Die Erleuchtung der Welt

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Als die Magd zurückkam, freute sie sich, dass das Mädchen alles aufgegessen hatte.

»Danke für die Suppe«, sagte Helena. »Kannst du mir sagen, wie ich hierhergekommen bin?«

»Der junge Herr hat dich gefunden. Du warst halbtot, als er dich hierher brachte.« Mütterlich tätschelte die Magd Helenas Hand. »Ich muss wieder an die Arbeit.«

»Eine Frage noch«, bat Helena. »Wie lange bin ich schon hier, wo sind meine Kleider, und wann kann ich wieder zurück nach Lobenfeld?«

»Das waren schon drei Fragen«, lachte die Magd leise. »Deine Kleider waren nicht mehr zu retten, ich bringe dir später etwas zum Anziehen. Der junge Herr hat dich vor sieben Tagen ins Haus gebracht. Nun ruh dich noch ein wenig aus.«

Sie nahm das Tablett und verschwand aus der Kammer. Helena befolgte den Rat der Magd, bettete ihren Kopf auf das Kissen und fiel in einen erholsamen Schlaf. Als die Magd zum dritten Mal hereinkam und ihr Kleidung brachte, dämmerte es bereits.

»Ich helfe dir beim Anziehen, dann bringe ich dich zu den Herrschaften«, sagte die Magd bestimmt und half Helena, das Kleid überzustreifen. Ihr neugieriger Blick fiel auf das Püppchen um Helenas Hals, doch sie verkniff sich, danach zu fragen.

»Es ist ein Kleid von Adelheid. Sie ist die drittälteste Tochter des Hauses«, plauderte sie, während sie begann, Helenas Haare zu bürsten. »Meine Herrin meinte, es sollte dir passen, aber wie ich sehe, bist du zu dünn dafür.«

Helena sah an sich hinunter. Das Kleid schlotterte nur so um ihre schmalen Hüften und Schultern. Sie musste einiges an Gewicht verloren haben, aber das Kleid war wunderschön. So etwas trugen nur reiche Bürgerinnen. Der viereckige Ausschnitt war mit feiner Spitze gesäumt, das weiche grüne Tuch des Kleides fiel in wenigen Falten an ihrem Körper hinab und war in der Mitte gegürtet. Die Doppelärmel waren mit breiten Zierborten versehen. Seltsamerweise vermisste sie den Habit der Laienschwestern, den sie zu Anfang nicht hatte leiden können.

»Du hast wunderschöne Haare, hast du sie von deiner Mutter?«

»Nein, meine Mutter hatte blondes Haar«, antwortete Helena leise.

»Hatte? Ist sie tot?«

»Ja, sie ist vor ein paar Jahren bei der Geburt meines Bruders gestorben.«

Die Magd seufzte, sie wusste, wie oft Frauen bei der Geburt eines Kindes ihr Leben ließen.

»Hast du den Anhänger, den du um den Hals trägst, von ihr geerbt?«, wollte sie nun doch wissen.

Helena deutete ein Kopfschütteln an und blieb eine Erklärung schuldig.

»Ich bringe dich jetzt hinunter«, sagte die Magd enttäuscht. Zu gerne hätte sie mehr über die ungewöhnliche Kette erfahren.

Eine hölzerne Treppe, deren Stufen bei jedem Schritt leise knarrten, führte sie ins erste Obergeschoss mit den Schlafkammern der Familie und von dort ins Erdgeschoss, wo sich die Stube und die Küche sowie die Eingangshalle befanden. Rückwärtig am Haus war der Zugang zum Hof, der durch die Halle betreten werden konnte. Dort lagerte der Kaufmann und Ratsherr Caspar Ostheim seine Waren in einem Nebengebäude, wo sich auch das Kontor befand. Tuchballen, Gewürze, Wolle, Pelze und vieles andere stapelten sich gut geschützt vor den Witterungseinflüssen in den Regalen. Auf der linken Seite des Hofs lagen die Stallungen für die Pferde und Maultiere.

Die Magd öffnete die Tür zur Stube, legte Helena die Hand auf den Rücken und schob sie hinein. Am Kopfende eines großen, breiten Tisches hatte Caspar Ostheim Platz genommen, zu seiner Rechten seine Frau Hildburg, zu seiner Linken sein Sohn. Dann folgten fünf Töchter unterschiedlichen Alters, die sich gegenübersaßen.

Scheu blieb Helena stehen, den Blick zu Boden gesenkt. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie glaubte, man könne es durch den Kleiderstoff schlagen sehen. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen oder tun sollte. Tatsächlich saß Toman mit am Tisch, was sie insgeheim gehofft hatte, sie nun aber noch mehr verunsicherte. Ja, natürlich wollte sie sich von Herzen bedanken. Diese Familie, und vor allem Toman, hatte ihr das Leben gerettet. Nur wusste sie nicht, wie sie anfangen sollte. Hildburg bemerkte ihr Zögern und kam ihr zu Hilfe. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und ging auf Helena zu, fasste sie bei der Hand.

»Wie schön, dass es dir besser geht, Helena. Ich bin Hildburg Ostheim, mein Gatte Caspar, unseren Sohn Toman kennst du ja bereits, und das sind unsere Töchter: Berta, Magdalena, Adelheid, Barbara und Johanna«, stellte sie die Familie vor, in dem sie mit der freien Hand in die jeweilige Richtung wies. »Komm, du kannst dich neben Johanna setzen.«

Verlegen ließ sich Helena auf dem freien Stuhl nieder, vermied den Augenkontakt mit Toman, der ihr nun schräg gegenüber saß. Die kleine Johanna sah zu ihr auf und strahlte sie an.

»Du brauchst keine Angst zu haben, wir beißen nicht. Du hattest ganz hohes Fieber, und der Medicus hat gesagt, er weiß nicht, ob du das überlebst …«, plapperte die Sechsjährige munter darauflos.

»Johanna, sei still!«, beschied ihr die Mutter streng, woraufhin das kleine Mädchen jäh verstummte.

»Ich weiß nicht, wie ich Euch für Eure Hilfe danken soll«, stammelte Helena zaghaft und blickte von Hildburg zu Caspar und wieder zurück.

»Bete täglich für unsere Familie«, antwortete Caspar Ostheim, »das ist Dank genug. So, und nun iss mit uns, du musst wieder zu Kräften kommen.«

Toman stand auf und zog an einer unscheinbaren Kordel, die hinter seinem Platz an der Wand hing. Nur Augenblicke später erschienen zwei Mägde und brachten das Abendessen. Brot, Käse, kaltes gebratenes Schweinefleisch wurden aufgetischt und eine Schale mit kleinen rotbackigen Äpfeln. Dazu wurde den Kindern Dünnbier gereicht, die Erwachsenen tranken verdünnten Wein.

»Möchtest du das Tischgebet sprechen, Helena?«

Eigentlich war es keine Frage, sondern eine Aufforderung seitens des Hausherrn. Helena kam Caspar Ostheims Wunsch gerne nach, faltete die Hände und sprach mit demütig gesenktem Haupt das Gebet. Erstaunt nahm die Familie zur Kenntnis, dass ihr Gast das Gebet auf Latein rezitierte. Dass eine Laienschwester Latein beherrschte, war nicht gerade üblich. Toman hatte seiner Familie erzählt, Helena lebe im Kloster Lobenfeld und er habe sie vor Monaten zufällig getroffen.

Toman schmunzelte, als sie geendet hatte. »Würdest du das auf Deutsch wiederholen? Nicht alle an diesem Tisch sind des Lateinischen mächtig.«

Helenas Wangen färbten sich tiefrot, und mit klopfendem Herzen sprach sie das Gebet noch einmal.

Kaum hatte sie geendet, griff Caspar Ostheim als Erster herzhaft zu.

»Du fragst dich sicher, wie ich dich gefunden habe«, wandte sich Toman an Helena, die nun gezwungen war, ihn anzusehen.

Stumm nickte sie, spürte, wie ihre Wangen heiß wurden.

»Als ich euch begegnet bin, wollte ich zuerst weiter nach Dilsberg. Doch auf halbem Wege kehrte ich um, weil ich sicher war, ihr würdet es nicht bis nach Lobenfeld schaffen. Zuerst fand ich nur die Ochsen, die laut brüllend unter einer kleinen Baumgruppe Schutz gesucht hatten. Ich rief deinen Namen, die anderen weiß ich ja nicht …«

»Schwester Katharina und Kunibert«, warf Helena ein.

»Gut. Kunibert muss mich gehört haben, denn er rannte, so gut er konnte, in meine Richtung und berichtete, was passiert war. Er meinte, du wärest sicher ertrunken. Ich wollte das nicht glauben und habe meinen treuen Galen stromabwärts getrieben. Du hast wirklich einen Schutzengel gehabt.« Er nahm einen Schluck verdünnten Wein, bevor er fortfuhr. »Der reißende Bach muss dich regelrecht ausgespien haben, mit dem halben Leib hingst du in den Ästen eines umgekippten Baumes. Zuerst dachte ich, du wärest tot. Doch als ich bei dir war, dankte ich Gott, dass du noch am Leben warst. Dann habe ich dich ins Haus meines Vaters gebracht.«

»Habt Dank, Toman Ostheim. Ich stehe tief in Eurer Schuld. Wie soll ich diese jemals abtragen?«

»Rede nicht einen solchen Unsinn«, mischte sich Hildburg ein. »Du bist uns gar nichts schuldig. Außer den täglichen Gebeten«, zwinkerte sie Helena zu.

»Und was ist mit Schwester Katharina? Und mit Kunibert?«, fragte Helena.

Toman zuckte mit den Schultern.

»Vermutlich sind sie längst wieder in Lobenfeld, die Brücke wurde, wie man hört, wieder instandgesetzt. Ich habe die beiden nicht wieder gesehen, nachdem ich dich aus dem Bach gezogen hatte.« Er nahm einen Schluck aus seinem Becher. »Du hattest tagelang hohes Fieber, aber das weißt du ja bereits von meiner kleinen vorlauten Schwester. Meine Mutter und die Mägde haben abwechselnd versucht, dir wenigstens ein wenig verdünnten Wein einzuflößen, damit du nicht ausdörrst.«

Flüchtige Erinnerungen drängten sich ihr auf. Besorgte, fremde Gesichter, Menschen, die ihr den Kopf hielten, ihr beim Trinken halfen und sie wuschen. Ein weiteres Mal bedankte sie sich bei der Familie aus tiefstem Herzen.

Hildburg bemerkte, dass dem Mädchen beinahe die Augen zufielen. »Du bist immer noch sehr schwach, ich begleite dich nach oben.« Sie half ihr noch aus dem Kleid, und kaum hatte Helena sich niedergelegt, war sie auch schon eingeschlafen.

Am nächsten Morgen fühlte sich Helena schon etwas besser und spürte, wie sie langsam wieder zu Kräften kam.

»Kennt Ihr zufällig jemanden, der nach Lobenfeld muss und mich mitnehmen kann?«, fragte sie Hildburg nach dem Frühstück, das sie gemeinsam mit der Familie eingenommen hatte. Nur Toman war nicht zugegen gewesen, wie Helena enttäuscht festgestellt hatte. »Sonst gehe ich zu Fuß. Wenn ich zügig voranschreite, schaffe ich den Weg in zwei, drei Stunden«, fügte sie hinzu.

»Ich glaube nicht, dass du schon kräftig genug bist, um eine solche Strecke zu Fuß zu bewältigen. Und schon gar nicht ohne Begleitung. Du bist noch zu schwach und ganz blass um die Nase«, erwiderte Hildburg und legte ihre Stirn in Falten.

 

»Aber ich muss zurück ins Kloster, dort wartet viel Arbeit auf mich …«

»Ruhig, mein Kind. In zwei Tagen kehrt der Kurfürst samt Familie in Dilsberg ein. Und wenn die Hofgesellschaft sich hier zur Jagd einfindet, kommen viele Gäste, die von den Bürgern der Stadt aufgenommen werden müssen. So hat es Kurfürst Ruprecht vor mehr als achtzig Jahren verfügt. Meist reiten sie zwei oder drei Tage zur Jagd, danach ist der Spuk wieder vorbei. Das bedeutet, im Augenblick verlässt kaum jemand die Stadt, denn alle bereiten sich auf den Besuch des Kurfürsten vor. Aber danach, denke ich, bist du wieder soweit bei Kräften, um ins Kloster zurückzukehren. Und sicherlich findet sich jemand, der dich dorthin mitnimmt.«

Helena sah ein, dass Hildburg recht hatte. »Kann ich Euch irgendwie zur Hand gehen?«

Hildburg überlegte. Schwere Arbeiten konnte das Mädchen noch nicht verrichten. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Toman sagt, du bist der Kräuterkunde mächtig und hilfst im Waisenhaus mit. Er scheint viel von dir zu halten«, fügte sie hinzu und betrachtete Helena aufmerksam.

Prompt schoss Helena die Röte ins Gesicht. Hildburg fühlte sich bestätigt. Die Laienschwester empfand etwas für ihren Sohn, und er für sie. Schon gestern Abend war ihr das aufgefallen. Mit leisem Bedauern hatte sie sich eingestehen müssen, dass aus den beiden wohl kein Paar werden würde, nachdem sich Helena offenbar der Kirche verschrieben hatte. Zudem wusste sie ganz genau, ihr Ehegatte würde einer solchen Verbindung niemals zustimmen, selbst wenn das Mädchen dem Kloster den Rücken kehrte. Caspar war bereits auf der Suche nach einer geeigneten Braut für Toman.

»Ja, er … ich«, begann Helena stammelnd, fing sich dann aber wieder, »weiß vieles über Kräuter und welche Krankheiten sie zu lindern oder gar zu heilen vermögen. Seid Ihr oder etwa eine Eurer Töchter krank?«

»Nein, nein. Aber ich dachte, du könntest vielleicht, bis du uns wieder verlässt, einige Salben oder Tränke zubereiten, so für den Hausgebrauch. Mittel, die bei den üblichen Wehwehchen helfen. Kleine Wunden, Fieber, Husten.«

Helena strahlte. »Von Herzen gerne, nach all dem, was Ihr für mich getan habt.«

Doch dann umwölkten sorgenvolle Gedanken ihre Stirn.

»Um diese Jahreszeit werde ich wohl kaum die Kräuter finden, die ich benötige, und für die Salben brauche ich Wollfett …«

»Das besorge ich dir schon, keine Bange«, beruhigte sie Hildburg. »Morgen ist Markt, geh hin und sieh dich um. Es kommen jede Menge Händler, bestimmt wirst du fündig werden. Und lass die Förmlichkeiten«, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu.

Am nächsten Tag fühlte sich Helena beinahe wieder so gesund wie vor dem Unglück. Hildburg befahl einem alten Knecht, Helena auf den Markt zu begleiten. Tatsächlich fand sie einen Marktstand, der mit getrockneten Pflanzenteilen, Gewürzen und Salz handelte und erstand Einiges, was sie verwenden konnte. Kurz dachte sie daran, zum Waisenhaus zu gehen, um nach den Kindern zu sehen. Doch ausrichten konnte sie dort ohnehin nichts, weil sie keine Medizin besaß.

»Weißt du, ob hier irgendwo Weiden wachsen?«, fragte sie den Knecht.

»Nicht in der Stadt«, brummte der Alte. »Unten am Rainbach gibt es welche.«

»Ist das weit?«

Der Knecht zuckte mit den Schultern, er hatte keine große Lust, den Berg hinabzusteigen und den beschwerlichen Weg wieder hinaufnehmen zu müssen.

»Wenn du mir sagst, in welche Richtung ich gehen soll, dann brauchst du nicht mitzukommen.« Helena hatte wohl bemerkt, dass der Alte nicht gerne ihren Begleiter spielte.

»Nein, nein. Ich komme mit dir, die Herrin macht mich einen Kopf kürzer, wenn ich dich allein gehen lasse.« Missmutig setzte er sich in Bewegung, und nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch erreichten sie ihr Ziel. Am Bachufer standen einige große Weiden, die ihre Zweige in das klare Wasser hielten. Helena mochte diese Bäume, die im Sonnenlicht silbern zu schimmern schienen und ihrer Ansicht nach den Namen Trauerweide nicht verdient hatten. Sie bat den Knecht, einige der jüngeren Zweige abzuschneiden, und bedauerte nicht zum ersten Mal, dass um diese Jahreszeit kaum Pflanzen zu finden waren, mit denen sie etwas anfangen konnte. Auf dem Rückweg entdeckte sie wenigstens noch Hagebutten. Getrocknet und wieder mit heißem Wasser aufgebrüht, halfen die roten Früchte bei Erkältungen und Blasenleiden. Sie pflückte so viele wie möglich und gab sie in den Weidenkorb.

Zurück im Haus Caspar Ostheims empfing sie rege Betriebsamkeit. Die Mägde waren dabei, Unterkünfte für die Jagdgäste herzurichten, und schnatterten aufgeregt durcheinander. In der Küche brodelten bereits Suppen und Eintöpfe, und ein Hammel wurde über einem Spieß gedreht. Es roch nach frisch gebackenem Brot.

»Ritter Heinrich von Dirmstein und sein Knappe können in Tomans Kammer schlafen«, ordnete Hildburg gerade an, als Helena die Halle betrat. »Die Knechte sollen die Ställe mit frischem Stroh einstreuen.«

»Oh, da bist du ja«, freute sich die Herrin des Hauses, als sie Helena erblickte. »Wollfett habe ich dir besorgen lassen, geh in die Küche und frag die Köchin, wo sie es hingestellt hat.«

Helena nickte und wenig später ging sie daran, Auszüge aus den Kräutern herzustellen. Der Händler hatte zu ihrer Überraschung sogar getrocknete Ringelblumen verkauft. Als es zu dämmern begann, hatte Helena Hustensaft und Ringelblumensalbe fertiggestellt. In einem steinernen Mörser zerkleinerte sie nun die Weidenzeige mit dem Stößel und zerrieb sie zu einem Pulver. Daraus ließ sich ein fiebersenkender Aufguss herstellen. Um dem Trubel, der im Haus herrschte, zu entgehen, hatte sie sich trotz der Kälte ein ruhiges Plätzchen in einer Ecke des Hofs gesucht und arbeitete selbstvergessen im Schein einer kleinen Laterne.

Hufschläge drangen an ihre Ohren, und als sie aufsah, trabten drei Reiter auf den Hof. Der Herr des Hauses und ein Ritter mit seinem Knappen. Die Männer bemerkten sie nicht, sprangen von den Pferden, sofort nahm der Knappe sein Reittier und das seines Herrn an den Zügeln. Ein herbeigeeilter Knecht übernahm Caspar Ostheims Pferd und bedeutete dem Knappen, ihm in den Stall zu folgen. Das musste der Ritter sein, von dem Hildburg erzählt hatte. Seufzend wandte Helena sich wieder ihrer Arbeit zu. Alle Weidenstückchen zu zerstoßen, würde sie heute nicht mehr schaffen. Allmählich kroch ihr die feuchte Kälte in die Knochen, und sie brachte Mörser und Stößel zurück in die Küche, wo die Mägde gerade dabei waren, das Abendessen herzurichten. Als sie wieder zurück in den Hof kam, um die verbliebenen Schüsseln mit den zerstückelten Zweigen und dem bereits hergestellten Pulver sowie die Laterne zu holen, kam ein weiterer Reiter auf den Hof. Im Schein der einzigen Fackel, die einen Teil des Hofs beleuchtete, erkannte sie Tomans Pferd. Unbewusst verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem seligen Lächeln.

Toman stieg ab, und der Wallach hob den Kopf, die Ohren aufmerksam nach vorn gerichtet. Das Pferd hatte bemerkt, dass sich noch jemand im Hof befand und schnaubte kräftig durch die Nüstern.

»Was hast du denn?« Toman tätschelte beruhigend den Hals seines treuen Gefährten.

»Verzeiht, junger Herr, ich wollte Euer Pferd nicht erschrecken«, sagte Helena, trat aus dem Schatten und legte dem Pferd die Hand auf die samtweiche Nase. Wie lange hatte sie schon kein Ross mehr gestreichelt. Sanft blies der Wallach durch die Nüstern, und Helena genoss den warmen Atem auf ihrem Gesicht.

»Oh, du bist es!« Toman schien regelrecht entzückt, sie zu sehen. »Was machst du denn hier draußen?«

Sie stammelte eine Antwort und hoffte, Toman würde nicht bemerken, wie sie rot wurde.

»Du brauchst mich nicht mit junger Herr ansprechen«, sagte er leise. Dann fasste er sich ein Herz. »Möchtest du wirklich zurück ins Kloster?«

»Natürlich, was denkst du denn?«, gab sie heftiger zurück, als sie wollte. »Die Nonnen sind gut zu mir gewesen, und außerdem, wo soll ich sonst hin?«

Sachte berührte er kurz ihre Wange, und Helena zuckte zurück, als hätte er sie geschlagen. Eine heiße Woge erfasste ihren Körper und ließ sie in Schweiß ausbrechen. Urplötzlich war die Erinnerung an Cuntz zurückgekehrt.

»Ich, ich …«, nun war es an Toman zu stammeln, »ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich wünschte nur, du würdest hierbleiben. Ich mochte dich vom ersten Augenblick an und …«

»Was willst du von mir? Du bist der Sohn eines reichen Kaufmanns, und ich bin nur ein armes Mädchen, das das Glück hatte, im Kloster eine Heimat zu finden. Ich habe kein Geld, meine Mutter ist tot, und mein Vater hat mich an einen Widerling verschachert«, brach es aus ihr heraus. »Und deshalb werde ich auch ins Kloster zurückkehren, wo mich niemand verletzen kann.«

Bevor Toman noch etwas sagen konnte, kam ein Knecht herbeigelaufen und nahm ihm Galen ab. »Verzeiht, junger Herr, ich musste erst die anderen Pferde versorgen.«

Helena nutzte die Gelegenheit, drehte sich um und verschwand eilig ins Haus. Ihre Wange fühlte sich immer noch an, als hätte Tomans Berührung sie verbrannt. Sie musste so schnell wie möglich aus Dilsberg verschwinden. Morgen würde sie den Rest des Weidenrindenpulvers herstellen und sich dann von der Familie verabschieden. Wie, wusste sie nicht, denn Hildburg Ostheim würde sie noch nicht gehen lassen wollen, dessen war sich Helena sicher. Vielleicht sollte sie einen Brief schreiben. Einfach wortlos verschwinden wollte sie nicht.

Zurück blieb ein verblüffter und sprachloser Toman. Was um alles in der Welt hatte sie schon in ihrem jungen Alter erleben müssen? Verschachert vom eigenen Vater. An einen Widerling. Am liebsten wäre er ihr nachgelaufen und hätte sie in seine Arme genommen, um sie zu trösten.

Helena hatte sich nach dem gemeinsamen Abendessen mit der Familie und Ritter Heinrich von Dirmstein schnell zurückgezogen. Wieso hatte sie Toman überhaupt von ihrem Vater erzählen müssen? Und warum verunsicherte er sie so, jedes Mal, wenn sie ihn sah? Sie wälzte sich hin und her, fiel in einen unruhigen Schlaf. Die bekannten Albträume, in denen Cuntz wieder einmal die Hauptrolle spielte, ließen sie spät in der Nacht schweißgebadet aufwachen. Sie konnte nicht wieder einschlafen, stand schließlich auf, warf sich einen Mantel über, den ihr Hildburg gegeben hatte, und schlich die Treppe hinunter. Sie wusste, wo sie Ruhe finden würde. Bei den Pferden.

Barfuß lief sie über den Hof, öffnete die Stalltür eine Handbreit und glitt hindurch. Die angenehme Wärme, die die Pferde verströmten, empfing sie wie eine Decke. Tief atmete sie den Stallgeruch ein. Die meisten Pferde lagen oder dösten im Stehen, vereinzelt konnte man das Mahlen der Zähne derjenigen Tiere hören, die ihr Heu malmten. Galen sah aus der Box, als sie auf ihn zuging. Ganz leise redete sie auf ihn ein, schob den Riegel zur Seite und schlüpfte hinein. Der Wallach schnupperte an ihren Haaren und blies ihr seinen Atem an die Wange, als sie sich an ihn lehnte. Das Pferd ließ sich nicht lange bei seinem Nachtmahl stören und knabberte weiter an seinem Heu, während Helena sich nicht rührte und die Wärme genoss. In der Nähe des Pferdes kam sie zur Ruhe, und sie schloss die Augen.

Wie lange sie so gestanden hatte, vermochte sie nicht zu sagen, als plötzlich ein dumpfer Laut an ihre Ohren drang. Jemand war in den Stall gekommen und hatte die Tür ins Schloss fallen lassen. Galen hob kurz den Kopf, schien aber nicht weiter beunruhigt und fraß weiter. Schritte näherten sich, und Helena drückte sich in eine Ecke und kauerte sich zusammen. Der Riegel der Boxentür wurde zurückgeschoben.

»Galen, kannst du auch nicht schlafen«, murmelte der nächtliche Besucher.

Helena erkannte Tomans Stimme und rührte sich nicht.

»Mein treuer Galen, du hast es gut. Bist zufrieden mit Hafer und Heu und nicht unglücklich verliebt. Helena ist so wunderschön und viel zu schade, um sich unter einer Kutte zu verstecken.« Toman strich seinem Pferd über den muskulösen Hals. »Du bist sehr hilfreich, Galen, es scheint dich nicht sonderlich zu beeindrucken, dass ich mich nach diesem Mädchen verzehre.« Ein trauriges Lachen entfleuchte dem jungen Mann.

Schließlich verließ er den Stall, und Helena konnte unbemerkt in ihre Kammer zurückkehren. An Schlaf war nicht zu denken, denn immer wieder gingen ihr Tomans Worte durch den Kopf.

In Dilsberg war nahezu kein Durchkommen mehr, als die kurfürstliche Familie in die Stadt einzog, gefolgt von einem großen Tross, bestehend aus den Jagdgästen, Wachsoldaten, unzähligen Dienern und Mägden, dem Hofbäcker, mehreren Köchen sowie dem Hundeführer mit seiner großen Hundemeute und zwei Falknern. Früh hatte Heinrich von Dirmstein mit seinem Knappen das Haus seines Gastgebers Caspar Ostheim verlassen, um rechtzeitig bei der Ankunft des Kurfürsten zur Stelle zu sein und sich unter die Jagdgäste zu mischen. Auch die Familie Ostheim, bis auf Toman, hatte sich nach dem Frühstück auf den Weg gemacht, um das Spektakel zu bestaunen. Sie standen nun in vorderster Reihe mit anderen reichen Bürgern und deren Familien.

 

»Seht nur«, raunte Hildburg ihren Töchtern und Helena zu, als die ersten Reiter in Sicht kamen. »Das ist der Erzbischof von Mainz, Konrad von Dhaun, neben ihm reitet der Fürstbischof von Worms, Friedrich von Domneck. Oh, und hier kommen die Brüder unseres Kurfürsten: die Pfalzgrafen Otto, Johann und Stefan.«

Hildburg nannte weitere Namen, die Helena genauso wenig sagten. Sie hörte kaum zu, sann sie doch auf eine Lösung, wie sie nach Lobenfeld zurückkehren konnte, ohne Hildburg vor den Kopf zu stoßen. Zu gern hätte sie sich auch bei Toman für ihr gestriges Verhalten entschuldigt. Er schien wirklich starke Gefühle für sie zu hegen, und Helena ging es umgekehrt genauso. Sollte sie wirklich ins Kloster zurück? Ja, es war die beste und einfachste Lösung. Trotzdem blieben Zweifel. Hätte sie sich gestern Nacht im Stall bemerkbar machen sollen? Vielleicht hätte er sie in seine Arme genommen und …

»Da kommt der Kurfürst!«, rief Adelheid aufgeregt und riss Helena aus ihren Gedanken.

Ludwig saß aufrecht im Sattel seines Rapphengstes, doch jeder, der genauer hinsah, konnte erkennen, dass es dem Kurfürsten von der Pfalz nicht gut ging. Fahl und blass, die Augen zusammengekniffen, als ob er so besser sehen könnte. Sein Leibarzt hatte prophezeit, Ludwig werde erblinden, und trotzdem hielt der Kurfürst nicht nur die Zügel seines Pferdes noch fest in der Hand. Auch wenn er seinen Bruder Otto schon mit vielen Regierungsangelegenheiten betraut hatte, gab er die Führung nicht auf.

Neben ihm ritt seine Erstgeborene, Prinzessin Mechthild. Stolz und vor Glück strahlend saß sie auf einem zierlichen Zelter. Es war das erste Mal, dass sie mit zur Jagd reiten durfte. Ihre Mutter Matilde war strikt dagegen gewesen, doch Ludwig hatte dem Betteln seiner Ältesten nachgegeben. Wie so oft. Mechthilds Mutter und ihre Brüder Wiggo und Fritz folgten den beiden in einer prunkvollen Kutsche. Den erst zwei Jahre alten Ruprecht hatte Kurfürstin Matilde mit der Amme auf Schloss Heidelberg gelassen, weil er kränkelte und sie ihm die Fahrt in der Kälte und die Aufregung nicht zumuten mochte.

Plötzlich waren Schüsse zu hören. Sie entstammten Hakenbüchsen, die zur Begrüßung des Kurfürsten von Soldaten der Veste abgeschossen wurden. Mechthilds Zelter erschrak und machte einen gewaltigen Satz zur Seite, die Prinzessin konnte sich nicht mehr halten und fiel aus dem Sattel. Ein Aufschrei ging durch die Menge, und Helena handelte blitzschnell. Sie stürzte zu Mechthild, packte sie und zog sie von der gepflasterten Straße, bevor sie unter die mächtigen Hufe der Kutschpferde hinter ihr geraten konnte. Schreckensbleich starrte Mechthild ihrer Retterin ins Gesicht.

»Habt Ihr Euch wehgetan, Prinzessin?«

Bevor die Kurfürstentochter noch etwas sagen konnte, waren Bedienstete zur Stelle und rissen das Kind aus Helenas Armen, das nun zu weinen begann, andere packten den Zelter am Zügel. Der ganze Tross kam zum Stehen, und alle betrachteten die Szene, die sich hier abspielte.

»Weg mit Euch! Fasst sie nicht an!«

Helena erhielt einen Stoß in die Rippen, strauchelte und fiel schmerzhaft auf die Knie. Dabei glitt das Lederbändchen mit dem Püppchen aus dem Ausschnitt ihres Kleides und baumelte vor ihrer Brust.

»Lasst mich los«, kreischte Mechthild mehr vor Zorn als vor Schmerz, den der unsanfte Sturz verursacht hatte, und strampelte heftig.

Inzwischen war auch Matilde aus der Kutsche gestiegen und scheuchte die Diener von ihrer Tochter weg, nahm sie schützend in ihre Arme. Der Kurfürst hatte Mühe, seinen tänzelnden Rappen zu kontrollieren, bis schließlich Heinrich von Dirmstein sich mit seinem Pferd neben ihn gesellte, was den Hengst zu beruhigen schien.

»Hab Dank, dass du so schnell zur Stelle warst«, wandte sich Kurfürstin Matilde an Helena, die mühsam auf die Beine kam und sich den Staub vom Kleid klopfte.

Helena deutete einen Knicks an, spürte, wie warmes Blut ihr Knie hinabrann, und senkte ehrerbietig den Kopf. Die dunkelroten Locken fielen dabei von ihren Schultern wie ein Schleier.

Matilde nahm ihre Tochter bei der Hand. »Du fährst den Rest des Weges in der Kutsche.« Ihr Ton ließ keine Widerrede zu. Doch bevor Mechthild ihrer Mutter folgte, drehte sie noch einmal den Kopf über die Schulter, um ihre Retterin anzusehen und ihr zuzuwinken. Ihr Blick glitt von den dunkelroten Haaren zu Helenas Busen und blieb an dem Püppchen hängen.

»Mutter, Mutter«, aufgeregt zerrte sie an Matildes Hand. »Seht nur! Das ist sie! Ihr habe ich mein Püppchen zugeworfen, wisst Ihr noch? Ich will ihr die Hand reichen.«

Matilde wechselte einen Blick mit ihrem Gemahl, der zustimmend nickte. Dann ging sie die wenigen Schritte gemeinsam mit Mechthild auf Helena zu.

»Du hast mein Geschenk noch«, Mechthilds Stimme wurde brüchig, »und du hast mich gerettet. Ich danke dir von ganzem Herzen.« Sie hielt ihre kleine behandschuhte Kinderhand Helena entgegen, die sie sanft in beide Hände nahm.

Helena ließ sich den Schmerz nicht anmerken, als sie vor dem Kind auf die Knie sank. »Ich habe es nie abgelegt, seit dem Tag, als Ihr mir es zugeworfen habt, Prinzessin Mechthild. Deus custodiat vos in omnibus viis vestra. Gott schütze Euch auf all Euren Wegen.«

Mechthilds Gesicht begann zu leuchten, als hätte jemand in ihrem Inneren eine Kerze angezündet. Sie wandte sich an ihren Vater. »Ich will, dass sie belohnt wird, Vater.«

Wenn Mechthild etwas unbedingt durchsetzen wollte, presste sie die Lippen aufeinander, runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen.

Kurfürst Ludwig, der das Geschehen nicht noch durch einen Streit mit seiner dickköpfigen Tochter in die Länge ziehen wollte, nickte knapp. »Komm heute Abend in die Veste und speise mit uns.« Damit wendete er sein Pferd, und der Tross setzte sich wieder in Bewegung. Helena war immer noch auf den Knien, als Mechthild in die Kutsche stieg. »Wie heißt du?«

»Helena, Prinzessin.«

Hildburg Ostheim war beinahe aufgeregter über die Einladung als Helena. Sie war mit ihr ins Haus zurückgekehrt, nachdem der Rest der Familie beschlossen hatte, sich noch weiter in der Stadt zu vergnügen. Wenn eine Jagdgesellschaft angekündigt war, kamen noch mehr Händler in die Stadt als sonst, vor allem diejenigen, die vorwiegend Geschmeide und Parfum anboten, denn nicht nur die Begleiterinnen der Jäger gaben gerne den einen oder anderen Gulden dafür aus. Caspar Ostheim war kein Geizkragen, wenn es um seine Töchter ging.

»Das Kleid ist hin, es muss erst einmal gewaschen werden«, sagte Hildburg leichthin, »du brauchst für heute Abend so oder so ein anderes. Adelheid hat genügend, also such dir etwas aus.«

Helena hob kurz den Rocksaum und begutachtete die Schürfwunde an ihrem Knie. Ihr Vorhaben, heute noch nach Lobenfeld zurückzukehren, hatte sie längst aufgegeben. Eine kurfürstliche Einladung schlug man nicht aus. So musste ihre Rückkehr in die wohltuende Ruhe des Klosters noch etwas warten. Und außerdem bekam sie vielleicht erneut Gelegenheit, mit Toman zu sprechen. Beim Frühstück war er zu ihrem Bedauern nicht zugegen gewesen.

»Das ist sehr freundlich von Euch …, dir, Hildburg.« Es fiel ihr noch ein wenig schwer, die ältere Frau so vertraut anzusprechen. Am liebsten hätte sie gefragt, wo Toman steckte, doch sie biss sich auf die Zunge. Es wäre allzu offensichtlich, dass sie ihr Herz für den Sohn der Familie entdeckt hatte. Und eigentlich hatte sie sich bereits entschieden, ins Kloster zurückzukehren.

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