Die Erleuchtung der Welt

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»Verzeiht, junger Herr, die Hitze …«, murmelte sie.

»Ihr habt meine Frage nicht beantwortet«, erwiderte er belustigt. »Ihr seid gerannt, als wäre buchstäblich der Teufel hinter Euch her.«

»Nur ein paar Wildschweine«, lächelte sie scheu. »Ich muss zurück in die Stadt. Ein schwerkrankes Mädchen benötigt meine Hilfe.«

»Toman Ostheim«, stellte sich der Reiter vor, »Ihr seid schneller, wenn ich Euch mit auf mein treues Pferd nehme«, bot er ihr an.

Ein verlockendes Angebot, doch Helena schlug es aus. »Habt Dank, aber es schickt sich nicht für eine Laienschwester, zu einem Fremden aufs Pferd zu steigen. Ich gehe zu Fuß. Gehabt Euch wohl, Toman Ostheim.«

Festen Schrittes folgte sie dem Weg bergauf. Toman ritt neben ihr her.

»Es schickt sich auch nicht, den Schleier abzunehmen«, stichelte er gutmütig. »Kommt schon, niemand wird Euch bemerken. Denkt an das kranke Kind. Ich setze Euch in der Nähe des Stadttores ab, dann könnt Ihr den Rest des Weges zu Fuß gehen«, erneuerte er sein Angebot und starrte unverwandt auf ihren Schleier, als könne er diesen mit seinen Blicken durchdringen, um ihr Haar noch einmal zu bewundern.

Helena ging weiter, sah stur auf den Weg, der immer steiler und anstrengender wurde. Ihre Beine wurden müde, vielleicht sollte sie das Angebot doch annehmen. Er schien ein ehrlicher Kerl zu sein.

»Nun gut, Ihr habt mich überzeugt.«

Toman Ostheim grinste, hielt sein Pferd an, reichte ihr seine rechte Hand, fasste mit der linken beherzt unter Helenas Achsel und hob sie vor sich in den Sattel. Helena hielt die Luft an, als Toman seinen Arm um sie schlang. Dann ließ er sein Pferd in einen leichten Galopp fallen.

Toman genoss das Gefühl, wie sein Arm die schmale Körpermitte des Mädchens umfing und dachte mit Bedauern daran, dass sie ihr Leben Gott widmen wollte.

Auch Helena gestand sich ein, sich in Tomans Nähe wohl zu fühlen. Seltsam, es störte sie ganz und gar nicht, wie er sie umschlungen hielt und ihren Rücken an seine Brust presste. Im ersten Augenblick, als er ihr so nahe gekommen war, war die Erinnerung an Cuntz zurückgekehrt und hatte ihr Angst eingeflößt. Doch diese war schnell einem neuen Gefühl gewichen. Fast fühlte sie sich geborgen.

Zu schnell erreichte Galen, Tomans Pferd, die Hügelkuppe, und abseits des Stadttores ließ der junge Mann Helena aus dem Sattel gleiten.

»Habt Dank, Toman Ostheim«, sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln, das dessen Herz schneller schlagen ließ.

»Verrätst du mir deinen Namen und welchem Kloster du angehörst?«, schlug er einen vertraulichen Ton an.

»Helena. Ich gehöre den Zisterzienserinnen des Klosters Lobenfeld an. Nun muss ich mich eilen, lebt wohl.«

»Leb wohl, Helena. Du solltest dir gut überlegen, ob du wirklich Nonne werden willst«, meinte er frech und ließ sein Pferd in einen flotten Trab fallen. »Du bist viel zu hübsch, um dich unter Habit und Schleier zu verstecken«, rief er ihr über die Schulter hinweg zu.

Helena errötete und sah ihm hinterher, bis er durch das Stadttor verschwunden war.

»Wo hast du denn so lange gesteckt?«, fragte Schwester Katharina vorwurfsvoll.

»Ich musste den Berg hinunter bis zu den Wiesen, um Spitzwegerich zu finden«, erwiderte Helena. »Und am Waldrand habe ich Schlehen entdeckt und davon etwas mitgebracht.«

Von ihrer Begegnung mit dem jungen Toman erzählte sie nichts.

»Eil dich und bereite einen Sud aus Spitzwegerich und Weidenrinde«, wies die Nonne sie an, die in der Zwischenzeit das Bein des kleinen Jacob geschient und Annas Augen mit einem Umschlag aus Augentrost bedeckt hatte. Schwester Katharina hoffte, dass sich nicht schon andere Kinder angesteckt hatten. Aber sehr wahrscheinlich war es bereits zu spät.

Helena tat wie ihr geheißen und kehrte nach kurzer Zeit mit dem dampfenden Sud zurück. Als er etwas abgekühlt war, hob sie vorsichtig Annas Kopf und flößte dem Kind die Arznei ein. Während sie anschließend gemeinsam mit Katharina nach weiteren Kindern sah, die der Hilfe der heilkundigen Schwestern bedurften, dachte sie an den gut aussehenden Reiter und schämte sich beinahe des Gefühls, das sich ihrer dabei bemächtigte. Sie hätte ewig so weiterreiten können.

»Helena! Was machst du denn da?«, riss Schwester Katharina sie aus ihren Gedanken.

Anstatt die Johanniskrautsalbe nur auf die einzelnen, entzündeten Hautstellen am Rumpf eines Jungen aufzutragen, hatte sie nahezu den gesamten Oberkörper eingesalbt. Sie murmelte eine Entschuldigung, zog dem Jungen das Hemdchen wieder über den Körper und widmete sich einem anderen Kind, das eine eitrige Wunde am Arm hatte.

Zwei Stunden vor Anbruch der Dämmerung machten sie sich auf den Rückweg nach Lobenfeld. Schwester Innocentia war am späteren Nachmittag mit den gewünschten Waren zurückgekehrt und hatte mitgeholfen, die Kinder zu versorgen. Kunibert, der in einer nahen Schänke auf die drei Schwestern gewartet hatte, erzählte während der Heimfahrt, was er dort aufgeschnappt hatte.

»Der Kurfürst ist unheilbar krank, heißt es. Und um sein Augenlicht ist es wohl auch nicht gut bestellt. Er soll kaum noch etwas sehen können. Seit er vor zwei Jahren von seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land zurückgekehrt ist, geht es ihm wohl immer schlechter. Wer weiß, wie lange er noch zu leben hat.«

»Er ist auch an der Seele erkrankt«, seufzte Schwester Katharina, »den Tod seines Sohnes Ruprecht vor drei Jahren hat er nie verwunden.«

Kunibert nickte bedächtig, dann erzählte er, was ihm im Wirtshaus sonst noch zu Ohren gekommen war. Er mochte schreckliche Geschichten und war Klatsch und Tratsch nicht abgeneigt.

»Die Leute erzählen, letzten Monat sei ein toter Junge aus dem Neckar gefischt worden …«

»Bestimmt hat er den Fluss unterschätzt«, unterbrach ihn Schwester Innocentia, »das passiert immer wieder.«

»Niemand weiß, wessen Kind das war. Bedenkt man die Strömung, kann es von überallher stammen. Vielleicht hat es jemand von Bord eines Schiffes geworfen, wer weiß. Und die Aale sind hungrig …«

»Schweig still, Kunibert«, herrschte Schwester Katharina den Bauern an, der die grünliche Gesichtsfarbe ihrer Mitschwester bei Erwähnung der Aale nicht entgangen war.

Der Bauer zog eine beleidigte Miene und hieb den Ochsen mit seiner Fuhrpeitsche auf die breiten Rücken, damit sie schneller gingen. Doch die Tiere waren erschöpft von der Hitze des Tages, und so kamen sie erst zur Vesper im Kloster Lobenfeld an. Müde nahm Helena mit den Nonnen das gemeinsame Abendessen ein – Brot, Käse und verdünnten Wein – und nach der Komplet streckte sie sich auf ihrem Lager aus. Doch der Schlaf wollte lange nicht kommen. Immer wieder geisterte der junge Reiter in ihrem Kopf herum. Toman Ostheim. Lautlos sprach sie seinen Namen vor sich hin. Ob sie ihn jemals wiedersehen würde? Schließlich schlief sie ein, und ihre Träume wurden beherrscht von haselnussbraunen Augen und einem charmanten Lächeln.

1429
Dilsberg, November

Helena fuhr nun regelmäßig mit ins Waisenhaus, sie wollte so viel wie möglich von Schwester Katharina lernen, und wo hatte sie dazu mehr Gelegenheit als in Dilsberg. Verstauchungen, gebrochene Knochen, Hautausschläge, Bauchschmerzen, Durchfall, Husten. Jedes Mal, wenn die Schwestern das Waisenhaus aufsuchten, gab es viel zu tun. Die kleine Anna war wieder gesund geworden, aber zwei andere Kinder, die sich angesteckt hatten, waren gestorben.

Helena fand Freude darin, die richtigen Arzneien auszusuchen und zu sehen, wie es den Erkrankten besser ging, wenn sie eine Woche später nach ihnen sah. Meistens jedenfalls. Manches Mal nützten auch Salben, Tränke und Gebete nichts, konnten allenfalls die Schmerzen etwas lindern, bevor eines der Kinder den Kampf gegen Gevatter Tod verlor.

In Dilsberg hatte es sich längst herumgesprochen, dass barmherzige Zisterzienserinnen das Waisenhaus aufsuchten, um die kranken Kinder zu versorgen. Und so kamen immer häufiger Bewohner der Stadt zur Pforte des Waisenhauses in der Hoffnung, auch ihre Leiden würden kuriert werden. Oftmals mussten die Schwestern die Menschen wegschicken, denn die Arzneien reichten kaum für die Waisenkinder aus. Und bei jedem Besuch in der Stadt hoffte Helena insgeheim, Toman wiederzusehen, doch sie bekam ihn nie zu Gesicht.

Seit Tagen regnete es nahezu ununterbrochen, und die Straßen waren schlammig geworden. Kunibert hatte erst nicht fahren wollen, aus Angst irgendwo mit dem Ochsengespann stecken zu bleiben, doch Schwester Katharina hatte an sein Gewissen appelliert, die Kinder würden ihre Hilfe brauchen. Kunibert hatte gemurrt, aber schließlich doch die Tiere angeschirrt. Die Fahrt hatte deutlich länger gedauert, Kälte und Nässe hatten den Reisenden und den Ochsen zugesetzt. Doch endlich erreichten sie die Stadt.

»Sieh nur, Helena«, meinte Schwester Katharina, als das Waisenhaus in Sicht kam, »es werden immer mehr Menschen, die um unsere Fürsorge bitten.«

Heute waren sie nur zu zweit unterwegs, denn im Kloster wurde jeder gebraucht. Es galt genügend Nahrungsmittel haltbar zu machen, um auf den bevorstehenden Winter vorbereitet zu sein. So wurde Fisch eingesalzen, Fleisch gepökelt, Kraut in Essig gelegt, Äpfel, Birnen und Quitten gedörrt, Kräuter getrocknet.

Vor der Pforte des Waisenhauses hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt.

»Sie bedürfen alle unserer Hilfe. Wir können sie doch nicht immer ablehnen. Irgendetwas müssen wir doch tun!«, rief sie lauter als beabsichtigt. In ihrer Stimme schwang Verzweiflung mit.

»Wir können uns nicht aller annehmen, das weißt du. Dazu sind es zu viele. Die Menge an Salben und Elixieren reicht nicht aus, und die Kinder haben Vorrang«, beschied ihr Katharina.

 

Kunibert hielt die Ochsen an und half den Schwestern beim Absteigen. Kaum hatten sie die ersten Schritte in Richtung Pforte getan, wurden sie von den Kranken bedrängt.

»Barmherzige Schwestern, helft mir«, flehte ein alter Mann, dessen rechte Wange eine einzige, hässliche, schwärende Wunde war.

Er hielt Helena an ihrem schwarzen Mantel fest, brachte sein Gesicht nahe an ihres. Der Gestank der Wunde nahm ihr beinahe den Atem. Erschrocken fuhr sie zurück, kalter Schweiß brach hervor, weckte das Festhalten doch die Erinnerung an Cuntz. Beinahe hätte sie nach der Hand des Alten geschlagen, besann sich aber, schließlich wollte er ihr nichts antun. Sie musste endlich darüber hinwegkommen, nicht jeder Mann führte etwas Böses im Schilde. Sanft machte sie sich von ihm los.

»Wir müssen erst nach den Kindern sehen, komm später wieder, dann werde ich sehen, was ich tun kann, um dir zu helfen«, raunte sie ihm zu in der Hoffnung, Schwester Katharina würde nichts mitbekommen.

Der Alte nickte unmerklich und verschwand ohne ein weiteres Wort. Die beiden gottesfürchtigen Frauen bahnten sich ihren Weg durch die Leute, wiesen sie freundlich, aber bestimmt ab. Widerstrebend, teils murrend und zeternd, manche auch weinend, ließen die Menschen sie durch.

Der nasskalte Spätherbst hatte den meisten Kindern Husten und Schnupfen beschert, viele hatten ein leichtes Fieber dazu bekommen. Mehrere husteten aber so stark, dass sie sich erbrachen. Diesen verabreichte Helena eine Mischung aus Fettkraut, Wegerich, Ehrenpreis und Bertramwurzel. Die übrigen bekamen ein Gemisch aus Veilchen, Lungenkraut und Huflattich. Schwester Katharina wusch jede Menge Köpfe mit Essigwasser, um den Läusen wenigstens etwas Einhalt zu gebieten. Nach Stunden gönnten sie sich eine Pause, aßen gemeinsam eine einfache Suppe, die die Vorsteherin ihnen in einen kleinen Raum hatte bringen lassen.

»Helena«, begann Katharina bedächtig, »dem alten Mann mit der eitrigen Wunde helfen zu wollen, ist aller Ehren wert, aber es ist dir wohl bewusst, dass er es weitererzählen wird. Was denkst du, wird dann passieren? Es werden noch mehr Menschen kommen. Sie murren jetzt schon, wenn wir sie abweisen. Einen Bader können sie nicht bezahlen, sonst würden sie zu diesem gehen. Aber wir können unsere Arznei auch nicht umsonst hergeben.«

Sie löffelte ihre Suppe, kaute langsam ihr Brot mit den wenigen noch verbliebenen Zähnen.

»Die Wunde sah so schrecklich aus, er muss fürchterliche Schmerzen haben. Ich konnte einfach nicht anders, als ihm zu versprechen, ich würde ihm helfen«, antwortete Helena zerknirscht. Wie hatte sie nur glauben können, Schwester Katharina hätte nichts mitbekommen.

»Du bist ganz blass geworden, als der Mann deinen Mantel angefasst hat. Vielleicht möchtest du mir nach all der Zeit erzählen, was dir geschehen ist, bevor du zu uns ins Kloster gelangtest.«

Weder ihren Augen noch ihrem scharfen Verstand schien irgendetwas zu entgehen.

Helena leerte ihren Teller, aß den letzten Kanten Brot und beschloss, sich endlich alles von der Seele zu reden. Fast alles. Sie würde weder Namen nennen, noch woher sie stammte. Die Nonne schwieg, nahm nur Helenas Hände in die ihren, hielt sie sanft fest. In ihren gütigen Augen schimmerte es feucht. Als Helena stumm weinend geendet hatte, stand die alte Frau auf, kam um den Tisch herum und strich ihr sanft über die Wange. Helena blieb sitzen und drückte ihr Gesicht für einen Augenblick an den Körper der Nonne.

»Mein armes Mädchen, es ist eine schreckliche Welt da draußen, deshalb ist es gut, dass du nun hinter den schützenden Mauern des Klosters leben kannst. Gott hat dich zu uns geführt, und er hat gut daran getan. Mein Leben nähert sich dem Ende, und ich werde glücklich in der Gewissheit sterben, eine würdige Nachfolgerin in den Heilkünsten gefunden zu haben.«

Entsetzt sah Helena zu ihr auf. »Aber, liebste Schwester Katharina, Ihr werdet noch viele Jahre vor Euch haben! Redet nicht vom Tod, ich möchte noch so vieles von Euch lernen.«

Katharina schmunzelte. »Ich habe nicht gesagt, ich werde morgen oder übermorgen das Zeitliche segnen. Und jetzt lass uns nach den Brüchen und Verletzungen der letzten Wochen sehen.«

Bei einem Kind war die Wunde brandig geworden. Helena hatte sie gesäubert und einen Salbenverband angelegt. Der Vorsteherin schärfte Schwester Katharina ein, täglich den Verband zu wechseln. Sollte sich der Zustand verschlimmern, müsse ein Bader den Fuß abnehmen. Nachdem Schwester Katharina der Vorsteherin noch einige Tränke und Salben dagelassen hatte, traten die Ordensschwestern hinaus auf die Straße, wo sie die feuchte Novemberkälte empfing. Einer der älteren Waisenjungen war bereits vorausgelaufen, um Kunibert aus der nahen Schänke zu holen, wo er sich die Zeit vertrieb.

Der Alte von vorhin war nirgends zu sehen, und Helena stieg hinter Schwester Katharina auf den Ochsenkarren. Die Schwestern legten sich wollene Decken um die Schultern, denn der Wind ließ die Kälte doppelt so schlimm erscheinen. Wenigstens hatte es für den Augenblick zu regnen aufgehört. Helena schlotterte und zog die Decke noch enger um sich. Kunibert erschien nicht mehr ganz nüchtern, wie Schwester Katharina missbilligend feststellte, und kletterte umständlich auf den Kutschbock. Gut, dass die Ochsen den Weg nach Hause allein fanden.

Am Ende der letzten Gasse, die sie entlangrumpelten, trat eine Gestalt aus dem Schatten.

»Schwester!«, rief eine heisere Stimme. »Ihr wolltet mir helfen.«

»Kunibert, halt die Ochsen an«, bat Helena. Sie hatte die Stimme erkannt, sie gehörte dem Mann mit der schrecklichen Wunde im Gesicht.

Mit einem übertriebenen »Hooooh«, als ob er anstatt der Ochsen zwei feurige Hengste angespannt hätte, brachte der Bauer den Karren zum Stehen. Helena schlug die Decke zurück, öffnete einen der Töpfe zu ihren Füßen, nahm einen Holzspatel, tauchte ihn hinein und bestrich mit dem Inhalt des Töpfchens ein Stück Stoff.

»Hier«, sie reichte den Stofffetzen dem alten Mann.

»Leg ihn auf die Wunde. Der Honig wird sie heilen lassen.«

Dankbar sah der Alte zu ihnen hinauf. »Habt Dank, barmherzige Schwestern. Gott schütze Euch.«

Aus einem Beutel fischte er einige Münzen und hielt sie Helena hin. »Na, nun nehmt schon«, forderte er sie auf, als er ihr Zögern bemerkte.

Helena schloss seine Hand mit der ihren. »Behalte dein Geld. Ich möchte nur eine Auskunft.«

Gespannt sah der Mann sie an und schob die Münzen wieder ein. »Wenn du Geld hast, wieso gehst du nicht zum Bader, um dich behandeln zu lassen?«

»Der taugt nichts. Glaubt mir. Ich war bei ihm, weiß nicht, was er mir ins Gesicht geschmiert hat, aber seither ist es schlimmer geworden. Und euch Nonnen traue ich mehr, schließlich seid Ihr nicht nur in den Heilkünsten bewandert, sondern hinter Eurem Tun und Wirken steht der Allmächtige. Hinter diesem Bader steht er auf jeden Fall nicht, das schwör ich Euch«, fügte er grinsend hinzu. Damit drehte er sich um und verschwand in den Schatten, aus dem er aufgetaucht war.

Kunibert ließ die Ochsen anziehen, der Karren holperte durch das Tor, und kurz darauf begann es erneut, in Strömen zu regnen. Am Fuße der Anhöhe, auf welcher die Burgfeste errichtet worden war, kam ihnen ein einsamer Reiter entgegen, der die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht gezogen hatte. Als er auf Augenhöhe mit ihnen war, begegneten sich seine und Helenas Blicke. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie, und ein seltsames Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Ein regelrechtes Kribbeln, das sie ganz und gar durchdrang. Endlich sah sie ihn wieder. Toman. Wie oft hatte sie in den letzten Wochen seinen Namen lautlos vor sich hergesagt, sich die Silben auf den Lippen zergehen lassen. Ein Lächeln breitete sich auf Toman Ostheims Gesicht aus. Auch er hatte sie erkannt und zügelte sein Pferd.

»Ehrenwerte Schwestern«, sagte er, »darf ich fragen, wohin Ihr bei diesem Wetter wollt? Es ist gefährlich hier draußen.«

»Eure Sorge ehrt Euch, junger Herr«, erwiderte Schwester Katharina. »Wir wollen zurück zum Kloster Lobenfeld. Wir haben den Weg hierher gefunden, also schaffen wir es auch wieder zurück.«

»Ich glaube nicht, dass Ihr bis nach Lobenfeld kommt. Viele Bäche sind über die Ufer getreten. Ich wollte nach Heidelberg, bin aber nicht weit gekommen und musste umkehren. Der Neckar ist aus seinem Bett gekommen und hat die Wiesen überflutet. Kehrt besser um und bleibt die Nacht über in Dilsberg«, riet Toman Ostheim beunruhigt.

Kunibert sah über die Schulter zu Schwester Katharina. »Vielleicht hat er recht, und wir sollten wirklich besser umkehren. Wenn es so weiter gießt, werden die Ochsen irgendwann im Schlamm stecken bleiben. Es war schon auf der Herfahrt schwer für sie durchzukommen.«

Während Schwester Katharina mit sich haderte, wie sie sich entscheiden sollte, tauschten Helena und Toman weitere Blicke. Die Kälte schien einer wohligen Wärme zu weichen. Sie rief sich die Erinnerung ins Gedächtnis, wie Toman sie im Arm gehalten hatte. Wie schön wäre es, sie könnte dieses Gefühl noch einmal erleben und …

»Unsere Äbtissin wird in großer Sorge sein, wenn wir nicht zurückkehren«, riss die Nonne Helena aus ihren unkeuschen Gedanken. »Lobenfeld liegt in einer anderen Richtung, vielleicht sind die Wege und Straßen dorthin nicht ganz so schlecht wie nach Heidelberg. Wir fahren weiter. Habt Dank, junger Herr.«

Toman Ostheim sah enttäuscht aus, schenkte Helena noch einen besorgten letzten Blick, verabschiedete sich und galoppierte hügelan. Kunibert ließ die Fahrleinen auf die Ochsenrücken klatschen und zog seinen Hut tiefer ins Gesicht.

Die Wege wurden zunehmend schlammiger, und die Ochsen keuchten schwer, als sie sich mühten, den Karren durch den tiefen Morast zu ziehen. Plötzlich ging es nicht mehr weiter, der Wagen steckte fest. Kunibert ließ die Peitsche auf den Rücken der Tiere sausen. Doch nur ein klägliches Muhen drang aus ihren Kehlen.

»Weiter, ihr verdammten Faulpelze«, schrie er die erschöpften Tiere an. Bevor er ein weiteres Mal zuschlagen konnte, fiel Helena ihm in den Arm.

»Nicht! Die Tiere sind müde, sie können nicht mehr! Es gibt keinen Grund, sie zu schlagen!«

»Und zu fluchen auch nicht«, rügte Schwester Katharina.

Kunibert ließ die Peitsche sinken, murmelte eine Entschuldigung, sprang vom Kutschbock, um sich den Wagen genauer anzusehen, und versank fast bis zu den Knien im Schlamm. Die Räder waren bis knapp unterhalb der Radnaben abgesackt. Niemals würden die Ochsen den Karren herausziehen können, auch dann nicht, wenn alle mithalfen.

»Schwester Katharina«, brüllte Kunibert, um den herunterprasselnden Regen zu übertönen, »ich muss die Ochsen ausspannen. Wir müssen zu Fuß weiter!«

Die Frauen kletterten von dem Gefährt, und Kunibert schirrte die Tiere aus.

»Und wo sollen wir jetzt hin?«, fragte Schwester Katharina. »Hier gibt es weit und breit nichts, wo wir Schutz finden könnten.«

Kunibert zuckte mit den Schultern. »Am besten, wir versuchen zurück nach Dilsberg zu gehen.«

»Und was wird mit dem Karren und vor allem mit unseren Arzneien?«

Helena nahm Kunibert einen der Ochsen ab, sanft rieb sie dem Tier über die breite Stirn. Die Zugtiere behielten lediglich das Joch an und eine starke Kette um den Hals, den Rest des Geschirrs würde Kunibert zurücklassen müssen.

»Entweder Ihr nehmt mit, was Ihr tragen könnt, oder die Sachen bleiben hier. Wir haben keine andere Wahl.«

Zähneknirschend sah die Nonne ein, dass der Bauer recht hatte. Sie kletterte zurück auf die Ladefläche und nahm zwei Lederbeutel, die die wertvollsten Arzneien beinhalteten. Wenigstens einen kleinen Teil wollte sie versuchen zu retten.

Der Weg zurück nach Dilsberg wurde immer beschwerlicher, Menschen und Tiere quälten sich Schritt für Schritt durch den Schlamm. Längst waren sie nass bis auf die Haut und froren erbärmlich. Bestürzt stellten sie fest, dass der Langwiesenbach sich in einen reißenden Strom verwandelt hatte. Kunibert trieb alle zur Eile an.

»Wir müssen so schnell wie möglich über die Brücke, lange wird sie diesen Fluten nicht mehr standhalten!«

Helena ging als Erste, zerrte einen der Ochsen neben sich her, der laut zu muhen begann.

»Nun komm schon!«

Doch das Tier blieb plötzlich stocksteif stehen, weigerte sich, noch einen weiteren Schritt zu machen.

»Lasst ihn los«, brüllte Kunibert, der ihr mit dem zweiten Ochsen folgte, »geht weiter, ich treibe ihn von hinten an!«

Helena eilte über die Brücke, den Blick fest auf das andere Ufer geheftet, denn der Anblick der schäumenden Wassermassen ängstigte sie fast genauso wie den Ochsen. Erleichtert erreichte sie die andere Seite, kurz danach folgten die Zugtiere und Kunibert. Nun war nur noch Schwester Katharina auf der Brücke, die Lederbeutel an sich gepresst. Vorsichtig einen Fuß vor den andern setzend, tastete sie sich auf den glitschigen Holzbohlen entlang. Plötzlich durchbrach ein ohrenbetäubendes Krachen das Rauschen des Regens, als einer der Brückenpfeiler unter dem Druck der Wassermassen zersplitterte.

 

»Katharina! Wirf die Sachen weg, schnell!«, schrie Helena aus Leibeskräften. Für Förmlichkeiten war jetzt keine Zeit.

Doch es war zu spät. Der zweite Pfeiler brach, und der tosende Bach riss die Brücke samt Schwester Katharina mit sich. Entsetzt sahen Helena und Kunibert, wie die Nonne die Arme nach oben reckte, doch die schwere Kleidung zog sie unerbittlich unter Wasser. Helena und der Bauer rannten am Ufer entlang, während Schwester Katharina verzweifelt um ihr Leben kämpfend wieder auftauchte. Ein umgefallener Baum ragte aus dem reißenden Strom, und Helena sah, wie die Nonne einen der Äste zu fassen bekam. Lange würde die alte Frau sich dort nicht halten können, sie war ohnehin schon am Ende ihrer Kräfte nach dem Marsch durch den Schlamm.

»Kunibert! Los, wir müssen sie retten!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, riss sie sich den Schleier vom Kopf, schlüpfte in Windeseile aus ihrem schwarzen Mantel und sprang in das tosende Wasser. Sie hangelte sich mit beiden Händen an den Ästen der alten Ulme voran, um Schwester Katharina zu erreichen, spürte, wie das eiskalte Wasser ihre Füße und Hände nahezu taub werden ließ.

»Halte durch, Katharina, ich bin gleich bei dir!«

Die aufgerissenen Augen der alten Frau, dunkel vor Todesangst, starrten sie an. Ihre blauen Lippen bewegten sich, aber Helena konnte nicht verstehen, was sie sagte. Kunibert indes hatte sich eine der Führketten der Ochsen geschnappt und robbte bäuchlings auf der Ulme entlang.

»Greift Euch die Kette, Helena«, schrie er und warf ihr das eine Ende zu, das platschend neben ihr im Wasser landete.

Helena bekam die Kette zu fassen und hangelte sich weiter, bis sie ihre Mitschwester erreicht hatte.

»Du musst dich an der Kette festhalten, Kunibert zieht dich heraus. Schaffst du das?«

Katharina nickte schwach. Helena erkannte, dass die alte Frau keine Kraft mehr besaß, um sich an die Kette zu klammern. Auch ihre eigenen Kräfte schwanden allmählich. Die Anstrengung, sich mit nur einer Hand festzuhalten, während sie mit der anderen die Kette kurzerhand durch Katharinas Gürtel schlang, war gewaltig. Kunibert thronte nun fast über ihnen, saß rittlings auf der Ulme und beugte sich so weit hinunter, um das Kettenende zu erreichen, das Helena ihm entgegenreckte. Mit aller Kraft zog und zerrte er die Nonne zu sich hinauf, die von unten durch Helena mit einer Hand geschoben wurde. Endlich lag Schwester Katharina keuchend oben.

»Gebt mir Eure Hand«, brüllte Kunibert und neigte erneut seinen Oberkörper nach unten, um Helena zu helfen.

Ihre Hände berührten sich, hakten sich gegenseitig an den ersten Fingergliedern fest.

»Haltet durch!«

Kunibert griff mit der anderen Hand nach und bekam Helenas Handgelenk zu fassen. Im selben Augenblick schwappte eine große Welle über Helena, und der Bauer spürte, wie das Mädchen fortgerissen wurde. Er selbst hatte Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Verzweifelt starrte er auf die Stelle, an der sich Helena noch vor einem Lidschlag befunden hatte, und hegte die leise Hoffnung, gleich den dunkelroten Haarschopf auftauchen zu sehen. Doch alles, was er erblickte, war das schlammbraune Wasser des Baches. Auch flussabwärts war nichts zu erkennen, nur tanzende Zweige von mitgerissenen Sträuchern und Bäumen. Kunibert konnte nichts mehr für das Mädchen tun.

»Schafft Ihr es, auf dem Stamm zurück ans Ufer zu rutschen?«, wandte er sich an die Nonne, die sich seit ihrer Rettung nicht mehr gerührt hatte.

Ein schwaches Nicken war die Antwort, und Katharinas Lippen formten lautlos Helenas Namen. Kunibert schüttelte stumm den Kopf, und die Nonne schämte sich ihrer heißen Tränen nicht. »Hätte sie sich doch nur selbst gerettet, anstatt mir zu helfen. Ich bin eine alte Frau, und der Herr wird mich so oder so bald zu sich rufen. Und Helena war noch so jung. Warum musste sie ihr Leben lassen, Herr?«, haderte sie mit ihrem Schöpfer. Sie fühlte eine unendliche Schuld auf ihrer Seele, denn nur durch ihre Entscheidung, den Rückweg zum Kloster anzutreten, waren sie alle überhaupt erst in Gefahr geraten.

Helena erwachte aus ihrem Fieberwahn, in dem abwechselnd Cuntz sie durch einen nicht enden wollenden Wald verfolgte, die Äbtissin mit ausgestrecktem Zeigefinger auf sie zeigte und alle Schwestern sich von ihr abwandten. Das Erste, was ihre Augen erblickten, war eine von Balken gestützte Zimmerdecke.

»Wo bin ich?«, fragte sie sich stumm.

Auf jeden Fall war dies nicht ihre Kammer im Kloster. Dann kehrte die Erinnerung an das Unwetter zurück. Ihre Hand tastete unwillkürlich nach dem Püppchen um ihren Hals, erleichtert und in gleichem Maße erstaunt stellte sie fest, dass es noch an dem Bändchen um ihren Hals hing.

Sie richtete sich auf, bewunderte das feine Bett, in dem sie lag, das weiche Kissen und die warme Decke, befühlte das feine Leinen. Helena schlug die Decke zurück und sah an sich hinunter. Jemand hatte ihr ein schlichtes weißes Gewand angezogen, das bis zu den Knöcheln reichte. Neben dem Bett stand eine Waschschüssel auf einem schmiedeeisernen Dreibein. Durch zwei kleine Fenster fiel trübes Tageslicht ins Zimmer. Die rechte Wand wurde durch eine hölzerne Tür unterbrochen. Helena schwang die Beine aus dem Bett und stand auf, woraufhin sie von einem Schwindel erfasst wurde. Vorsichtig sank sie wieder auf die Matratze und zog die Decke über sich.

Wenig später kam eine ältere Magd ins Zimmer.

»Oh, du bist aufgewacht«, freute sie sich. »Hast du Hunger?«

Tatsächlich grummelte Helenas Magen hörbar, und sie nickte.

»Wo bin ich?«, fragte sie scheu.

»Du bist im Hause des Kaufmanns Caspar Ostheim in Dilsberg«, gab die Magd freundlich Auskunft. »Warte, ich bringe dir gleich eine Suppe.«

Helena setzte sich auf und stopfte sich das Kissen in den Rücken. Ostheim? War das etwa Tomans Vater? Ihr Herz machte einen kleinen Sprung, als sie an den jungen Mann dachte. Aber wie war sie überhaupt hier gelandet? Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war, wie Kunibert versucht hatte, ihr aus dem reißenden Bach zu helfen.

Die Magd erschien wieder, diesmal mit einem hölzernen Tablett, auf dem ein dampfender Teller Suppe stand, die köstlich roch. Neben dem Teller lag ein dicker Kanten Brot. Vorsichtig stellte sie das Tablett auf der Decke über Helenas Beinen ab.

»So, nun iss und pass auf, dass du nichts verschüttest«, mahnte sie, bevor sie Helena allein ließ.

Herzhaft löffelte Helena die Hühnerbrühe, deren Fettaugen golden schillerten und in der ordentlich Fleischstückchen neben klein gehacktem Gemüse schwammen. Den letzten Rest tunkte sie mit dem Stück Brot auf. Sie nahm das Tablett und packte es neben sich, und versuchte noch einmal aufzustehen. Diesmal blieb der Schwindel aus, und auf noch etwas unsicheren Beinen ging sie zu einem der Fenster. Caspar Ostheim musste reich sein, denn die Fenster waren verglast. Sie öffnete es, und die kalte Luft, die ihr entgegenschlug, ließ sie das Nachtgewand am Hals zusammenraffen. Offenbar befand sie sich im zweiten Obergeschoss, stellte sie fest, als sie sich hinauslehnte und sich umsah. Stattliche Bürgerhäuser säumten die Straße, und sie konnte sogar einen Blick auf die Mauer und die dahinterliegende Veste erhaschen. Helena fröstelte, schloss das Fenster, nahm das Tablett vom Bett und stellte es auf den Boden. Dann schlüpfte sie schnell unter die warme Decke, zog sie bis über die Schultern und schloss die Augen. Die wenigen Schritte zum Fenster und zurück hatten sie erschöpft.