußen winkte er einem Taxi. Er rutschte auf den Beifahrersitz. »Favoritenstraße bitte«, sagte er.

Nebel hing über den Parkhäusern, ein leichter Sprühregen fiel. Erste Lichtreflexe spiegelten sich am Horizont, als das Taxi auf die Stadtautobahn bog. Während der Fahrer das Navigationsgerät bediente, sah Manuel nach, ob Hanna auf seine SMS reagiert hatte. Fehlanzeige. Er löschte die Spammails, die während der Nacht eingegangen waren, und wählte ihre Nummer. Das letzte Mal hatte er es vor dem Abflug versucht, das war vor sieben Stunden gewesen. Auch jetzt schaltete sich die Mobilbox ein.

Gegen sechs Uhr hielt der Taxifahrer in der Favoritenstraße vor dem Haus mit der Nummer 48. Manuel blickte die Fassade hoch. Alle Fenster waren dunkel. Er gab dem Fahrer zwei Euro Trinkgeld und fuhr in den dritten Stock. Die Luft im Vorzimmer war kalt und abgestanden. Als er das Licht aufdrehte, fiel sein erster Blick auf den großen Efeu neben dem Garderobenspiegel. Die Erde war feucht, und im Untersetzer stand Wasser. Gutes Zeichen, dachte er.

»Hanna?« Manuel schlüpfte aus seinen Converse und strich seine buschigen schwarzen Locken hinter die Ohren. »Ich bin wieder da.«

Niemand antwortete.

Manuel hängte sein Jackett auf den Kleiderständer und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Glastisch vor der Couch lag ein Stoß zerfledderter Wochenmagazine. Die Regale links und rechts an der Wand waren voller CDs und medizinischer Lehrbücher. Manuels Bücher. Unfallchirurgie. Alte Kladden, die er seit Jahren nicht mehr aufgeschlagen hatte.

Manuel kippte die Balkontür und ging ins Schlafzimmer. Die Lampe im Kabinett war zu schwach, um den Raum vollständig auszuleuchten. Er sah nur Konturen. Den Schrank. Die Kommode. Den Spiegel an der Wand. Hinten links unter dem Fenster stand das knorrige Bauernbett, das er bei einem Restaurator am Karmelitermarkt im zweiten Bezirk gekauft hatte. Schon jetzt war ihm klar, es würde leer sein. Er schaltete das Licht ein und sah eine nackte Matratze ohne Decke und Kissen.

Manuel spürte, wie sich ein beklemmendes Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete. Er sah im Bad, in der Toilette und im Kleiderschrank nach. Er durchforstete das Bücherregal im Wohnzimmer und die Laden in der Küche. Keine Auffälligkeiten.

In Hannas Arbeitszimmer änderte sich die Szenerie. Akten waren am Boden verstreut, die Türen des Dokumentenschranks standen offen. Manuel griff nach einem Blatt am Boden. Ein Literaturverzeichnis. Er nahm ein anderes. Der Abstract eines Forschungsförderantrags. Irgendwo in der Wohnung knackte der Parkettboden. Manuel sah über seine Schulter. »Hanna?«

Stille.

Er kontrollierte die Wohnungstür auf Einbruchspuren. Keine Kratzer im Holz. Auch das Sicherheitsschloss war noch ganz. Hatte Hanna das Chaos angerichtet? Niemand sonst hatte einen Schlüssel, dachte er und zückte das Mobiltelefon. Er rief im AKH an, im Hanuschkrankenhaus und im Wilhelminenspital. Er erkundigte sich, ob seine Lebensgefährtin Hanna Mahler stationär aufgenommen worden war. Gespannt lauschte er dem monotonen Klackern der Computertastaturen. Nichts, alle verneinten. Niemand mit diesem Namen war in eines der großen Wiener Krankenhäuser eingeliefert worden.

Manuel blies die Backen auf und wählte die Nummern von Freunden und Bekannten. Vielleicht wussten sie, was mit Hanna geschehen war. Da es erst kurz vor sieben Uhr morgens war, reagierten die meisten nicht auf seinen Anruf. Als Letztes versuchte er es bei Georg, einem Herz-Thorax-Chirurgen mit einer Stelle im Donauspital. Manuel und er hatten gemeinsam studiert, eine Zeit lang hatten sie zu zweit Tutorien am Anatomieinstitut gehalten. Auch heute trafen sie sich noch alle paar Monate auf ein Bier oder schauten Fußball in einem Irish-Pub in der Währinger Straße. Diesmal ließ er es länger läuten als bei den anderen. »Komm schon«, sagte er.

Als er auflegen wollte, hob Georg ab. »Ich werde zuhören, aber ich werde nicht antworten«, sagte er. »Das ist die Strafe für einen Anruf um diese Tageszeit.«

Manuel setzte sich auf die Bettkante. Er war froh, Georgs nasale Stimme zu hören.

»Hallo, Georg. Ich bin’s. Ich bin in Wien.«

»Manuel? Das ist doch … Manuel! Für dich mache ich eine Ausnahme. Seit wann bist du zurück?«

»Ich bin eben gelandet.«

»Wie lange warst du weg? Zwei Jahre?«

»Fast. Mit Unterbrechungen.«

»Wie ist der Krieg?«

»Wie der … keine Ahnung. Ärzte ohne Grenzen agiert nicht an der Front. Wir räumen den Dreck nach der Party weg.«

Kurz war es still. Georg atmete schwer. Er hörte sich krank an. »Versteh mich nicht falsch«, sagte er. »Aber wenn du gerade gelandet bist, solltest du dann nicht jetzt mit Hanna herummachen, statt mich anzurufen?« Er ließ ein heiseres Lachen hören, das in ein Husten überging.

Manuel blickte auf die leere Matratze. »Hanna ist nicht da. Deswegen rufe ich an. Seit Tagen kann ich sie telefonisch nicht erreichen, und sie reagiert nicht auf meine Mails.«

»Warte.«

Manuel hörte, wie sich Georg aus dem Bett hievte.

»Hast du es in einem Krankenhaus versucht? Vielleicht gab es Komplikationen.«

»Alle durchgerufen.«

Manuel beschlich das Gefühl, dass sein Freund etwas wusste.

»Vor ein paar Wochen war ich bei einer Tagung für Herz-Thorax-Chirurgen, da haben zwei Typen darüber geredet«, sagte Georg.

»Worüber geredet?«

»Sie hätte einen Vortrag halten sollen. Den hat sie abgesagt. Sie soll angerufen haben, hat es geheißen, sie sei kurz vor der Entbindung. Alles gut, soll sie gesagt haben, alles so, wie es sein soll.«

Manuel starrte auf die Staubschlieren auf der Fensterscheibe. Die Morgensonne warf verzerrte Schatten an die Wand. »Vor ein paar Wochen? Kurz vor der Entbindung? Eine Frühgeburt? Ist das dein Ernst?«

Georg hustete.

»Wann hast du sie gesehen?«, fragte Manuel. »Was ist mit ihr und dem Kind?«

»Ich wusste nicht, in welchem Krankenhaus sie liegt. Du weißt ja, so eng sind wir beide nicht.«

»Du erzählst mir, Hanna hätte, ohne mich zu informieren, unser Kind zur Welt gebracht, und dann hast du sie nicht einmal besucht?« Manuel ging im Zimmer auf und ab. In einem kleinen Spiegel auf der Kommode gegenüber dem Bett sah er sein Gesicht. Seine Augen waren klein, und er hatte einen dunklen Dreitagebart, in den sich erste graue Härchen mischten.

»Ich habe nicht einmal Hannas private Telefonnummer«, sagte Georg. »Ich muss nicht wissen, wo dein Kind ist. Das ist deine Aufgabe.«1

Im nächsten Moment ertönte das Freizeichen. Manuel ging ins Bad und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er stopfte die Schmutzwäsche in die Waschmaschine und drückte den Startknopf. Geistesabwesend starrte er auf den steigenden Wasserspiegel in der Trommel.

Hanna hatte offenbar entbunden.

Ihre letzte Nachricht war, dass alles in Ordnung sei.

Warum hatte sie sich nicht bei ihm gemeldet? Ihm keine Fotos, keine SMS, keine E-Mail geschickt? Warum war sie nicht erreichbar? Wo war sie überhaupt?

Um sich zu beruhigen verließ Manuel die Wohnung und kaufte bei einem Bäcker Brot und Marmelade. Inzwischen war es kurz vor acht Uhr. Der Regen hatte aufgehört. Die Wassertropfen auf den parkenden Autos glitzerten in der Morgensonne. Mit dem Gebäck ging Manuel eine Runde im angrenzenden Belvedere-Park. Er setzte sich auf eine Bank, zündete sich eine Zigarette an und beobachtete die Jogger. Gegen neun Uhr wurde sein Hunger so groß, dass er Magenschmerzen bekam. Er fuhr nach Hause, trank hastig einen Kaffee und hängte die frisch gewaschenen Kleider auf den Wäscheständer.

 

Gegen zehn Uhr fuhr er ins AKH, das Allgemeine Krankenhaus. Vielleicht konnten ihm Hannas Arbeitskollegen weiterhelfen. Im Forschungstrakt erkundigte er sich nach dem Labor C.1 und nahm den Lift ins Untergeschoss, wo sechs Laboratorien lagen, die alle unter Hannas Leitung standen. Er erinnerte sich an eine junge Pharmakologin, die bei ihnen zu Besuch gewesen war, und mit der Hanna so etwas wie eine Freundschaft pflegte. Berger oder Bergmeister hieß sie. Er suchte ihren Namen auf einem Laborplan und fand eine Sylvia Bergmann. Er erinnerte sich wieder. Raum C.1.8.

Das erste Mal seit seiner Rückkehr aus der Türkei spürte Manuel eine verhaltene Freude. Er hatte keine Ahnung, was für ein Spiel Hanna da trieb, aber es konnte um nichts Großes gehen. Seine Tochter war zwar vier Wochen vor dem Geburtstermin auf die Welt gekommen, aber das musste nichts bedeuten. Er war Vater. Komisches Gefühl, dachte er.

Manuel klopfte an Bergmanns Bürotür. Niemand reagierte. Vorsichtig drückte er die Klinke. Abgeschlossen. Manuel erkundigte sich bei einer jungen Frau in einem weißen Mantel nach der Pharmakologin. »Sylvia ist im Kühlraum im zweiten Untergeschoss«, sagte sie und betrachtete ihre silber lackierten Fingernägel. »In zwanzig Minuten ist sie zurück.«

Am Gang setzte sich Manuel auf einen Stuhl und verfolgte das Treiben der Laboranten. Ihn beeindruckte die souveräne Sterilität, die im Forschungstrakt herrschte. Er kannte das alles aus seiner eigenen Zeit in der Wissenschaft. Mit fünfundzwanzig war ihm diese Lebensart zu langweilig geworden. Ihn selbst hatte es immer hinaus ins Leben gezogen. Er wollte echten Schmerz und echte Lust, hatte er einmal zu Hanna gesagt. In der Forschung war immer alles zu sauber und still. Die Menschen sprachen nicht. Sie flüsterten. Sie liefen nicht, sondern schwebten durch die Gänge wie Gespenster. Alles wirkte so rein, beinahe ephemer in den Laboratorien, unendlich weit weg von der Wirklichkeit, als handelte es sich um zwei unterschiedliche Sphären, die nichts miteinander zu tun hatten.

Aus diesem Grund hatte er bei Ärzte ohne Grenzen angeheuert. Er verließ die Operationssäle und Aufwachräume der Wiener Krankenhäuser, in denen er seine Ausbildung absolviert hatte, und tauschte sie gegen Zeltlager und die schmutzigen Rücksitze amerikanischer Humvees. Er mochte das.

Durch eine offene Tür beobachtete er einen Laboranten, der eine Gewebeprobe aus einem Kühlschrank holte und unter ein Mikroskop schob. Jede seiner Bewegungen war langsam und vorsichtig. Er war von einer Ehrfurcht und einem Zartgefühl gegenüber seinem Arbeitsgegenstand ergriffen, die Manuel beeindruckten. Er selbst war nie so gewesen. Er wollte immer stürmen. Da blieb kein Platz für die Feinheiten des Mehr oder Weniger, für die hohe Kunst der Nuance.

Der Laborant war gut und gerne zehn Jahre älter als Manuel. Er musste seinen Beruf seit mindestens zwanzig Jahren ausüben. Und dennoch diese Hingabe, die er auch an Hanna beobachtet hatte. Sie hatte eine ähnliche Haltung wie der Laborant. Hanna war getrieben von der Faszination »Krankheit«, wie sie ihm einmal erklärt hatte. Es war das Labyrinth des Schmerzes, das sie seit ihrem Studium begeisterte.

Nach einigen Minuten trat eine Frau in einem zerknitterten weißen Kittel aus dem Lift und verschwand im Zimmer, auf dessen Türschild der Name Bergmann stand. Manuel klopfte. Die Tür war nur angelehnt. »Erinnerst du dich an mich?«, fragte er.

»Klar«, sagte die Frau. »Saltimbocca, trocken und ohne Salbei. Ich habe immer schon gewusst, dass Hanna nicht kochen kann.«

Manuel sah sie ernst an. »Wegen Hanna bin ich hier«, sagte er. »Ich muss dich etwas fragen.«

»Gehen wir in den Park? Ich könnte ein wenig Sonne vertragen.«

Zwischen Hagebuttensträuchern, unter denen Amseln nach Fressbarem suchten, setzten sie sich auf eine Bank. Bergmann schlug die Beine übereinander und holte einen Kaugummistreifen aus der Brusttasche ihres Kittels.

»Ich bin wie gesagt wegen Hanna hier«, sagte Manuel und wartete, welche Wirkung seine Worte auf Bergmann hatten. »Und wegen meiner Tochter. Sie ist … Die beiden sind verschwunden.«

»Verschwunden? Was heißt das?«

»Sie sind nicht daheim, und ich kann Hanna weder telefonisch noch irgendwie anders erreichen.«

»Hattet ihr Streit?«

»Nichts dergleichen.«

Bergmann schob die Ärmel ihres Kittels nach oben und musterte ihn stoisch von der Seite. Manuel fiel auf, dass sie dunkle Ringe unter den Augen hatte. Sie wirkte so, als hätte sie die Nacht durchgearbeitet.

»Hanna hat oft von dir gesprochen«, sagte Manuel. »Ich versuche nur, alle Möglichkeiten auszuschöpfen.«

»Als ich zuletzt von ihr gehört habe, war sie auf dem Weg in die Semmelweis-Klinik, weil die Wehen eingesetzt hatten.«

»Ging es ihr gut?«

»Alles bestens.«

»Und danach?«

»Ich wollte sie besuchen, aber sie hatte immer eine andere Ausrede. Das Kind sei krank. Das Kind sei müde. Das Kind brauche Ruhe, weil schon eine Menge Besucher dagewesen seien. Nach drei oder vier Versuchen habe ich aufgegeben. Ich kannte ja Hanna. Schon immer war sie darauf bedacht, das Private und das Berufliche zu trennen. Auch wenn sie mich als Freundin sah, gehörte ich zur Sphäre des Krankenhauses. Einmal erklärte sie, Fehler entstünden aus Unordnung. Ich kenne niemanden, der so große Probleme mit dem Unvollkommenen hatte wie Hanna.«

»Kennst du jemanden, der das Kind gesehen hat?«, fragte Manuel.

»Hier bei uns im Krankenhaus war ich die Einzige, die Kontakt mit Hanna pflegte. Sicher kam es vor, dass jemand sich mal nach ihr erkundigte. Aber niemand hatte den Ehrgeiz, sie privat kennenzulernen.«

Als Manuel von Hannas verwüstetem Arbeitszimmer sprechen wollte, ertönte ein Pieper. Bergmann zückte ihr Mobiltelefon und entfernte sich einige Schritte. Manuel behielt sie die ganze Zeit über im Blick.

»Ein epileptischer Schock in der Neuro-Ambulanz«, sagte Bergmann, als sie zu ihm zurückkehrte. »Tut mir leid, wenn ich keine große Hilfe gewesen bin.«

»Schon gut«, antwortete er. »Ich melde mich. Ich habe noch andere Fragen.«

Kurz vor zwei Uhr besuchte Manuel die Mensa im AKH, in der er schon während seines Studiums gegessen hatte. Während er auf die Suppe wartete, rief er jene Freunde und Verwandten an, die morgens nicht abgehoben hatten. Niemand konnte ihm helfen. Die meisten reagierten überrascht, als er ihnen seine Situation erklärte. Er aus der Türkei zurück? Hanna verschwunden? Seine Tochter schon geboren? Wie bitte? Am Ende stocherte er in einem Gulasch und beobachtete das Krankenhauspersonal, das sich vor der Essensausgabe zu einer Schlange aufgefädelt hatte.

Er verließ das AKH durch einen Nebenausgang. Über die Lazarettgasse erreichte er die Sensengasse und die Währinger Straße, der er bis zum Schottentor folgte. Von dort ging er zu Fuß zum Volkstheater und nahm die Straßenbahn in den siebten Bezirk. In der Neustiftgasse ging er zum Haus mit der Nummer 34, in dem ihm eine kleine Wohnung gehörte, die er von seinem Vater geerbt hatte. Er arbeitete dort an Vorträgen oder Arbeitsberichten. Als Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen bezog er ein lausiges Gehalt. Da seine Österreichaufenthalte nie länger als drei oder vier Monate dauerten, und er deswegen keine reguläre Stelle in einem Krankenhaus annehmen konnte, finanzierte er seine Heimaturlaube mit Vorträgen bei Pharma-Kongressen oder Reportagen, zuletzt von der Grenze zwischen Türkei und Syrien.

Im Postfach waren Werbebroschüren von Pharmaunternehmen, mit denen er zusammenarbeitete. Pfizer, Ratiopharm, Regeneratio, Bayer. Ohne sie durchzusehen suchte er nach einem Brief oder einer Karte von Hanna. Vielleicht hatte sie ihm hier eine Nachricht hinterlassen. Aber nichts. Nur Altpapier. Manuel warf die Unterlagen in den Container und ging hinauf in den ersten Stock. Vielleicht hatte sie ein Kärtchen unter der Tür durchgeschoben.

Ein fauliger Geruch stieg ihm in die Nase, als er die Wohnung betrat. Offenbar hatte er bei seinem letzten Besuch den Müll vergessen. Zwei Weinflaschen und ein schwarzer Plastiksack mit Essensresten lehnten an der Toilettentür. Dort mussten sie schon seit zwanzig Monaten liegen.

Bei seinem letzten Besuch in der Wohnung hatte er eine junge Tirolerin dabei gehabt. Eine Nachwuchsjournalistin, die irgendwas mit Medien studierte und ein Praktikum bei einem Wiener Hipstermagazin absolvierte. Manuel hatte schnell mitbekommen, dass bei der Journalistin seine Credits »Krieg«, »Arzt« und »Dritte Welt« hoch im Kurs standen. Auf das Interview folgten ein Essen, dann eine Nacht und dann eine Coverstory. Alle Beteiligten waren zufrieden gewesen.

Manuel sah sich um. Kein Kuvert, kein zusammengefalteter Zettel. Vielleicht hatte Hanna von einem seiner kleinen Auswärtsmatches erfahren, und ihr Verschwinden war die Folge davon, dachte er, während er den Müll vor die Tür stellte und ein Fenster öffnete, um den fauligen Geruch aus der Wohnung zu bekommen. Manuel lächelte zögerlich. Schon der Gedanke kam ihm abwegig vor. Es war einfach nicht Hannas Art, beleidigt zu sein und zu verschwinden. Außerdem glaubte Manuel nicht, dass sie sich neben ihrer Arbeit mit profanen Fragen wie der Treue ihres Partners auseinandersetzte. Tief in seinem Inneren wusste er, dass für Hanna zuerst die Medizin kam, dann lange nichts, dann er und dann der Rest der Welt. Alles in allem eine Konstellation, die er durchaus zu schätzen wusste.

Mit hochgezogenem Kragen ging er in die Innenstadt. Am Donaukanal beobachtete er zwei Skateboarder bei ihren halsbrecherischen Tricks. Am Schwedenplatz kaufte er sich einen Ayran. Auf der anderen Seite des Kanals blitzten die Hochhäuser im Mittagslicht. Weiter oben auf Höhe der Urania knatterte ein Presslufthammer in einer Baugrube.

Er war lange weg gewesen. Knapp zwei Jahre. Seine Heimaturlaube hatten nie länger als vier Monate gedauert. Wenn er dann mal ein paar Tage Zeit für Hanna gehabt hatte, hatte sie sich freigenommen, und sie waren auf den Semmering oder nach Kärnten gefahren. Ein paar Tage. Wandern, baden. Die Abende verbrachte er vor seinem Notebook. »Unsere Beziehung ist fiktiv«, hatte Hanna einmal zu ihm gesagt und keine Ahnung gehabt, wie recht sie damit hatte.

Unsere Beziehung ist fiktiv, sagte er jetzt zu sich und leerte den Ayran. Eine Einbildung, nichts weiter. Natürlich war ihm bewusst, dass Hanna während der vergangenen Monate mehr von ihm erwartet hatte. Jeden zweiten Tag ein Dreizeiler per Mail machte ihn nicht zum Vater des Monats. Er konnte selbst nicht sagen, warum er nicht mehr Engagement gezeigt hatte. Er hatte sich ehrlich gefreut. Auf das Mädchen. Auf Hanna. Aber sie waren beide fiktiv, dachte er. Wie Einbildungen. Real war das Lager. Die Verletzten. Die Operationen nachts um drei, wenn Söldner einen zerschossenen Kämpfer brachten. Was hätte er tun sollen? Seine Sachen packen? Einfach abhauen und alles liegen lassen, was er sich in den vergangenen Jahren aufgebaut hatte? Alles, was real war? Blutig und real?

Gegen vier Uhr fuhr er zurück zum AKH. Er setzte sich in den Krankenhauspark und wartete auf Bergmann. Irgendwann musste sie das Gebäude verlassen. Er heftete seinen Blick auf den Eingang und betrachtete die unzähligen Menschen, die aus dem Krankenhaus strömten. Nach einer halben Stunde war es so weit. Bergmann trat durch die Schiebetür. Sie trug einen olivgrünen Regenmantel. Ein schwarzer Rucksack klemmte unter ihrem Oberarm. Am Weg zum Personal-Parkplatz sah sie konzentriert auf ihr Mobiltelefon. Manuel folgte ihr unauffällig. Als sie den Parkplatz erreichte, machte er drei schnelle Schritte. »Sylvia«, rief er. »Ich hatte da noch einige …«

Bergmann wirbelte herum und ließ den Rucksack fallen. Manuel wollte ihn aufheben, doch die Pharmakologin drängte ihn zur Seite. »Was willst du noch von mir? Ich habe dir alles gesagt.«

»Was ist mit Hannas Forschungsprojekten? Die muss sie von daheim aus weiter betreut haben.«

»Hör doch auf. Hanna hat …«

»Was hat Hanna?« Manuel merkte, dass er eine Grimasse zog. Sein Gesicht fühlte sich ganz heiß an. »Rede mit mir. Was geht hier vor?«

Bergmann umschloss den Rucksack mit beiden Händen. »Ich habe keine Zeit«, sagte sie. Sie machte kehrt und lief in einem weiten Bogen zurück zum Krankenhaus.

 

Im ersten Moment war Manuel verblüfft. Dann eilte er ihr nach. Bergmann war seine einzige Spur. Er musste an ihr dranbleiben. Er sah, wie sie im Trakt B verschwand. Seine militärischen Ausbildungseinheiten kamen ihm zugute. Schnell machte er Boden gut. Er war nur noch zehn Meter hinter ihr, als sie über eine Rolltreppe zu den Neuroambulanzen hinauflief. »Sylvia … sei doch nicht kindisch«, rief er ihr hinterher, aber die Pharmakologin reagierte nicht.

Oben bei den Ambulanzen stellten sich ihm drei Jungärzte in den Weg. Den ersten stieß er einfach mit der Schulter zur Seite, den beiden anderen wich er mit einer gekonnten Körpertäuschung aus. Dann lief er weiter die Ambulanz entlang, durch mehrere leerstehende Behandlungskojen bis zum Gipszimmer, wo er eine offenstehende Tür entdeckte. Von innen verschloss er die Tür und sah sich um. Er war allein. Leere Gipshüllen ragten aus einem Mülleimer. Es roch nach Desinfektionsmittel und dem ausgetrockneten Kleber für die Hartbandagen. Auf der anderen Seite des Raumes fand er einen Durchgang, vor dem ein Tuch hing. Vorsichtig zog er es zur Seite und betrat ein Zimmer mit drei Computern und mehreren Röntgenbildern an den Lichtwänden.

Sylvia stand vor dem offenen Fenster und blickte über den angrenzenden achtzehnten Bezirk. Der Wind fuhr durch ihre kurzen, braunen Haare. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn.

Hinter ihm knackte das Schloss und die Jungärzte, die er eben überrannt hatte, betraten das Röntgenzimmer. »Hilf mir, Sylvia«, sagte er. »Ich bin heute aus der Türkei zurückgekehrt. Ich bin müde und ich habe keine Ahnung, was mit Hanna und mit meiner Tochter geschehen ist.«

Bergmann lachte theatralisch. Sie starrte nach draußen, als würde Manuel für sie nicht existieren.

Die Ärzte gingen auf ihn zu.

»Komm schon …«, sagte er.

Bergmann wandte den Kopf. In ihren Augen blitzte etwas auf, das Manuel nur als Hass auffassen konnte. Er blinzelte unwillkürlich. »Es ist deine Schuld«, schrie sie. »Du bist das Problem.«

»Was?« Manuel machte einen Schritt zurück. »Was redest du da?«

Bevor er weitersprechen konnte, stürzten sich die drei Ärzte auf ihn. Einer stieß ihn zu Boden, einer sprang auf seinen Rücken, der dritte umklammerte seine Beine. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen. Mit aller Kraft stemmte er sich in die Höhe. »Was soll das?«, schrie er.

Er sah, wie Bergmann mit den Schultern zuckte. Ihre Augen wurden groß und starr. Sie hielt sich an der Vorhangstange fest und kletterte auf den Heizkörper. Mit einem kurzen, kehligen Schrei sprang sie aus dem Fenster.2