Die Seele

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Copyright © Claudius Verlag, München 2021

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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München

Umschlagbild: © akg-images / Erich Lessing

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2021

ISBN 978-3-532-60082-5

INHALT

Cover

Titel

Impressum

In einem Wort die ganze Welt

Vom Erlöschen der Seele

Die Spur der Worte

Selbstgespräche

Die Ausbeutung der Seele

Die Sprache der Computer

Menschen haben Seelen und keinen Code

Dataismus – die neue Gnosis

Verteidigung des Menschen

Lob des Körpers

Ein Wort macht eine lange Reise

Die Seelen der Apostel

Seele und Schuld

Seele in Choral und Liturgie

Das betende Tier

Heute von der Seele reden

Anmerkungen

Und meine Seele spannte

Weit ihre Flügel aus,

Flog durch die stillen Lande,

Als flöge sie nach Haus.

Eichendorff

In einem Wort die ganze Welt

Mit der Seele ist es wie mit dem Waldelefanten.

Unzählige Bäume und andere Pflanzen des Regenwaldes nutzen diesen kleinen rundohrigen Elefanten als Transporttier für ihre Samen. Der Elefant frisst die Früchte des Waldes und scheidet die unterschiedlichsten Samen wieder aus. So trägt er sie in entfernte Regionen und verbreitet sie überall hin. Auf diese Weise bleibt der Regenwald am Leben. Sterben die Waldelefanten aus, stirbt auch der Regenwald.

In den Ökosystemen unserer Sprache macht das Wort Seele nichts anders als der Waldelefant.

Die Naturwissenschaften sagen: Eine Seele gibt es nicht. Oskar Wilde formuliert es in seinem Märchen „Der Fischer und seine Seele“ so: „Was nützt mir meine Seele? Ich kann sie nicht sehen. Ich kann sie nicht berühren. Ich kenne sie nicht“.1

Stimmt: Wir können die Seele nicht sehen, sie nicht berühren, nicht wiegen und nicht messen. Trotzdem gibt es ein Wort für sie – in allen Sprachen der Welt. Die Seele ist eine globale Idee.

Und trotzdem: In den Wörterbüchern der Naturwissenschaften und der Medizin, der Neuro- und Kognitionswissenschaften, und auch denen der Psychologie ist das Wort „Seele“ ausgestorben.

Sogar in der wissenschaftlichen Theologie versucht man neuerdings, diesen Begriff zu vermeiden, wohl um an die empirischen Wissenschaften anschlussfähig zu bleiben. Selbst in Bibelübersetzungen probiert nun mancher, den Begriff „Seele“ zu umgehen oder zu ersetzen.

Stellt sich die Frage: Ist diese Entwicklung schlimm?

Ist es nicht ganz normal, dass Worte aus der Mode kommen?

Ich denke, eine Sprache ohne Seele trägt zu einer allgemeinen inneren Verarmung bei. Ob sie das schlimm finden, überlasse ich Ihnen. Ich möchte dem Gedanken nachgehen, was wir verlieren, wenn wir eine seelenlose Sprache entwickeln.

Denn: Wenn wir die Seele aus Denken und Sprache entfernen, weil sie überflüssig erscheint, irreführend oder unklar, so gehen gleichzeitig ungezählte Denksysteme und Gedankenfiguren zugrunde, die mit der Idee einer Seele zusammenhängen. Ein geistiges Artensterben setzt ein. Es vertrocknen jahrtausendealte Theorien über das, was den Menschen ausmacht, im Verhältnis zu sich selbst, zur Mitwelt. Zu Gott.

Sie haben es bestimmt schon gemerkt: Dieses Buch ist ein konservatives Projekt. Ein Projekt zur Arterhaltung. Ein Plädoyer zur Rettung der „Seele“. Ein Plädoyer für eine Nachhaltigkeit des Denkens. Das Plädoyer für eine Rückholung. Eine Re-Animation in des Wortes ureigener Bedeutung.

Denn nicht nur die Seele ist vom Aussterben bedroht. Auch andere Begriffe, die mit ihr eng verwandt, ohne sie vielleicht gar nicht denkbar sind, sind bedroht: Hingabe zum Beispiel oder Glückseligkeit, Barmherzigkeit, Trost und Treue. Hinter jedem dieser Worte eröffnen sich Welten von Annahmen darüber, was der Mensch ist und sein kann, was ihm guttut oder schadet, was er braucht, wonach er sich sehnt.

Für unseren inneren Reichtum und die Nachhaltigkeit unseres Nachdenkens und Fühlens brauchen wir Begriffe, die in der Geistesgeschichte vernetzt sind, wie die Wurzeln der Urwaldbäume. So wie den der Seele.

Wir begegnen ihm in der Philosophie der Antike und in allen Religionen. Das Wort ist Jahrtausende alt und zuhause in Liedern und Gedichten, in Liturgien und Gebeten. Und es wohnt überall dort, wo Menschen nach dem Sinn ihres Lebens fragen und nach Gott. Das Wort für Seele kann japanisch tama oder mitama heißen oder jiva auf Sanskrit, chinesisch Po' oder auch Hun, die Hauchseele. Roho oder mizimu auf Suaheli.

So vielfältig der Begriff in allen Sprachen, so vielfältig die Vorstellungen davon, was die Seele ausmacht, tut und bewirkt. Hält sie den Körper am Leben? Ist sie jenes Prinzip, das Vögel fliegen lässt, Wölfe jagen und Nashörner angreifen? Lässt das Prinzip Seele die Osterglocken blühen und Birken grünen, Menschen weinen und mitleiden und lieben? Oder beschreibt Seele ausschließlich die menschliche Fähigkeit, über sich selbst nachzusinnen, sich zu erinnern und die Zukunft auszumalen?

Womöglich geht unsere Seele auch auf Reisen: Nachts, wenn wir schlafen, macht sie Ausflüge und funkt uns groteske und absurde, wunderliche und wunderbare Bilder zu.

Vielleicht beschreibt „Seele“ auch das, was von uns bleibt, wenn wir den Container unseres Körpers verlassen. Manche Religionen glauben, die Seele steige dann zu Gott empor, kehre förmlich nach Hause zurück. Andere glauben, Seelen versammeln sich bei ihren Ahnen. Wieder andere sind der Überzeugung, die Seele suche sich nach dem Tod ihres Körpers immer wieder eine neue irdische Heimstadt. Je nachdem, wie sie im alten Leben bestanden hat, dann in einer Maus, einem Adler, einem Bettler oder einer Königin.

Schon die unfassbar kunstfertigen Höhlenmaler der Cro-Magnon-Zeit vor 25.000 Jahren haben die Seele gemalt. In der Höhle von Lascaux zum Beispiel zeichneten unsere Vorfahren einen toten Menschen mit einem Vogelkopf und neben diesem Toten (der offenbar von einem Bison angegriffen worden war) ragt ein Stab empor, auf dessen Spitze ein kleiner Vogel sitzt, im Begriffe, sich in die Lüfte zu schwingen.2

Bis heute schaffen Künstler ungezählte Bilder, um die Seele einzufangen: eine junge Frau, ein Säugling, ein Vogel, ein Schmetterling, der sich aus seiner Verpuppung befreit. Oder elementar: die Seele als Wind, als Hauch, Feuer, Licht, Wasser oder Rauch. Sie streicht vorbei, lodert und leuchtet. Macht sich bemerkbar als Schatten, Spiegelbild, Klang. Der Seele haftet stets etwas Unfassliches, Wandelbares, Luftiges und Flüchtiges an. Wenn wir von Seele sprechen, meinen wir das Prinzip Leben, Weiterleben, Überleben. Und die Fähigkeit des Menschen, über sich hinauszuwachsen und zugleich verhaftet zu sein im Netzwerk der Geschöpfe.

Mit dem Begriff der Seele beschreiben wir auch die Spannung zwischen unserer unrettbaren Leiblichkeit und unserer rettungslosen Sehnsucht nach Transzendenz. Unser unaufhörliches Streben nach einem anderen Leben und nach einem Gott. Visionen und Träume, Fantasien und Utopien, all das findet Ursprung und Heimat in dem Spielraum, den wir Seele nennen. Sie ist bei jedem Menschen einzigartig wie der Fingerabdruck, das Ohr oder die Iris.

Die Seele ist das, was uns Menschen als Geschöpf unter Geschöpfen ausmacht. In manchen Kulturkreisen gibt es bis heute die Angst, die Seele könnte verloren gehen, wenn jemand auf ein Foto gebannt wird. Offenbar haben wir geradezu archaische Reflexe, um unsere Seele zu schützen.

Das Aussterben des Gedankensystems rund um die Seele begann mit dem Philosophen, Mathematiker und Aufklärer René Descartes. Mit dem Satz „Ich denke, also bin ich“ wurde er berühmt. Das Gehirn war für ihn das Zentralorgan des Menschen, den er sich ein bisschen wie eine Maschine vorstellte. Diese Spur ist bis heute erkennbar in den Computerwissenschaften, die das Gehirn als Modell für Computernetze denken – und den Menschen als Programm. Mit Descartes begann die Geistesgeschichte systematisch damit, das Seelenleben zuzubetonieren oder auszuradieren.

 

Andere, neue Worte wurden gefunden („Person“, „Persönlichkeit“, „Ich“, „Selbst“), um den Menschen zu beschreiben, der nun sein eigener Mittelpunkt wurde und darin einzigartig und eigenartig. Nicht länger ein „Geschöpf“, dem etwas (die Seele) von außen eingehaucht werden musste. Heute kann man das menschliche Gehirn in vielen seiner Funktionen beschreiben, zum Teil auch simulieren. Aber kann man mit „Person“, „Selbst“ oder mit „Ich“ die Idee der Seele wirklich ersetzen?

Die politische Philosophin und Mystikerin Simone Weil schreibt 1952 in „Schwerkraft und Gnade“:

Die vollkommene Freude schließt eigentlich das eigene Empfinden der Freude aus, denn in der ganz von ihrem Gegenstand erfüllten Seele ist auch nicht der kleinste Raum mehr verfügbar, um „ich“ zu sagen.3

Seele – ist das womöglich mehr als Ich, Person oder Persönlichkeit? In der Theologie stand das Wort Seele immer für die Unverfügbarkeit des eigenen Lebens, stand für das Leben als Gabe und Geschenk. Es könnte daher sein, dass wir gerade dabei sind, unsere Seele zu verkaufen. Denn die Digitalisierung hat uns nicht nur Amazon beschert, Wikipedia und die Google-Suchmaschine, ohne die man sich das Leben gar nicht mehr vorstellen kann. Sie ist auch dabei, unsere Gefühle, Empfindungen, Meinungen und Ansichten zu vermessen und zu beeinflussen. Mit Hilfe digitaler Logiken werden wir erfasst und errechnet, wir bekommen zu sehen, was der Algorithmus uns sehen lassen will, wir bekommen mitgeteilt, was ein Computer für richtig hält und wir bekommen gesagt, diese Rechenmaschinen seien schneller, präziser, effizienter und letztlich besser als wir selbst – ihre Schöpfer, die Menschen. Rechenmaschinen empfehlen, welche Wege wir mit dem Auto nehmen, was wir essen, kaufen und denken sollen. Es gibt einen Club von Wissenschaftlern, die heute schon davon träumen, irgendwann Gehirne auf Datenträger zu speichern, den lästigen Körper hinter sich zu lassen und in den digitalen Raum zu entschwinden. Auf ewig und damit unsterblich.

Die Vorstellung von der Seele aber – und alles, was an Bedeutungen in diesem Wort haust – widerspricht der Logik von 0/1-Entscheidungen. Seele ist ein Wort des Widerstands gegen die Kontrolle über das Empfinden. Denn: Von der Seele reden heißt, die leibliche Existenz bejahen, heißt Spannungen aushalten, dem Menschen Gutes und Großes zutrauen, heißt, die menschliche Kraft der Sehnsucht, der Vision und der Erfindung bewundern, heißt: gut vom Menschen denken, weil er ein gottgewolltes Geschöpf ist.

Von diesem Geschöpf singt im Alten Testament der Psalm 8:

Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. (Psalm 8,4–6)4

Wir wissen, was wir mit den neuen Techniken der Digitalisierung und der Vernetzung gewonnen haben. Die Frage ist jetzt: Was verlieren wir, wenn wir den Menschen als Modell für den Computer betrachten? Und: Welcher Reichtum an religiösen, geisteswissenschaftlichen, philosophischen und poetischen Welten wird mit dem kleinen Wort Seele untergehen?

Vom Erlöschen der Seele

Als der Schriftsteller Hermann Hesse zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer Indienreise zurückkehrt, schreibt er Reiseerinnerungen nieder, in denen er seiner Bewunderung für die östlichen Kulturen Ausdruck verleiht. Im Vergleich zu ihnen hadert er mit der Seelenvergessenheit des Westens, die Hesse mit der Religiosität der Menschen zusammendenkt.

Er schreibt 1914:

Schließlich aber ist doch ein menschlicher Eindruck der stärkste. Es ist der der religiösen Gebundenheit all dieser Millionen Seelen. Der ganze Osten atmet Religion, wie der Westen Vernunft und Technik atmet. Primitiv und jedem Zufall preisgegeben scheint das Seelenleben des Abendländers, verglichen mit der geschirmten, gepflegten, vertrauensvollen Religiosität des Asiaten, er sei Buddhist oder Mohammedaner oder was immer. Dieser Eindruck beherrscht alle anderen, denn hier zeigt der Vergleich eine Stärke des Ostens, eine Not und Schwäche des Abendlandes, und hier fühlen sich alle Zweifel, Sorgen und Hoffnungen unserer Seele bestärkt und bestätigt. Überall erkennen wir die Überlegenheit unserer Zivilisation und Technik, und überall sehen wir die religiösen Völker des Ostens noch ein Gut genießen, das uns fehlt und das wir eben darum höherstellen als jene Überlegenheiten. Es ist klar, dass kein Import aus Osten uns hier helfen kann, kein Zurückgehen auf Indien oder China, auch kein Zurückflüchten in ein irgendwie formuliertes Kirchenchristentum. Aber es ist ebenso klar, dass Rettung und Fortbestand der europäischen Kultur nur möglich ist durch das Wiederfinden seelischer Lebenskunst und seelischen Gemeinbesitzes. Ob Religion etwas sei, das überwunden und ersetzt werden könne, mag Frage bleiben. Dass Religion oder deren Ersatz das ist, was uns zutiefst fehlt, das ist mir nie so unerbittlich klar geworden wie unter den Völkern Asiens.5

Hesse schreibt diese Worte nieder am Vorabend des ersten Weltkriegs. Die Industrialisierung hat sich in Europa ausgebreitet, die Ingenieurskunst einen rasanten Fortschritt angeschoben. Der Kohleabbau, die Stahlproduktion, die aufstrebende Automobilindustrie und die Waffenindustrie werden zu Motoren der wirtschaftlichen Entwicklung. Deutschland ist hochgerüstet, ebenso die anderen europäischen Länder. Es raucht und stampft in den Zentren der Industrie.

Das Milieu der Arbeiter hat sich in politischen Parteien definiert und es regt sich der Zweifel bei europäischen Intellektuellen, ob mit der anwachsenden Macht der Maschinen nicht auch die Seelen der Menschen verloren gehen könnten. Hesse beschreibt die Seele als einen Ort, in dem Zweifel, Sorge und Hoffnung wohnen und er träumt vom Wiederfinden der „seelischen Lebenskunst“ und des „seelischen Gemeinbesitzes“. Im Westen vermisst er eine „geschirmte, gepflegte und vertrauensvolle Religiosität“. Der erste Weltkrieg mit seinen Millionen Toten scheint dann wie ein Beweis für den gigantischen kollektiven Verlust, der mit dem Erlöschen der Seele einhergeht.6

Ein knappes Jahrzehnt später, 1922, rechnet der linke Autor Ernst Toller in seinem Stück „Die Maschinenstürmer“ mit dem Maschinenzeitalter ab. Der Plot verlegt die Debatte ins Jahrhundert zuvor: Die Textilarbeiter Nottinghams sollen 1815 im Aufkommen des Frühkapitalismus durch Maschinen ersetzt werden. Zwei Arbeiterführer mobilisieren die Massen: Jimmy Cobbett predigt Verhandlungen und einen politischen Weg, um die Arbeitsverhältnisse zu verändern. John Wible dagegen setzt auf Gewalt und Zerstörung der Maschine. Ein wahnsinniger Ingenieur, dessen Seele über dem Bau der Maschinen zerstört wurde, tritt auf und verkündet die Macht der Maschinen über die Menschen.

Ingenieur auf der Brücke mit irrer Gebärde:

Hihuhahaha. Ich aber sage euch, die Maschine ist nicht tot … Sie lebt! Sie lebt …

Ausstreckt sie die Pranken, Menschen umklammernd krallend die zackigen Finger ins blutende Herz …

Hihuhahaha … Hihuhahaha

Gen die umfriedeten Dörfer wälzen sich stampfende Heere …

Hindorren die Gärten, verpestet vom schweflichen Hauch

Und es wachsen die steinernen Wüsten, die kindermordenden

Und es leitet ein grausames Uhrwerk die Menschen

In freudlosem Takte …

Ticktack der Morgen … Ticktack der Mittag … Ticktack der Abend …

Einer ist Arm, einer ist Bein … einer ist Hirn …

Und die Seele, die Seele ist tot …

Alle in magischer Andacht:

Und die Seele, die Seele ist tot …

Stille

Ingenieur lacht

Alle:

Er lacht! Er ist besessen!

Ruf:

Besessen vom Geist der Maschine!7

Doch Toller belässt es nicht bei der oberflächlichen Dämonisierung der Technik. Er lässt die Hauptfigur Cobbett, den nachdenklicheren der beiden Arbeiterführer sagen: „Nicht gegen die Maschine, gegen die Ausbeuter müsst ihr kämpfen. Nicht mit dem Knüppel, sondern mit dem Kopf. Es leben andere Feinde, gewaltiger als das Gerüst von Eisen, Schrauben, Drähten, Holz, das man Maschine nennt.“

Das Zeitalter der industriellen Revolution und die damit verbundenen umwälzenden Veränderungen der Lebensverhältnisse, haben bereits vor zweihundert Jahren ein Nachdenken darüber initiiert, was den Unterschied ausmacht zwischen der beseelten und der unbeseelten Materie. Dabei stellt sich zwangsläufig die Frage, ob es so etwas wie eine Seele gibt und was sie denn sei.

Man hatte sich in der Aufklärung von den Dogmen der christlichen Kirche verabschiedet, die – im Katholizismus – einen Dualismus von Leib und Seele behauptet, der Seele eine eigene Entität und Substanz zusprach und ihr als einer Art göttlicher Funke den Vorzug vor dem Leib gab.

Man hatte sich mit Immanuel Kants Erkenntniskritik verabschiedet vom Versuch, der Seele im philosophischen Denkgebäude einen Platz zuzugestehen. Nach Kants Überzeugung sind Begriffe wie Welt, Gott oder eben Seele Vorstellungen, die nicht auf repräsentative Objekte bezogen werden können.

Damit war der Anfang gemacht, den Seelenbegriff in der akademisch-universitären Sprache zum Verstummen zu bringen: Zu unpräzise, zu vieldeutig, zu vorbelastet schien das Wort „Seele“. In einer philosophischen Welt der präzisen Logik und Kausalität war die Vorstellung von der Seele undeutlich, kontraproduktiv, anarchisch und subversiv. In der Welt der empirischen Wissenschaften wurde die Rede von der Seele bald zur verstaubten und belächelten Ruine einer abendländischen Denktradition.

In seinem berühmten Essay „Über das Marionettentheater“, der 1810 in vier Folgen in den Berliner Abendblättern erschien, beschäftigt sich der Dichter Heinrich von Kleist mit dem Einfluss der Seele auf die menschliche Erscheinung. Die unbewusste natürliche Schönheit wird gefeiert gegenüber der künstlich eingeübten Geste. Der fiktive Autor des Essays tritt in einen Dialog mit einem bekannten Schauspieler, der häufiger beim Besuch eines Marionettentheaters gesehen worden war. Die beiden unterhalten sich über die Schönheit des Unbewussten und die Seele als Link zwischen der unbelebten Materie und Gott am Beispiel des Tanzes:

Ich fragte ihn, ob er glaube, dass der Maschinist, der diese Puppen regiere, selbst ein Tänzer sein, oder wenigstens einen Begriff vom Schönen im Tanz haben müsse? Er erwiderte, dass wenn ein Geschäft, von seiner mechanischen Seite, leicht sei, daraus noch nicht folge, dass es ganz ohne Empfindung betrieben werden könne. Die Linie, die der Schwerpunkt zu beschreiben hat, wäre zwar sehr einfach und – wie er glaube in den meisten Fällen grad …

Dagegen wäre diese Linie wieder, von einer anderen Seite, etwas sehr Geheimnisvolles. Denn sie wäre nichts anderes als der Weg der Seele des Tänzers; und er zweifle, dass sie anders gefunden werden könne, als dadurch, dass sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, d. h. mit anderen Worten, tanzt.8

So unterstellt Kleist, dass auch bei einem technisch komplexen Vorgang so etwas wie „Seele“ im Spiel ist. Und dass der Tanz der Puppen Ausdruck der Seele des Marionettenspielers ist. Wenn Kleist recht hat und der Marionettenspieler in all seinen mechanisierten Geschöpfen selber tanzt, so bedeutet das heute, dass auch in Computerprogrammen die Seele des Programmierers erkennbar wird und in den größten Netzwerken der Welt ein Psychogramm ihrer Schöpfer zu finden sein muss.

Es geht bei der Rede von der Seele also um ein wirksames Nicht-Etwas. Um ein definitorisches Vakuum. Um die Beschreibung einer Leerstelle. Um das Wort für jene weltberühmte Lücke, die im Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo zwischen dem Finger Gottes und dem des Menschen klafft. Der Schöpfungsakt wird im Gemälde erzählt als ein nichtdarstellbarer Raum, als Hauch und luftiger Abstand zwischen Schöpfer und Adam.

 

Gott, der seine Geschöpfe lebendig macht und in Bewegung bringt, drückt seine Schöpfermacht aus in einem Zwischenraum. Gott ist in der Lücke.

Künstler und Handwerker haben ein Gespür für das unsichtbar Wirkende, das die Seele ausmacht. Dosso Dossi malt in der Zeit zwischen 1525 und 1530 das Gemälde „Jupiter, Merkur und die Tugend“. In einem Ausschnitt wird der Schöpfer Jupiter als Künstler dargestellt, der die Seelen der Menschen zum Leben erweckt, indem er sie als Schmetterlinge malt. Neben dem seiner Malerei zugewandten Jupiter sitzt der Götterbote Hermes und wendet sich dem Betrachter zu. Er legt den Zeigefinger auf den Mund und gemahnt den Betrachter, über das Wunder der Seele zu schweigen.

Die Seele ist dabei das Unsagbare oder eben der freie Raum, der die Form einer Gestalt vorgibt: So nennen Architekten bei der Wendeltreppe jenen freien (oder tragenden) Teil, um den sich die Stufen spiralförmig winden, die Seele. Auch der eingedrehte dünne Strang im Kern eines Seils wird Seele genannt, bei Geschützen wird der Hohlraum im Lauf als Seele bezeichnet. Goldschmiede nennen den Raum, um den herum ein Gefäß entsteht, Seele. Und das Innere einer Trachealkanüle, die man auf der Intensivstation Menschen in die Lunge einführt, die nicht mehr atmen können, nennt man Seele. Diese „Seele“ ist ein Einmalprodukt.

Das Wort Seele beschreibt also das formgebende Ungeformte, von dem schon der griechische Philosoph Aristoteles sprach, aber auch die Zielgerichtetheit, die Energie, Durchschlagskraft und Dynamik, die das Bild vom Hohlraum des Geschützes assoziiert, den Roten Faden einer Sache oder eines Menschen, und auch die gedachte und vorgestellte innere Form.

Zerbricht das Gefäß, bleiben nichts als Scherben. Stürzt die Wendeltreppe ein, ist auch das Nichts, das ihr die Form verliehen hat, dahin. Dröselt man ein Seil auf, bleibt bloß Fadengewirr, und wird das Geschütz umgeschmiedet, verschwinden Richtung und Ziel.

Auch die innere Achse der Spirale, der Helix, trägt den Namen Seele und gemahnt an die Form der DNA, des biologischen Bauplans allen Lebens. Sie macht einen jeden Menschen unverwechselbar. Wenn der Mensch stirbt, kann sie noch lange nachgewiesen werden. Dann aber zerfällt sie zu nichts.

Seele meint also das unsichtbare Unbekannte, ohne das alles Lebendige nichts ist. Meint das undefinierbare Etwas, das aus Teilen ein lebendiges Ganzes macht. Der chinesische Philosoph Lao-Tse, Begründer des Daoismus oder der „Lehre vom Weg“ vor zweieinhalb Jahrtausenden, formuliert in seinem Buch vom Weg die prägende Bedeutung dieses Nichts, das er „Nutzen“ nennt.

Dreißig Speichen umringen die Nabe

Wo nichts ist

Liegt der Nutzen des Rads

Aus Ton formt der Töpfer den Topf

Wo er hohl ist

Liegt der Nutzen des Topfs

Tür und Fenster höhlen die Wände

Wo es leer bleibt

Liegt der Nutzen des Hauses

So bringt Seiendes Gewinn

Doch Nichtseiendes Nutzen9

Wie von etwas reden, das es nicht gibt, und das dennoch intuitiv erfahren wird als „Nichts, ohne das alles nichts wäre“? Entsprechend metaphorisch ist die Rede von der Seele in ihren kulturellen Zusammenhängen. Sie wird symbolisiert im Schmetterling, der aus der Raupenhülle kriechend seine Gestalt ändert, sie nimmt Gestalt an als Brücke und Pfeil, als Vogel, als Feuer, Luft und Atem, als Sprache und Musik. Sie steht für das Unbewusste, die Sprache des Traums und der Passagen des menschlichen Geistes in innere Welten.

Ja, man könnte das Wort „Seele“ selbst als Metapher beschreiben für das Leben in seinen inneren Zusammenhängen, als die Bewegung des Menschen in das Andere hinein.

Der Religionswissenschaftler Kocku von Stuckrad hat in seinem Buch die „Die Seele im 20. Jahrhundert“ von 2019 gezeigt, wie sich im 19. und 20. Jahrhundert die Seelendiskurse neu organisierten – vorbei an der „Wissenschaft von der Seele“, der Psychologie. In deren Wörterbüchern, Lehrbüchern und Datenbanken ist das Wort „Seele“ oder „Soul“ nicht mehr zu finden. Die Seele wird in die semantischen Landschaften der Religion verwiesen. Dabei wäre möglicherweise gerade der Seelenbegriff geeignet, den Riss zwischen den empirischen Lebenswissenschaften und den Geisteswissenschaften, insbesondere der Philosophie und der Theologie, zu überbrücken. Die Neuro- und Kognitionswissenschaften, die einem naturwissenschaftlichempirischen Paradigma folgen, müssten sich nicht mehr in einer seelenlosen Echokammer bewegen. Und die Seele wäre ein Schlüsselbegriff, unter dem sich die unterschiedlichen Denkansätze der Lebens- und der Geisteswissenschaft treffen könnten.10 Der Verlust des Seelenbegriffs hat in den letzten hundert Jahren nämlich dazu geführt, dass sich die esoterischen Diskurse und Denkfiguren weitab von der naturwissenschaftlichen Erkenntnis trotzig behauptet haben. Manchmal mit absurden Auswüchsen.

Ob man sich mit okkultischen Bewegungen befasst oder den Schamanismus neu entdeckt, ob man die religiösen Perspektiven der Punk-, Gothic- oder Hare-Krishna-Bewegungen in den Blick nimmt oder in der Religionsforschung Phänomene wie Rausch, Ekstase und Tanz behandelt – bei all diesen Bewegungen steht die Frage nach dem Ganzen und dessen Vergänglichkeit im Zentrum. Auch spirituelle Bewegungen, die die Heiligkeit der Natur wiederentdecken, vom Naturschutz bis zum Bäume-Umarmen, haben global Anhänger gewonnen, die – siehe die Aktivisten von Greenpeace oder Sea Shepherd – auch einen politischen Flügel entwickeln.

Aber auch bei der Entdeckung systemischer Zusammenhänge der belebten Natur in den ökologischen Bewegungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts liegt die Frage nach der Sakralisierung der Natur ganz vorne. Die sogenannte „grüne Religion“ verbindet geisteswissenschaftliche und auch theologische Aspekte mit den neueren Naturwissenschaften, die in interdisziplinären Zugängen versuchen, die Dynamiken des Lebens und ihrer inneren Zusammenhänge zu erfassen. Insofern könnte es die konkurrierenden Weltanschauungen versöhnen, wenn man sich des Begriffs der Seele neu entsänne – nicht als physikalisch messbare Entität, nicht als innermenschlicher Herrschaftsraum der Bischöfe und Päpste, sondern als Begriff für das System der Lebendigkeit. Ein Begriff der Seele, der im Inneren die Welt nach einem dynamischen Prinzip der Resonanz zusammenhält.

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