Buch lesen: «Einführung Ernährungspsychologie»
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PsychoMed compact – Band 2
Die Reihe wurde begründet von Prof. Dr. Hans Peter Rosemeier (†) und Prof. Dr. Nicole von Steinbüchel; sie wird herausgegeben von Prof. Dr. Nicole von Steinbüchel und Prof. Dr. Elmar Brähler.
Prof. Dr. habil. Christoph Klotter ist Professor für Ernährungspsychologie und Gesundheitsförderung an der Hochschule Fulda.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
UTB-Band-Nr. 2860
ISBN 978-3-8252-5528-2 (Print)
ISBN 978-3-8385-5528-7 (PDF E-Book)
ISBN 978-3-8463-5528-2 (EPUB)
4., aktualisierte Auflage
© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in EU
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Covermotiv: nach einer Gestaltung der Agentur ZERO, München
Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de
Inhalt
Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches
1 Gesellschaftlich-kulturelle und soziale Determinanten der Ernährung
1.1 Schlaraffenland
1.2 Zwei Ernährungstraditionen: die mediterrane und die „barbarische“
1.3 Kulturelle und soziale Lebensmittelpräferenzen
1.4 Arm und reich: Essen als Mittel der sozialen Distinktion
1.5 Kultur und Essstörungen
1.6 Soziale Lage und Gesundheit
1.7 Soziale Lage und Ernährung
1.8 Sozialisation und Ernährungsverhalten
1.9 Soziologische Modelle der Ernährung
1.10 Zusammenfassung des ersten Kapitels
1.11 Fragen zum ersten Kapitel
2 Psyche, Soma und die Nahrungsaufnahme
2.1 Die klassische Psychosomatik
2.2 Von der klassischen Psychosomatik zum bio-psycho-sozialen Modell
2.3 Ein somatopsychischer Zusammenhang: Wie wirkt sich Ernährung auf die Psyche aus?
2.4 Verhaltensmedizin
2.5 Zusammenfassung des zweiten Kapitels
2.6 Fragen zum zweiten Kapitel
3 Psychologische Schulen und Ansätze: ihre Perspektiven auf ungestörtes/gestörtes Ernährungsverhalten
3.1 Lerntheorien
3.1.1 Pawlow: Klassisches Konditionieren
3.1.2 Skinner: Operantes Konditionieren
3.1.3 Das Menschenbild und das Forschungsprogramm des Konditionierens
3.1.4 Kognitive Lerntheorien
3.2 Psychoanalyse
3.2.1 Die Grundannahmen der Psychoanalyse
3.2.2 Die Triebtheorie
3.3 Humanistische Ansätze
3.3.1 Die Grundannahmen der Humanistischen Ansätze
3.3.2 Maslow
3.3.3 Rogers
3.4 Kognitive Ansätze
3.5 Systemische Ansätze
3.6 Historische Ansätze
3.7 Biografische Ansätze
3.8 Zusammenfassung des dritten Kapitels
3.9 Fragen zum dritten Kapitel
4 Essstörungen
4.1 Was ist eine Krankheit?
4.2 Adipositas
4.2.1 Definition und Diagnose
4.2.2 Epidemiologie
4.2.3 Folgeerkrankungen, psychosoziale Konsequenzen und gesellschaftliche Kosten
4.2.4 Ätiologie
4.2.5 Eine Fall-Vignette zur Adipositas: Frau A
4.3 Bulimia nervosa
4.3.1 Definition und Diagnose
4.3.2 Epidemiologie
4.3.3 Folgeerkrankungen, psychosoziale Konsequenzen und gesellschaftliche Kosten
4.3.4 Ätiologie
4.3.5 Eine Fall-Vignette zur Bulimia nervosa: Frau B
4.4 Anorexia nervosa
4.4.1 Definition und Diagnose
4.4.2 Epidemiologie
4.4.3 Folgeerkrankungen und gesellschaftliche Kosten
4.4.4 Ätiologie
4.4.5 Fall-Vignette zur Anorexia nervosa: Frau C
4.5 „Binge-Eating“ -Störung
4.6 Der Einfluss der sozialen Medien auf das eigene Körperbild und das Essen
4.7 Zusammenfassung des vierten Kapitels
4.8 Fragen zum vierten Kapitel
5 Gesundheitspsychologische Modelle und Ernährungsverhalten
5.1 Health Action Process Approach oder Das Sozial-kognitive Prozessmodell gesundheitlichen Handelns nach Schwarzer
5.2 Das Transtheoretische Modell der Verhaltensänderung nach Prochaska
5.3 Salutogenese nach Antonovsky
5.4 Zusammenfassung des fünften Kapitels
5.5 Fragen zum fünften Kapitel
6 Interventionen
6.1 Gesundheitsaufklärung und -erziehung
6.2 Prävention
6.3 Verhaltens- oder Verhältnisprävention
6.4 Gesundheitsförderung
6.5 Beratung
6.5.1 Grundlagen der Beratung
6.5.2 Ein Beispiel für ein Beratungsgespräch
6.6 Psychotherapie
6.6.1 Verhaltenstherapie
6.6.2 Psychoanalyse
6.6.3 Die Gesprächspsychotherapie nach Rogers
6.7 Störungsspezifische Interventionen bei Essstörungen
6.7.1 Störungsspezifische Interventionen bei Adipositas
6.7.2 Störungsspezifische Interventionen bei Bulimia nervosa und Anorexia nervosa
6.8 Effekte von Interventionen gegen Essstörungen
6.8.1 Effekte bei der Adipositasbehandlung
6.8.2 Effekte bei der Behandlung von Bulimia nervosa und Anorexia nervosa
6.9 Public Health und Public Health Nutrition
6.10 Zusammenfassung des sechsten Kapitels
6.11 Fragen zum sechsten Kapitel
7 Wissenschaftstheorie und Forschungsmethoden
7.1 Was ist empirische Forschung?
7.2 Wissenschaftstheorie
7.3 Forschungsmethoden
7.4 Epidemiologie
7.5 Zusammenfassung des siebten Kapitels
7.6 Fragen zum siebten Kapitel
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur
Sachregister
Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches
Zur schnelleren Orientierung wurden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:
Literaturempfehlungen | |
Begriffserklärung, Definition | |
Pro und Contra, Kritik | |
Beispiel | |
Forschungen, Studien | |
Fragen zur Wiederholung am Ende der Kapitel |
1 Gesellschaftlich-kulturelle und soziale Determinanten der Ernährung
Im Folgenden werden zunächst einige gesellschaftlich-kulturelle Determinanten der Ernährung kurz abgehandelt. Hierbei werden auch geschichtliche Bezüge dargestellt. Dies ermöglicht einerseits eine Einschätzung unserer derzeitigen Ernährungssituation. Nur über den Blick in die Geschichte wird klar, wo wir heute stehen. Andererseits soll ersichtlich werden, dass Essverhalten nicht nur durch körperliche oder psychische Einflussgrößen bestimmt wird. Es ist also nicht nur das Individuum, das sagt: „Heute möchte ich Fleisch essen, morgen Fisch“. Vielmehr gibt es hierzu eine Vielzahl gesellschaftlicher und kultureller Vorgaben, die, ohne dass wir dies so genau wissen, uns stark beeinflussen.
Bei einem nur oberflächlichen Blick in die Geschichte wird klar, dass wir (Bewohnerinnen und Bewohner westlicher Industrienationen) in einer fast einzigartigen Situation leben: in der Epoche des Nahrungsüberflusses.
Ernährungstraditionen
Die Ernährungsweise, die in Deutschland üblich ist, entstammt nicht einer Ernährungstradition, sondern zweier, die überdies noch widersprüchlich sind: der mediterranen und der „barbarischen“. Ist die erstere eher maßvoll und vegetarisch, so ist die andere tendenziell maßlos und fleischorientiert. Dass dies zu Konflikten führt, ist naheliegend.
Beim Blick auf die Geschichte wird ebenfalls klar, dass Lebensmittelpräferenzen – unabhängig der genannten beiden Ernährungstraditionen – starken gesellschaftlich-kulturellen Einflüssen unterliegen. Warum verbietet die eine Kultur den Genuss von Katzen und die andere nicht? Wie ist es zu erklären, dass die Kartoffel in unserer Kultur lange verpönt war, sich dies aber dann änderte?
Essen und Macht
Nahrungsaufnahme ist nicht nur Physiologie, ist nicht nur Psychologie, sie ist auch mit gesellschaftlicher Macht verwoben. Durch fast die gesamte Geschichte hindurch wird z. B. mit Festgelagen oder mit dem Verspeisen von luxuriösen Lebensmitteln gezeigt, in welchen Händen die gesellschaftliche Macht liegt. Die Nahrungsaufnahme ist ein Indikator dafür, zu welcher gesellschaftlichen Gruppe eine Person gehört. Mit ihrer Hilfe grenzt sich die eine gesellschaftliche Gruppe von der anderen ab. Vielleicht mag eine Person, die heute lebt, kein japanisches Essen. Da es aber „in“ ist, muss sie es sozusagen essen und vielleicht sogar auch noch gut finden. Damit teilt diese Person mit, dass sie zur gesellschaftlichen Elite gehören will.
Essstörung und Kultur
Eine bestimmte Kultur determiniert nicht nur das Essverhalten. Sie nimmt auch Einfluss darauf, was als Essstörung gilt und was nicht. Im spätantiken Rom wurde bei einem Gelage, um möglichst viel essen zu können, zwischenzeitlich das Vomitorium aufgesucht, in dem man sich durch Erbrechen erleichtern konnte. Die Römer haben dies aber nicht als Krankheit begriffen. Wir tun dies hingegen.
Nach den gesellschaftlich-kulturellen werden die sozialen Determinanten vorgestellt. Zu Kultur und Sozialem gibt es zahlreiche und unterschiedliche Definitionen. Hier soll eine einfache Unterscheidung getroffen werden. In Abgrenzung zu den kulturellen Faktoren, die im Prinzip eine ganze Gesellschaft in einer bestimmten Epoche betreffen, werden mit sozialen Faktoren Determinanten gemeint, die die Binnenstruktur einer Gesellschaft bestimmen. Es geht hierbei auch um die Unterschiede in einer Gesellschaft, um z. B. unterschiedliche soziale Schichten. Die Frage nach den sozialen Faktoren stellt sich also, weil eine Gesellschaft nicht homogen ist. Auch die Lebensbedingungen unterscheiden sich in einer Gesellschaft gravierend. Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ernähren sich ebenfalls unterschiedlich – und das nicht unbedingt aus freien Stücken, sondern häufig auch aus ökonomischer Not.
Zunächst soll betrachtet werden, welchen Einfluss die soziale Lage grundsätzlich auf die Gesundheit hat. Anschließend ist zu erörtern, wie speziell die soziale Lage die Ernährung beeinflusst. Des Weiteren ist zu fragen, welche unterschiedlichen Sozialisationstypen zu möglicherweise unterschiedlichen Typen von Ernährungsverhalten führen. Das Kapitel soll abgeschlossen werden mit allgemeinen, eine ganze Gesellschaft betreffenden, soziologischen Modellen zum Ernährungsverhalten. Diese Modelle befassen sich mit dem Thema, welche sozialen Funktionen die Ernährung und das Essen haben.
1.1 Schlaraffenland
der Hunger der Vorfahren
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Personen mit einem gerin-geren sozioökonomischen Status höhere Morbiditäts- und Mortalitätsraten aufweisen. Gesundheit ist also deutlich mit sozialer Ungleichheit verbunden (Mielck 2000, 2012; Helmert 2003; Kroll 2010). In einer historischen Perspektive relativiert sich diese Ungleichheit dahingehend, dass es uns allen vor dem Hintergrund der Menschheitsgeschichte erstaunlich gut geht. Menschen, die z. B. vor 15.000 Jahren gelebt haben, hätten unsere Lebenssituation als Schlaraffenland gepriesen. Diese Menschen, die mitunter tagaus tagein auf der Suche nach Nahrung waren und immer wieder mehr schlecht als recht überlebten und häufig von Hungersnöten – aber auch permanent von Raubtieren – bedroht waren, diese Menschen hätten sich vermutlich nichts sehnlicher gewünscht, als vom Staat monatlich eine bestimmte Summe an Geld zu bekommen, mit der man ohne weiteres überleben kann.
höhere Lebenserwartung
Vielleicht hätten uns unsere Vorfahren auch um unsere Lebenserwartung beneidet. Diese lebten im Schnitt nur ca. 30 Jahre lang. Unsere Lebenserwartung dagegen ist auch aufgrund der sehr guten Lebensmittelversorgung stetig steigend. Kinder, die heute geboren werden, haben sehr gute Chancen, 90 bis 100 Jahre alt zu werden.
Schlaraffenland bedeutet auch, dass wir heute nicht tagaus tagein ausschließlich mit der Nahrungssuche beschäftigt sind. Unsere Vorfahren hatten vielfach zu nichts anderem Zeit, als sich Nahrung zu beschaffen. Heute hingegen arbeiten wir etwa acht Stunden pro Tag und geben keineswegs alles Geld nur für das Essen aus: Es reichen heute in der Bundesrepublik ca. 13% des Durchschnittseinkommens aus, um die Ernährung sicherzustellen. Vor 40 Jahren mussten die Deutschen noch 30% in die Ernährung investieren.
vergiftetes Paradies
Das menschliche Gedächtnis eignet sich eventuell nicht dazu, sich zu vergegenwärtigen, dass es uns heute in Europa, was die Nahrungsversorgung betrifft, ganz ungewöhnlich gut geht. Im Gegenteil: Das Schlaraffenland begünstigt offenbar Vergiftungsfantasien. Bestseller wie „Iss und stirb“ (Kapfelsperger/Pollmer 1982) greifen diese Fantasien auf und füttern sie. Mit diesen Fantasien verleugnen wir möglicherweise kollektiv, wie gut es uns eigentlich geht. Vielleicht haben wir auch gegenüber den Menschen ein schlechtes Gewissen, die in den Entwicklungsländern unter der Armutsgrenze leben und hungern oder verhungern. Wenn wir dann annehmen, die Qualität unserer Lebensmittel sei nicht gut, dann wähnen wir uns quasi selbst in einem Entwicklungsland.
1.2 Zwei Ernährungstraditionen: die mediterrane und die „barbarische“
Maß oder Maßlosigkeit
Die ersten Menschen lebten ungefähr vor zwei Millionen Jahren. Vor 300.000 Jahren begannen Menschen damit, das Feuer bei der Nahrungszubereitung zu nutzen. Aber erst vor 150.000 Jahren gelang es den Menschen, systematisch das Feuer selbst herzustellen (Hirschfelder 2001). Um 10.000 v. Chr. begann das agrarische Zeitalter und damit eine im Prinzip bessere Absicherung menschlichen Überlebens. Damit verbunden war eine eher vegetarische Ernährung. Diese war vor allem ein Merkmal für die griechische und römische Antike. Der durch seine Kargheit und geringe Ergiebigkeit gekennzeichnete mediterrane Raum erlaubte keine umfangreiche Produktion von Fleisch. Aber gerade durch die Schwierigkeit, im Mittelmeerraum zu überleben, entstanden Hochkulturen, die sich u. a. in einer ausgeprägten Kunstfertigkeit in Naturbeherrschung äußerten. Korn, Wein und Ölbäume sind die Leitpflanzen dieser Kultur. Von den Körnern wiederum ist der Weizen die typische Kulturpflanze des mediterranen Raumes.
Die von Griechen und Römern als Barbaren bezeichneten Kelten und Germanen dagegen nutzten die unberührte Natur und jagten und sammelten dort, was sie zum Leben brauchten. Die Figuren aus „Asterix und Obelix“ legen hiervon Zeugnis ab. Die „Barbaren“ haben keine typische Kulturpflanze, stattdessen aber ein typisches Tier: das Schwein. Steht die griechisch-römische Antike unter dem ethischen Gebot der Mäßigung, das die Nahrungsaufnahme mit einschließt, so dominiert bei den „Barbaren“ die gegenteilige Vorstellung: Ein wahrer Mann zeichne sich darüber aus, dass er so viel wie möglich an Fleisch und Alkohol zu sich nehmen könne.
„Eine tiefe Kluft trennte die ‚römische‘ Welt von der ‚barbarischen‘ … und tatsächlich müssen wir eingestehen, daß zwei Jahrtausende gemeinsamer Geschichte nicht ausgereicht haben, ihre Spuren zu beseitigen.“ (Montanari 1993, 22)
Diese Feststellung von Montanari besitzt noch immer ihre Gültigkeit. Dies lässt sich daran erkennen, dass z. B. die Deutsche Gesellschaft für Ernährung die mediterrane Kost als ideale Nahrungsform begreift und mit diesem Ideal gegen die maßlose und fleischorientierte „barbarische“ Kostform zu Felde zieht. Das bedeutet auch, dass wir heutzutage noch immer im Konfliktfeld dieser beiden Kostformen leben.
In einer prototypischen Familie mag es noch immer vorkommen, dass der Vater auf dem täglichen Fleischgericht besteht. Für ihn ist dies Ausdruck von Wohlstand und Sozialprestige. Die Tochter giftet ihn mit ökologischen Argumenten an und ernährt sich vegetarisch. Dem Sohn ist dies alles ziemlich gleichgültig, und die Mutter versucht, Grünkernbratlinge einmal die Woche in den Speiseplan zu integrieren.
Die beiden Ernährungstraditionen spiegeln sich auch in unterschiedlichen Arten von Restaurants wider. Je nobler ein Restaurant ist, umso kleiner sind die Portionen, je ländlicher ein Gasthaus ist, umso stärker müssen die Teller beladen sein.
Kirche contra „Barbaren“
Eigentlich hätte die mediterrane Kost an Bedeutung verlieren müssen, da die „Barbaren“ Rom besiegten und bekanntlich der Sieger sich auch kulturell durchsetzt. Wenn da nicht die römischkatholische Kirche die antike Tradition fortgeführt hätte und auf ihrem Siegeszug durch Europa Brot, Wein und Öl zu den Symbolen des neuen Glaubens gemacht hätten.
1.3 Kulturelle und soziale Lebensmittelpräferenzen
In seinem Klassiker „Wohlgeschmack und Widerwillen – Die Rätsel der Nahrungstabus“ (1988) ist Harris der Frage nachgegangen, warum in einigen Kulturen Kühe nicht gegessen werden dürfen, in anderen keine Schweine. In unserer Kultur neigen wir dazu, weder die Hauskatze noch den Haushund zu verspeisen. Auch Insekten haben es uns nicht angetan. Harris sieht die jeweiligen Nahrungstabus nicht als willkürliche und irrationale Setzungen einer Kultur an, sondern begreift sie als höchst rational, auch wenn diese Rationalität nicht bewusst ist. Sein Resümee lautet: Eine Kultur verbietet das, was das Überleben dieser Kultur erschwert, was ihre Ernährungssituation beeinträchtigen würde (alternative Theorien zu der von Harris werden weiter unten aufgezeigt).
Wenn jemand in unserer Kultur einer westlichen Industrienation den kleinen Pudel am Sonntagmittag als Festbraten nicht verzehren will, so handelt es sich hierbei nicht um einen individuellen Tick, sondern um das Einhalten einer kulturellen Norm. Harris führt das europäische Tabu des Verbots, Haustiere zu verspeisen, u. a. darauf zurück, dass Haustiere in unserer Kultur wichtige andere Funktionen erfüllen und als Proteinlieferanten weniger Bedeutung haben.
identitätsstiftende Zivilisation
Von Montanari (1993) stammt das eben skizzierte Beispiel zweier Ernährungstraditionen und damit verbundener Lebensmittelpräferenzen (mediterran vs. „barbarisch“), die sich ungemein beharrlich über Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende, aufrechterhalten. Von der Mentalitätsgeschichtsschreibung wird diese „Schwerfälligkeit“ einer Kultur als spezifisches Charakeristikum einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Zivilisation begriffen. Eine Zivilisation zeichnet sich gerade dadurch aus, dass bestimmte Werte und Strukturen die Jahrhunderte überdauern. Ernährung ist insofern auch zivilisationsstiftend, und diejenigen Menschen, die sich auf eine bestimmte Weise ernähren, fühlen sich so einer bestimmten Kultur zugehörig. In dieser Perspektive könnte man den geschichtlichen Prozess als sehr langsam begreifen, wenn man diesbezüglich dann überhaupt noch von Prozess sprechen kann.
Von dieser Langsamkeit zeugt auch die Einführung neuer Lebensmittel, die z. B. aus der Neuen Welt nach Europa gebracht wurden. Kartoffel und Mais wurden, obwohl sie bereits sehr viel früher als genügsame und ertragreiche Pflanzen den Hunger erheblich hätten lindern können, von der Bevölkerung nur sehr zögerlich angenommen (Prahl/Setzwein 1999). Es dauerte Jahrhunderte, bis sie akzeptiert waren. Und der Mais hat sich, weil er den Geruch, die Nahrung der armen Leute zu sein, nie ablegen konnte, bei uns nicht richtig durchgesetzt (Montanari 1993).
Was soll uns das Beispiel der Einführung von Kartoffel und Mais sagen? Vor den individuellen Lebensmittelpräferenzen liegen die kulturellen, die kollektiven. Vor den individuellen Präferenzen liegen aber auch die sozialen. Diejenigen Lebensmittel sind attraktiv, die die oberen sozialen Schichten konsumieren. Die unteren Schichten imitieren häufig das, was „oben“ geschieht (Elias 1978). Also auch hier ist die individuelle Präferenz sekundär.
kollektives Trinken – einsamer Zecher
Beim Drogenkonsum lassen sich ebenfalls kulturelle Präferenzen erkennen. Darauf macht Spode (1999) aufmerksam. So sei es eine Besonderheit des neuzeitlichen europäischen Alkoholkonsums, dass der exzessive Rausch als kollektives Erleben als unstatthaft gilt. Dieser sei früher legitim gewesen: „Ein Beispiel hierfür ist die Selbstverständlichkeit des Erbrechens beim archaischen Trinkgelage.“ (29) Bis zur Neuzeit habe man dagegen den „einsamen Zecher“ nicht gekannt. Auch die Mengen des Konsums scheinen kulturell-historischen Prozessen zu unterliegen. So wurden im frühen Mittelalter Mönchen in St. Gallen täglich fünf Maß Bier automatisch zugeteilt. Auch wenn das Bier damals vielleicht nicht den gleich hohen Alkoholanteil wie heute hatte, würden wir heutzutage eine tägliche Ration von fünf Maß Bier zumindest als sehr bedenklich einstufen. Aber auch zu Beginn der Neuzeit wurden Mengen an Bier getrunken, die heute in unserer Kultur nicht mehr denkbar wären: „Im 15./16. Jh. galt bei Adel und wohlhabenden Bürgern ein Jahreskonsum um 1000 Liter, teils auch das Doppelte, als gesund und standesgemäß.“ (39) Auch dass Kaffee- und Teegenuss in den letzten beiden Jahrhunderten den Konsum von Alkohol zurückgedrängt haben (Teuteberg 1999; Rothermund 1999), ist zunächst ein kultureller Prozess und erst dann ein individueller.
Zwang zur Individualität
Bisher konnte mit Hilfe einiger Beispiele gezeigt werden, dass unsere Ernährungsgewohnheiten weit weniger individuell ausgeprägt sind, als wir vermutlich erwartet haben. In den Zeiten der Individualisierung, in denen jeder Mensch seinen unverwechselbaren und eigenen Weg gehen muss (Beck-Gernsheim 1993), fühlen wir uns verpflichtet, in allem besonders individuell und einzigartig zu sein – auch bei der Nahrungsaufnahme. Deshalb favorisieren wir die Ausblendung kultureller und geschichtlicher Faktoren, die uns leider klar machen, dass die Kultur sehr viel darüber bestimmt, was und wie wir essen und was wir nicht essen (Ventura/Worobey 2013; Anderson 2014).
1.4 Arm und reich: Essen als Mittel der sozialen Distinktion
Fleisch und Macht
Die Kluft zwischen der mediterranen Kost und der „barbarischen“ ist bis heute nicht geschlossen, aber es steht außer Zweifel, dass sich beide Kostformen vermischt haben. Zwar hat die römisch-katholische Kirche einen teilweise erbitterten Krieg gegen die Maßlosigkeit geführt, auch wenn sie selbst oft der Völlerei verfallen ist, aber sie konnte nicht verhindern, dass Fleischkonsum zum Statussymbol der oberen Schichten der europäischen Gesellschaften wurde. Die antike Forderung an die Elite der griechischen Stadtstaaten, sich zu mäßigen, blieb im Mittelalter ungehört. Auch christliche Mäßigungsregeln wie das Fasten wurden in dieser Epoche nicht durchgehend umgesetzt. Fleisch und der Konsum hiervon in großen Mengen galten hingegen als untrügerische Indizien für Macht und für eine hohe gesellschaftliche Position. Die Mitglieder der oberen Stände waren sozusagen gezwungen, viel Fleisch zu konsumieren, um sich nach unten abzugrenzen.
Erst seit ca. 50 Jahren können sich die oberen Schichten unserer Gesellschaft nicht mehr durch Fleischkonsum von den unteren Schichten abgrenzen – weil fast alle Schichten die Möglichkeit haben, viel Fleisch zu essen. Die oberen Schichten mussten sich demnach neue Nahrungsgewohnheiten einfallen lassen, um ihren Status angemessen auszuweisen: z. B. durch Vegetarismus oder durch Schlankheit, also einer neuen Form der Mäßigung. Es ist auch gut möglich, sich mit exotischen Kostformen abzugrenzen, z. B. mit der asiatischen Küche in Europa.
Menell (1988) und Montanari (1993) geben eine Fülle von Beispielen, wie Nahrungsmittel genutzt worden sind, um eine soziale Schicht von der anderen sichtbar zu differenzieren. Elias hat in seinem Standardwerk „Über den Prozess der Zivilisation“ (1978), und im Anschluss daran auch Menell (1988), herausgearbeitet, dass nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch die Zubereitungsformen oder die Tischsitten ausgezeichnete Mittel der sozialen Distinktion gewesen sind und es immer noch sind.
Auch heute noch dürfte ein Gourmet-Tempel für die meisten Menschen weniger ein verführerischer denn ein Ort des Grauens sein – muss man schließlich dort die unterschiedlichsten Gläser und Formen von Besteck unterscheiden und benutzen können.
Mit der Moderne und mit der Pluralisierung der Lebenswelten ist es sicherlich nicht mehr so einfach, von den Lebensmitteln und der Art der Zubereitung sowie der Form des Verzehrs auf eine bestimmte soziale Schicht zu schließen, aber dennoch hat die Nahrungsaufnahme als Mittel der sozialen Distinktion gewiss nicht ausgedient (Bourdieu 1987; Andrews 2012; Kahma et al. 2016).
1.5 Kultur und Essstörungen
eigenes Leiden?
Auch wenn Essstörungen in aller Regel und überwiegend leidvoll sind, so sind sie zugleich ein Teil der Persönlichkeit des jeweiligen Individuums. Essstörungen sind identitätsstiftend. Die Betroffenen definieren sich über ihre Essstörung, grübeln darüber, warum ausgerechnet sie bulimisch oder adipös sind. Was aber, wenn auch bei Essstörungen die Kultur mit eine Rolle spielt? Wenn das vermeintlich Ureigenste, das individuelle Leiden auch gesellschaftliche Ursachen hat? Üblicherweise versteht man Essstörungen als Ergebnis von z. B. genetischen Besonderheiten oder als Ausdruck psychischer Konflikte oder als eine Art von Problembewältigung. Keine Frage, dass Essstörungen diesen Hintergrund haben können. Aber eine Essstörung ist auch etwas, was zunächst als Essstörung definiert sein muss.
Definition einer Störung
In aller Regel definiert in unserer Kultur der Ärztestand, was als Störung gilt und was nicht als Störung bezeichnet wird. Das bis zur Neuzeit in Europa übliche exzessive Trinken von Alkohol in der Gemeinschaft gilt heutzutage als Ausdruck einer Pathologie. Es gälte nicht als normal. Eine körperliche oder psychische Auffälligkeit wie übermäßiges Trinken bedarf deshalb stets einer in einer Kultur üblichen Definition, um den Status einer Störung oder Krankheit zu gewinnen (Freidson 1979).
variable Norm
Und diese Definitionen sind relativ variabel. Das bedeutet, dass einmal in einer bestimmten Epoche ein bestimmtes Maß an Übergewicht als Störung gilt, in einer anderen Epoche hingegen als gänzlich normal. Die Betroffenen werden in der Regel die Definition der Experten akzeptieren und sich das eine Mal als krank, das andere Mal als gesund begreifen. Wenn eine Gesellschaft dafür Verständnis hat, dass junge Frauen, um ihr Figurproblem zu lösen, nach den Mahlzeiten erbrechen, dann gibt es keine Bulimia nervosa als anerkanntes Krankheitsbild. Wenn wie noch vor hundert Jahren bei Carl von Noorden, einem der bekanntesten Adipositasforscher seiner Zeit, ein 1,75 m großer Mann an die 90 kg wiegen darf, ohne als übergewichtig oder adipös mit Krankheitswert eingestuft zu werden, dann ist dieser Mann offiziell nicht krank. Er fühlt sich wahrscheinlich auch nicht krank und macht sich keine Sorgen um seinen Gesundheitszustand. Er wird nicht bemüht sein, eine Diät zu beginnen. Er wird nicht darüber nachdenken, welche psychischen Probleme ihn in die Adipositas getrieben haben.
Idealgewicht
Wenn hingegen wie in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts das Idealgewicht als gesundheitlich optimal angepriesen wird und alles Gewicht, das darüber liegt, als lebensverkürzend gilt, wenn sich zusätzlich das vorherrschende Schlankheitsideal der Frauen der Magersucht annähert, dann sind sozusagen von einem Tag auf den anderen große Bevölkerungskreise übergewichtig und adipös (s. Kasten 1.1).
Kasten 1.1: Idealgewicht
Was ist das Idealgewicht? Es berechnet sich nach dem Broca-Normalgewicht, das früher der dominierende Gewichtsindex gewesen ist.
Broca-Normalgewicht = Körpergröße in cm minus 100
Das Idealgewicht ist dann: Broca-Normalgewicht minus 10% für Männer und minus 15% für Frauen.
Früher wurde angenommen, dass das Idealgewicht mit der höchsten Lebenserwartung einhergeht. Heute ist dies umstritten. Das Broca-Normalgewicht berechnet sich zwar einfach, aber es korreliert noch schlechter mit dem relativen Fettanteil am Gesamtkörpergewicht als der Body Mass Index, der weiter unten vorgestellt wird.