Anita - Ein von Neurosen und Depressionen geprägter Lebensweg einer hoch sensiblen Frau bis zur Altersdemenz

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Anita - Ein von Neurosen und Depressionen geprägter Lebensweg einer hoch sensiblen Frau bis zur Altersdemenz
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Johann Runge

Anita - Ein von Neurosen und Depressionen geprägter Lebensweg einer hoch sensiblen Frau bis zur Altersdemenz

Versuch eines Psychogramms

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Vorbemerkung

Anita – Herkunft, Kindheit, Jugend

Flucht im März 1945

Anita – als Frau und Mutter

Depressionen

Die tausend Gesichter der Neurose

Anitas Probleme

Brustkrebs

Anita als Autorin

Seniorenbetreuung

Weitere Erkrankungen

Morphin und die Folgen

Demenz

Weitere Informationen

Impressum neobooks

Prolog


Aus Anitas Feder:

Den Lebensstürmen standhalten,

auch wenn du gekrümmt

und voller Narben bist.

Die Kälte des Winters aushalten.

Trotzdem darauf vertrauen,

dass ein junger grüner Trieb

aus deinem Herzen wachsen wird.


Vorbemerkung

Zum besseren Verständnis dieses Versuchs eines Psychogramms sei hier aus dem Ende der 1960er Jahre erschienenen Buch von Norbert Lebert zitiert:

Krankheit ist kein Zufall

(alternativer Titel: Psychopotenz)

Die Seele – das Wort ist ausgesprochen, und schon sind wir von bösen Zweifeln heimgesucht. Gibt es denn überhaupt eine Seele? Ist das nicht eine Sache des Glaubens, eine Frage der Religion, der Philosophie? Was hat sie mit der Medizin zu tun? Der Pathologe Rudolf Virchow, einer der größten Mediziner des vergangenen Jahrhunderts, hat ihr deutlich abgeschworen: „Ich habe tausend Leichen seziert und nie eine Seele gefunden.“

Wir wissen, dass Sigmund Freud sie sozusagen entdeckt hat, dass er sie kühn in ein medizinisches Lehrgebäude eingebaut hat. Welche Rolle sie heute in der Medizin spielt – damit wollen wir uns hier beschäftigen.

Seele bedeutet entsprechend dem griechischen „Psyche“ und dem lateinischen „Anima“ soviel wie Hauch, Atem, Wind, etwas Flüchtiges also, nicht greifbare Materie, kein Objekt, nichts Fassbares. Wenn sich der Arzt heute um sie bemüht, so tut er es anders als der Priester. Beide verstehen unter Seele nicht dasselbe. Christliche Seelsorge und angewandte Psychologie haben nichts miteinander zu tun. Sie bewegen sich auf verschiedenen Ebenen. Wo der eine von Sünde spricht, diagnostiziert der andere vielleicht eine Neurose.

Ob sie unsterblich ist, unsere Seele, das kann der Arzt nicht entscheiden. Natürlich drängt sich die Frage auf: Wenn nicht von der unsterblichen Seele die Rede ist, von welcher sprechen wir dann? Was sollen wir uns darunter vorstellen?

Nun, es scheint, der Begriff Seele ist für die Beschreibung der Wirklichkeit eines Menschen unentbehrlich. Ohne die Idee einer Seele, die in uns wohnt, kommt niemand aus. Der Theologe muss sie zitieren, der Philosoph, der Arzt. Der Tübinger Professor für Psychiatrie und Neurologie Ernst Kretschmer definierte sie so: „Seele nennen wir das unmittelbare Erleben. Seele ist alles Empfundene, Wahrgenommene, Gefühlte, Vorgestellte, Gewollte. Seele ist die Welt als Erlebnis.“

Die Tiefenpsychologie hat klargemacht, was die Erlebnissphäre eines Menschen bedeutet. Wir leben nicht nur bewusst, vom Verstand her, wir leben auch unbewusst. Wir machen Erfahrungen, von denen wir gar nicht wissen, dass wir sie gemacht haben. Diese Erfahrungen werden aber sehr wohl registriert, in einer Schicht unterhalb unseres Bewusstseins, die Freud das „Es“ genannt hat.

Was uns speziell das Unbewusstsein alles antun kann, werden wir noch sehen. Fest steht, dass das Phänomen Seele damit noch lange nicht erklärt ist. Denn da ist noch das Gewissen, das „Über-Ich“ also, eine Kontrollinstanz, deren Existenz schwer zu leugnen ist. Auch dem Ungläubigen schlägt das Gewissen, auch er kennt Schuldgefühle, auch ihn mahnt eine innere Stimme.

Die Frage, wo diese Seele in unserem Körper beheimatet sein könnte, hat der große Physiker Max Planck als ein Scheinproblem bezeichnet. Die Aufteilung in Leib und Seele sei gar nicht möglich. Der Mensch müsse als eine untrennbare Einheit gesehen werden. Planck betonte, seelische und körperliche, Vorgänge vollzögen sich so gleichzeitig, dass sie als ein und derselbe Vorgang angesehen werden müssten.

Nun, die Gleichzeitigkeit lässt sich nicht bestreiten. Das kann jeder Mensch an sich selbst beobachten. Wenn man erschrickt, wird man blass. In gewissen Situationen bekommt man eine Gänsehaut: Wenn man sich aufregt, bricht einem der Schweiß aus. In einer Schrecksekunde kann das Herz stillstehen.

…Experimente mit der Galle und der Schilddrüse deuten an, wie sehr der gesamte Organismus mitfühlt. Vom dieser Seite her ist die Erforschung des Menschen zweifellos lange vernachlässigt worden.

Die Medizin hätte die Seele des Menschen gern dem Beicht­vater überlassen, ging nur sehr zögernd daran, sich nun auch noch um „diese Dinge“ zu kümmern. Zunächst waren es nur Außenseiter, die dazu aufforderten, den Menschen nicht nur als einen anatomischen und physiologischen Mechanismus zu betrachten, sondern als ein Wesen, das von Liebe und Haas, von Trieben und Leidenschaften beherrscht wird, die durchaus imstande sind, körperliche Krankheiten zu produzieren.

Erst in den letzten … Jahrzehnten geriet die Medizin in Bewegung. Die psychosomatische Medizin wurde geboren. 1943 erschien das erste richtige Lehrbuch. Es setzte neue Maßstäbe und wurde von den Ärzten in der ganzen Welt beachtet.

Nicht dass die Psychosomatiker etwa von exakten wissenschaftlichen. Methoden abrückten, dass sie etwa einen Laborbefund unterschätzten oder die sorgfältige körperliche Untersuchung der Kranken nicht für wichtig hielten – keineswegs, aber dass dies das einzige Kriterium sein sollte, dass bei der Be­trachtung von Krankheiten nur diese Befunde berücksichtigt wurden, leuchtete ihnen nicht ein, dagegen begannen sie nun Sturm zu laufen.

Die Krankheit, so stellten sie fest, darf nicht vom lebenden Menschen abgelöst werden, so, als stände sie in keiner tieferen Beziehung zu ihm. Die Psychosomatiker machten deutlich, dass viele Krankheitsprozesse sich diesem Schema entzogen, dass sie nur von der Persönlichkeit des Kranken her zu begreifen waren.

In der Praxis sieht das dann so aus, dass sich ein chronischer Durchfall als eine Art Gemütskrankheit entpuppt. Jede gezielte Darmtherapie versagt, muss versagen, weil die Ursache des Leidens überhaupt nicht organischer Natur ist. Soll der Darm wieder vernünftig arbeiten, so muss der Arzt die seelischen Hintergründe aufdecken, den Patienten nach seiner Ehe fragen, nach seinem Beruf, nach seinen Sorgen und Nöten.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Dies ist kein sehr ausgefallenes Beispiel. Wir werden später noch sehen, wie sehr unser Darm auf bestimmte psychische Zustände reagiert und welches dramatische Geschehen ausgelöst werden kann.

Die psychosomatische Medizin ist keine Spezialdisziplin, ganz bestimmt keine neue Wunderlehre. Was sie neu entwickelt, wozu sie auffordert: eine andere Krankheitsauffassung.


Anita – Herkunft, Kindheit, Jugend

Anita kam vor Ausbruch des 2. Weltkrieges in einer heute zu Polen gehörenden preußisch-pommerschen Verwaltungs- und Beamtenstadt als drittes Kind der Familie zur Welt.

Ihr Vater Franz war drittes Kind eines einfachen Arbeiters, der im 1. Weltkrieg „für Kaiser und Reich“ gefallen war. Seine Mutter war als Kriegerwitwe darauf angewiesen, die karge Versorgungsrente durch eigene Arbeit (Fischverkauf) aufzubessern. Franz’ Lehrer rieten der Muter, den begabten Jungen das Gymnasium besuchen zu lassen. Doch diese wehrte ab: „Die älteren Brüder durften das auch nicht. Also braucht es auch Franz nicht.“ Der Geigenunterricht wurde abgebrochen, als der wilde Junge damit auf der Treppe stürzte und das Instrument dabei Schaden nahm. Durch diese frühen falschen Weichenstellungen wurde der weitere Lebensweg des hoch begabten Franz entscheidend auf falsche Geleise geführt, so dass er sich später beispielsweise Anerkennung bei Frauen auch außerhalb der Ehe suchte. Alkoholmissbrauch kam hinzu, der sich besonders krass auswirkte, weil Franz unter Alkoholeinfluss oft sehr aggressiv und unbeherrscht reagierte. Einer seiner älteren Brüder soll ich „tot gesoffen“ haben.

 

Wie heißt es doch schon in dem alten Buch? – 2. Mose, Kapitel 36 – „…der die Missetat der Väter heimsucht auf Kinder und Kindeskinder bis ins dritte und vierte Glied…“ Eine geborgene glückliche Kindheit – das wussten schon die Vorväter – ist die Grundvoraussetzung für eine gesunde Lebensentwicklung.

Anitas Mutter Emma stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sie hatte zwei ältere Brüder und eine ältere Schwester. Als sie vor der Ehe schwanger wurde, wollte der Erzeuger nicht zu seiner Vaterschaft stehen: „Deine Schwester ist doch Krankenschwester, da wird sich wohl ein Weg finden lassen!“ Aber Emma lebte nach dem Grundsatz: „Lieber eins auf dem Kissen, als auf dem Gewissen!“ So verheimliche sie die Schwangerschaft, solange es ging. In der Verwandtschaft gab es mehrere Frauen, die ihren Gang zur ‚Engelmacherin’ mit folgender Kinderlosigkeit bezahlten. Emmas Eltern akzeptierten ihre Mutterschaft nicht: „Was sollen denn die Nachbarn denken?!“ Ein uneheliches („unehrliches“) Kind galt damals noch als Schande. Sie musste das Kind in einer Klinik in einer größeren Stadt entbinden, wo sich niemand aus der Familie um sie kümmerte: „Wenn andere Besuch bekamen, drehte ich mich zur Wand und weinte bitterlich.“ Das Kind – ein Knabe – kam in ein Säuglingsheim, weil die Großeltern weiterhin ablehnend waren. Zunächst sollte die Vaterschaft und die Unterhaltszahlungen des Erzeugers geklärt werden. Von Hospitalismus und den daraus resultierenden schweren Störungen ahnte man nichts. Erst, als die Oma sah, wie sich die verheerenden Entwicklungsrückstände auch körperlich zeigten, nahmen sie das Kind auf und taten nun alles, um den Kleinen wieder aufzupeppeln. Dort bei den Großeltern wuchs das Kind dann auf und musste die frühkindlichen psychischen Schäden später als erwachsener Mann schmerzhaft psychotherapeutisch aufarbeiten. Seine Begabungen und sein enormer Fleiß ließen ihn in Eigeninitiative mehrere Sprachen erlernen und sich beruflich qualifizieren.

Als der Erzeuger der Mutter Emma dann irgendwann doch die Ehe anbot, war es zu spät. Inzwischen hatte Emma – war es Liebe oder Torschlusspanik? – den Franz kennen gelernt und geheiratet. Der hatte zuvor auch bereits zwei Kinder vorehelich in die Welt gesetzt.

Franz und Emma hatten zusammen zunächst zwei Söhne, bevor Anita geboren wurde. Beide Jungen waren sehr begabt, vor allem der Älteste. Der Jüngere befand sich natürlich als ‚zweiter Bruder’ in einer schwierigen Familienkonstellation, zumal ihm ständig sein begabter älterer Bruder als Vorbild vor Augen gehalten wurde. Der hoch begabte Ältere, dem alles zuflog, hat dennoch sein das Studium abschließende Examen verpatzt, weil er – der früher immer sehr solide lebte – sich als Student dem Suff hingab. Erst im zweiten Anlauf riss er sich zusammen und schaffte den Abschluss doch noch. Er ging dann seinen beruflichen Weg zwar erfolgreich, aber sein älterer Halbbruder meinte kritisch, er habe es bei der Begabung mit mehr Zielstrebigkeit erheblich weiter bringen können.

Als Anita geboren war, war ihr Vater überglücklich, einer Tochter zum Leben verholfen zu haben.

Da es „dem Führer“ teils durch günstige Konstellationen, teils durch massive Aufrüstung gelang, die große Arbeitslosigkeit zu überwinden, jubelten ihm Ende der 1930er viele Deutsche zu. Auch Vater Franz war wieder in Arbeit und Brot. Obwohl Franz immer wieder zu Alkoholabusus neigte und dann gewalttätig werden konnte, sorgte er doch durch regelmäßige Arbeit als Verwaltungsangestellter für seine Familie. In einer Zeit, zu der man noch keine digitalen Rechner kannte, waren seine Kopfrechenkünste sehr gefragt. Daher gelang es ihm auch später als Soldat, sich als Rechnungsführer in der heimischen Garnison als ‚Etappenhengst’ lange als unabkömmlich vom Fronteinsatz frei zu halten.

So wuchs Anita in früher Kindheit – trotzt immer wieder erlebter schmerzlicher Erfahrungen mit dem doch geliebten Vater – trotz ambivalenter Erlebnisse zunächst recht geborgen auf.

Anita konnte ihren Eltern, besonders der Mutter nie verzeihen, dass sie rauchten und Nikotin-abhängig waren. Als sie mal ein Arzt fragte, ob sie geraucht habe, war ihre Antwort: „Ich war eine pränatale Kettenraucherin.“ Nach einer ihrer Entbindungen fragte die Mutter den Arzt unmittelbar nach der Geburt: „Herr Doktor, jetzt kann ich mir doch eine anstecken?“ Zwar hatte Emma sich das Rauchen einige Jahre vor ihrem Tode „mit eisernem Willen“ abgewöhnt, starb aber dennoch an Lungenkrebs.

War eines der Kinder krank, gab es etwas Besonderes, um das das kranke Kind von den Geschwistern beneidet wurde, zum Beispiel eine heiße Zitrone oder ein Brötchen. Ob das dazu beigetragen haben könnte, dass Anita gerne ‚in Krankheit flüchtete’? Ihr Halbbruder schenkte ihr später mal, als sie schon erwachsen war, ein Buch mit dem Titel ‚Krankheit als Weg’.

Anita war ein hübsches Mädchen, hatte aber einen ‚Silberblick’, eine Augenmuskelschwächung, unter der sie, je älter und eitler sie wurde, litt. Eine Hausnachbarin damals zur Mutter: „Auch, wenn sie hübsche Löckchen hat, aber sie schielt.“ Dieser Sehfehler wurde Jahrzehnte später im Erwachsenenalter durch eine kosmetische Augenoperation behoben, so dass dann die durch die Misere bedingten die Persönlichkeit beeinflussenden Minderwertigkeitsgefühle teilweise abgebaut werden konnten.

Das Kind Anita sang und tanzte gerne. Es war von Anfang an immer ganz an die älteren Brüder gewöhnt, bei denen es sich geschützt und geborgen fühlte, von denen es viel lernte, auch die von den Brüdern oder den Eltern gesungenen Lieder und Schlager der Zeit. Auch die Gedichte und Balladen, die die Brüder meist laut auswendig lernten, verinnerlichte sie und konnte die Texte noch nach Jahrzehnten zitieren. Die Liedtexte waren sogar im hohen Alter bei fortgeschrittener Demenz und Verlust des Namensgedächtnisses bei Anstimmen der Melodie immer noch präsent.

Als Mutter von vier Kindern stand Emma nicht nur das „Mutterkreuz“, sondern auch ein „Pflichtjahrmädchen“ (Reichsarbeitsdienst) zu. Auch, als ‚der Führer’ zunächst Polen, dann andere Länder überfallen und besiegt hatte und danach in seiner Hybris auch in die Sowjetunion einfiel, wo er ‚Lebensraum’ für seine germanischen Volksgenossen erobern wollte, blieb es in Hinterpommern trotz alliierter Luftangriffe auf deutsche Großstädte und der Wende an der Ostfront noch sehr lange fast idyllisch ruhig.

So blieb die hinterpommersche Heimatstadt für Anita lebenslang ihr Paradies.


Bis ins hohe Alter ‚lebte’ sie mit ihren Erinnerungen in dieser Zeit der frühen Kindheit. Ihre Erinnerungen gehen erstaunlich weit in die frühe Kindheit zurück. Ihre sehr sensible Grundstruktur lässt sie alles im Detail erfassen und bildhaft beschreiben. Hier einige Texte aus ihrer Feder, in denen sie aus dieser ihrer Kindheit berichtet:


Beim morgendlichen Aufwachen freue ich mich schon riesig über die Sonnenstrahlen, die unser Kinderzimmer in eine Leuchtstube verwandelt haben. Dann darf ich heute auch gewiss mein schönstes Sommerkleid anziehen; das ganz dünne Weiße, aus durchsichtigem Voile, mit den bunten Blümchen darauf gestickt. Und ich brauche keine Schuhe anzuziehen. Herrlich, diese Leichtigkeit! Aber Schleifen hat mir die Mutter ins Haar gebunden, und im Spiegel schaut mir fast ein pastellfarbener Schmetterling entgegen, der sogar fröhlich singen kann. Eine kindliche Unbekümmertheit nistet sich in mir ein, so als könne mir niemand diesen goldenen Sommertag verderben. Geschwind laufe ich die Treppen herunter und spiele mit anderen Kindern auf der Straße Murmeln knipsen. Spielend kullern die kleinen Kugeln aus Ton, aber die Begehrtesten sind die aus Glas mit bunten schillernden Farbmustern darin. Meine nackten Füße bohren sich in den lockeren Sand hinein. Die warme Luft liebkost meinen klei­nen fast nackten Körper. Später laufe ich durstig und hungrig zur Mutter in die Wohnung. Heute gibt es etwas Besonderes zu essen: Grießbrei mit Blaubeeren.

Nach dem Mittagsschlaf wird es draußen zunehmend dunkler. Es ist sehr schwül geworden, immer mehr dunkle Wolken rücken dicht zusammen. Dann folgen Blitz und Donner, und schon fallen die ersten Regentropfen auf die staubige und durstige Straße. Ich stehe gespannt am Fenster und schaue mir das wahrhaft himmlische Naturereignis an. Jetzt prasselt der Regen in dicken Tropfen laut an die Glasscheiben. Doch nach einer Weile hört es schon wieder auf zu regnen. Auf der Straße fließt nun im Rinnstein ein liebliches Bächlein entlang. Wohlig ist es, mit den nackten Füßen in der warmen Matsche zu wühlen, wie in einer dunklen Breimasse. Im weichen nassen Sand kann ich meine kleinen Fußabdrücke hinterlassen. Die Luft ist frischer geworden und der Himmel wieder blau und klar.

Am Abend gehen die Eltern, eine Tante und meine Brüder zusammen mit mir in unseren großen schönen Garten. Wir Geschwister spielen noch Fangen miteinander, über Beete hinweg und durch Wege entlang, hinter Hecken, Büschen und Sträuchern geduckt. Die letzten weißen Johannisbeeren, die die Mutter beim Pflücken übersehen hatte, schmecken mir köstlich. Ringelblumen, Löwenmäulchen, Kapuzinerkresse und all die vielen schmackhaften Früchte geben dem Garten eine ganz besondere Stimmung, eine bunte lachende Fröhlichkeit, wie in einem Paradiesgarten, zumindest für Kinder; denn manchmal höre ich die Mutter stöhnen, wenn sie gebückt in der Sonne das massenweise Unkraut jätet. Wenn sie aber die Blätter der Gurken etwas hochnimmt und die großen langen Früchte sieht, frohlockt sie: „Oh, oh.“ Wir Geschwister warten heute ungeduldig darauf, dass es dunkel wird. So lange darf ich sonst nicht aufbleiben. Aber heute ist ja ein ganz besonderer Tag, an dem wir den Sommer feiern wollen. Unsere Tante hat uns nämlich Lampions mitgebracht, die von eigenwilliger Schönheit sind. Meine Brüder bekommen Papierlaternen in Form eines Truthahns und Gockelhahns geschenkt, und ich darf einen schillernd bunten Erpel-Lampion mein eigen nennen. Endlich fängt es langsam an zu schummern, und ich setze mich schon erwartungsvoll in die gemütliche Laube auf die rustikale Holzbank, die mein Vater gezimmert hat. Diese Laube ist ringsherum dicht mit Stangenbohnen umwachsen, und auch die Blätter der rankenden Gemüsepflanze ergeben ein dichtes schützendes grünes Dach. Ich fühle mich in dieser Behausung wie in einem Naturparadies, einem Ort der Glückseligkeit.

Mit frischen Möhren, die noch Wassertropfen an ihren Spitzen haben, kommen die Brüder von der Regentonne her gelaufen und geben auch mir etwas „Futter“ gegen den aufkommenden Hunger. Danach holt unsere Mutter die Kerzen aus der Tasche, die sie von zu Hause mitgebracht hat. Das Aufstecken der Lichter in den Laternen und das Richten der Haltegriffe ist offenbar Vatersache. Inzwischen ist es auch tatsächlich dunkel geworden, und es weht kein Wind. Mit einem Streichholz zündet unser Vater die Lichter in den wunderschönen Lampions an, und erst jetzt kommen die Farben so richtig zu ihrer Geltung. Und alle Seligkeit auf Erden hat in meinem kleinen Kinderherz Platz. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dasaß, mit dieser herrlich bunten Papierlaterne in der kleinen Hand, die ich als Leuchtkugel hoch gegen den tiefdunkelblauen Sommernachthimmel hielt. Aber ich bin gewiss, dass dieser goldene Sommertag einer der schönsten Tage in meinem Leben war.


An meine fröhliche Mutter

Ich denke jetzt mit zunehmenden Jahren so oft

in großer Dankbarkeit an dich.

Du hast mich vom beginnenden Frühling,

wenn im Wald die ersten gelben Schlüsselblumen blühten,

bis in den späten bunten Herbst hinein

fast jeden Nachmittag in deinen großen

wunderschönen Garten mitgenommen.

Du warst eine liebevolle fröhliche Gärtnerin.

Ich habe dich niemals stöhnen gehört,

 

auch wenn im Sommer die Sonne heiß

vom blauen wolkenlosen Himmel schien,

hast du mit Freuden den großen Korb

mit roten Erdbeeren randvoll gefüllt

und bis nach Hause geschleppt.

Liebe Mutter, ich sehe dich noch heute,

wie du mit dem abgerundeten Holzstil der Harke,

in die vorbereiteten Beete

Rillen in die fein geharkte Erde gezogen

und dann mit dem Samentütchen in der Hand

Radieschen, Möhren, Kapuzinerkresse,

Ringelblumen und Goldlack

in gebückter Haltung ausgesät

und mit deiner fleißigen Hand

mit Erde zugedeckt hast.

Die schönste Laube mit den rot blühenden Stangenbohnen

war aus Glück geflochten, sie schenkte mir,

wenn ich auf der Holzbank in der Naturlaube saß,

Geborgenheit und Glückseligkeit.

Und wenn ich leicht wie ein bunter Schmetterling

auf den Wegen durch den fruchtigen Paradiesgarten hüpfte,

von den roten und weißen süßen Johannisbeeren

und zarten Schoten naschte,

war ich im Himmel auf Erden.

In sehr dankbarer Erinnerung

an meine längst verstorbene

fröhliche Mutter und begeisterte Gärtnerin.


Als Kind hab ich

die Schlüsselblumen gepflückt,

die da blühten im nahen Wald.

Der Mai war da

und Muttertag.

Ich wollte den Dank

an meine Mutter

reichlich und sichtbar

in meinen kleinen

festen Händen haben.


Wenn es draußen ungemütlich wird und die ersten Nachtfröste im Wetterbericht angekündigt werden, dann werden immer noch alte Kindheitserinnerungen in mir wach. Damals vor über 70 Jahren hatten in Hinterpommern die Wohnungen für die kalte Jahreszeit alle Doppelfenster, die im Sommer in der Bodenkammer aufbewahrt wurden. Wenn aber die ersten kalten Herbststürme um die Häuser Blasmusik machten, und die letzten Blätter von den Bäumen fegten, dann schleppte mein Vater die schützenden Doppelfenster die vielen Treppenstufen vom Dachboden bis in unsere Wohnung. Doch bevor der Vater den ‚Kälteschutz’ einsetzte, putzte meine Mutter die Glasscheiben erst blitzblank. Im Wohnzimmer stand ein großer brauner Kachelofen, der eine behagliche Wärme verbreitete. Das Heizmaterial für diesen Wärmespender wurde rechtzeitig beim Kohlenhändler bestellt. Ich kann mich noch heute an die Männer erinnern, wie sie von der schweren Last gebeugt, ihre dunklen Kapuzen über ihre Köpfe gezogen hatten, und die gefüllten Säcke mit Kohlen, Holz und Briketts in unseren Keller trugen. Es war dann unseres Vaters Amt, die anthrazitfarbenen glänzenden Briketts fein säuberlich an einer Kellerwand aufzustapeln. Auf einem Hackklotz spaltete der Familienvater die dicken Holzscheite zu feinem Anmachholz, immer etwas auf Vorrat, damit die Mutter von dieser Arbeit befreit war.

Meine fleißige und fürsorgliche Mutter hatte in einem anderen Kellerraum einen nicht zu übersehenden Vorrat an verschiedenem Gemüse und vor allem auch Obstsorten, die sie im eigenen großen Garten selber geerntet hatte. Die zahlreichen Weckgläser, die die reiche Ernte beherbergten, standen fein säuberlich aufgereiht in den Holzregalen, die der Vater eigens dafür gebaut hatte. In einer großen Kiste lagerten etliche Zentner Kartoffeln. Diese wertvolle Nahrung musste mengenmäßig bis zur Ernte der Frühkartoffeln im eigenen Garten reichen. In den Gemüseläden und Lebensmittelgeschäften wurden damals im Winter keine Kartoffeln in kleinen Mengen angeboten.


In Hinterpommern waren damals vor über siebzig Jahren die Winter sehr beständig. Der Schnee lag öfter wochenlang, und es war bitterkalt. Man brauchte im Winter die Doppelfenster. Der Vater hatte sie rechtzeitig im Herbst aus der Dachkam­mer, in der sie den Sommer über stationiert waren, herunter getragen und in die Rahmen eingesetzt. Von der Mutter waren die Glasscheiben blitzblank geputzt worden. Es war alles für den Einzug des Winters vorbereitet. Auch das Brennholz und die Briketts zum Beheizen der Kachelöfen waren im Keller aufgestapelt.

Eines Nachmittags, der Himmel war schon den ganzen Tag über so grau, schneevolle Wolken hingen tief und schwer, fing es ganz langsam an zu schneien. Weiße Flocken tanzten lustig auf die Erde hernieder. Das kleine Mädchen hatte aus Steinbauklötzen Häuser gebaut, in denen die „Mensch-ärgere-Dich-nicht“-Puppen zu lebendigen Menschen wurden. Es war ganz in dieses Spiel versunken, da rief einer der beiden älteren Brüder: „Es schneit, guck mal, es schneit!“ Schnell lief das Mädchen ans Fenster und drückte das Näschen neugierig an die Scheibe, und das Herz hüpfte vor Freude, machte Luftsprünge beim Anblick des fallenden Schnees. Verzaubert sahen Bäume, Zäune, die ganze Erde aus. Temperamentvoll bat es gleich den Vater, ihr doch den Rodelschlitten vom Boden zu holen. Aber der machte ihm verständlich, dass erst noch viel mehr Schnee fallen müsse, damit der Schlitten auch gleiten könne.

Aufgeregt, erwar­tungsvoll und ungeduldig blieb das Kind dann auch eine ganze Zeit am Fenster stehen, bis der Vater die Schneedecke für hoch genug zum Rodeln befand. Es ließ ihm auch nicht eher Ruhe, bis er den Schlitten die Treppen herunter getragen hatte. Inzwischen hatte es sich Trainingshosen, Mantel, Mütze und Handschuhe angezogen. Die älteren Brüder wollten natürlich auch im ersten Schnee dieses Winters rodeln. Zum Lenken brauchte sie ohnehin noch einen verlässlichen Steuermann. Sie stapften gemeinsam durch den pulvrigen Schnee und zogen vereint den Schlitten hinter sich her. Am größten Berg angekommen, fuhren sie die steilsten Abhänge, glattesten Bahnen herun­ter.

Kalter Wind sauste um ihre Köpfe. Mit geröteten Wangen zogen sie den Schlitten nach jeder Abwärtsfahrt wieder den Berg hinauf. Die Herzen jubelten, die Kinder lachten, der Schnee wurde aufgewirbelt. Ehe sie es bemerkten, legte die Dun­kelheit ihren schwarzen Mantel sanft über die weiße Pracht.

Nasse Wollhandschuhe, kalte Füße, leere Mägen, so zogen sie etwas müde, aber herrlich ausgetobt, zufrieden ihren Schlitten an vereister Schnur nach Hause. Bei Muttern war es wohlig warm, und sie hängten die nassen Kleidungsstücke neben den großen Kachelofen zum Trocknen auf. Aus der Ofenröhre kamen Düfte zischen der Bratäpfel. Sie labten sich an dieser heißen süßen Köstlichkeit und gingen dann selig trunken in ihre Betten. Nachts träumte das kleine Mädchen, dass der Schnee noch lange liegen bleiben möge.


Das kleine Mädchen wartet auf das schönste Erlebnis, an das es sich erinnern kann. Und so fragt es voller Ungeduld immer wieder: „Mama, wie lange dauert es noch bis Weihnachten ist?“ – „Jetzt musst du nur noch dreimal schlafen, dann ist Weihnachten“, sagt die verständnisvolle Mutter. Die freudige Spannung wächst von Tag zu Tag in dem fröhlichen Kind. Es spielt hingebungsvoll mit seinen Puppen. In dieses Spiel versunken spricht die Puppenmutter mit ihren Kindern: „Dreimal müsst ihr noch schlafen, dann ist endlich Weihnachten“, sagt sie und legt das Julchen und den Peter ins Puppenbettchen und deckt sie beide fürsorglich zu. Die große Vorfreude steigert sich in dem Kind in einen spannungsvollen Zustand. Es weiß aus der Erinnerung, dass das Weihnachtsfest etwas Wunderbares ist.

Am Heiligenabend steht der duftende grüne Nadelbaum im Wohnzimmer auf einem Tisch. Geschmückt mit gelben Lichtern, blauen und roten Kugeln, silbernen Glöckchen und einem niedlichen Schneemann bestaunt das Kind andächtig den Baum, als käme er aus einem verzauberten Märchenwald. Immer wieder entlockt die Erwartungsvolle dem silbernen Glöckchen einen hellen lieblichen Klang. Auf dem Tisch liegt eine Decke, die die Mutter nur zu Weihnachten auflegt. Sie hat auf den weißen Stoff grüne Tannenzweiglein und gelbe Lichter gestickt. Die Eltern, die Brüder und auch das Nesthäkchen sind festlich gekleidet. Zuerst singt die Familie viele frohe Weihnachtslieder. Zwischendurch schweifen die Augen des aufgeregten Mädchens immer wieder zu dem Gabentisch, auf dem einige Schachteln, Kartons und Beutel liegen. Der Vater versteht die Ungeduld der Kinder besonders gut. Auf allen hübsch verpackten Geschenken steht der Name des Empfängers. Weil das kleine Mädchen noch nicht lesen kann, hat die Mutter auf seine Schachteln ein großes rotes Herz gemalt. Rasch entfernt das Kind mit seinen kleinen Händen die Verpackung. Die Augen werden sehr groß und das Herz vor Freude weit. Ein blechernes Puppen – Kaffeeservice das mit Märchenbildern aus „Schneewittchen und den sieben Zwergen“ bunt bemalt ist, lässt das Herz des Kindes vor Freude glückselig hüpfen. Dann spielt es ganz versunken und deckt den Tisch für seine Puppenkinder mit einer nicht zu übersehenden Hingabe. Einen runden braunen Pfefferkuchen bricht die Puppenmutter in kleine Stöckchen, verteilt sie auf die ‚Märchenteller’ und füttert ihr Julchen und ihren Peter mit dem köstlichen Backwerk und den Worten: „So, jetzt sind wir ganz reich und haben selber Teller, Tassen und eine Kaffeekanne.“ – So einfach ist es, ein kleines Mädchen glücklich zu machen!

Dann kommt das Mädchen in ein Alter, in dem es selber für Mutter und Vater eigene kleine Geschenke bastelt. Die Mutter bekommt ein selbst genähtes Nadelkissen. Und Vater freut sich über ein bunt gestaltetes Lesezeichen. Dies geschieht alles aus einem inneren Bedürfnis heraus. Jahre gehen ins Land. Als Auszubildende bekommt die junge Frau am Heiligenabend von ihrem Chef, dem Zahnarzt, dem sie das ganze Jahr über fleißig assistiert und unzählige Überstunden leistet, einen nicht sehr großen Geldschein geschenkt. Zusammen schlendert sie mit ihrer gleichaltrigen Kollegin nach Praxisschluss in froher Stimmung durch die Einkaufsstraße. Einen dringend benötigten Regenschirm ersteht sie für ihre weiten Fußmärsche zur Arbeitsstelle bei Wind und Regen. Für die Mutter kauft sie ein Paar dünne Damenstrümpfe, die immer gebraucht werden. Die Krönung ersteht sie im Blumenladen. Einen Mimosenstrauß, so zart und so gelb, wickelt die Floristin in weißes Papier. Mit diesen kleinen leuchtenden Sonnen im kalten Winter erwärmt sie das Herz der fürsorglichen Mutter. „Mama, ich möchte dir mit deinen Lieblingsblumen danke sagen, für das oftmals späte Abendbrot, das du mir so liebevoll zubereitest.“