Buch lesen: «Schuld und Bühne»

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Jochen Duderstadt

Schuld und Bühne

Schlimme Geschichten

Impressum

Schuld und Bühne

Jochen Duderstadt

Copyright 2012 Jochen Duderstadt

published at epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-2752-9

Ähnlichkeiten zwischen Personen, die leben oder gelebt haben, und solchen Personen, die in den nachfolgenden Erzählungen auftreten, ferner: Ähnlichkeiten zwischen tatsächlichen Ereignissen und den Begebenheiten, die in diesen Erzählungen geschildert werden, sind ausnahmslos zufällig und nicht beabsichtigt.

Ushuaia

Zum ersten Mal gesehen hatte er sie natürlich im Rahmen einer Erstberatung zu ihrem Trennungskonflikt. Außerhalb seines Berufs lernte Scheidungsanwalt Günter Trobitius keine Frauen mehr kennen, und es drängte ihn auch nicht danach, weil er zu der Überzeugung gelangt war, dass seine eigene schon anstrengend genug war. Überdies war er im Laufe der Jahre notgedrungen Frauenversteher geworden, und was er verstanden hatte, ließ das Bedürfnis, sein Privatleben mit weiteren Exemplaren dieses Geschlechts – gleich, in welcher Rolle - auszustaffieren, merklich abschwellen, nicht nur wegen der offenkundigen Defekte ihrer Gefühlswelt, sondern auch wegen des Mangels an unenträtselbaren Geheimnissen.

Die Mandantin war mit einem grauenhaften T-Shirt erschienen, auf dem in unentschlossen stilisierter Form die Ostküste Südamerikas abgebildet war.

Günter Trobitius kannte sich in Geographie einigermaßen aus. Das war nichts, worauf er stolz war. Er hielt das für völlig normal, und er hatte nie aufgehört, sich darüber zu wundern, dass vielen Leuten, auch Akademikern, die geringste Orientierung auf diesem Gebiet fehlte. Dass Omaha im Norden und Oklahoma City im Süden der USA liegt, dass der asiatische Teil Russlands größer ist als der europäische und dass die Osterinsel politisch zu Chile gehört, war ihm ebenso geläufig wie die Tatsache, dass auf den Falckland-Inseln englisch gesprochen wird, dass Indonesien mehr als 200 Millionen Einwohner hat und dass die argentinischen Straußenvögel nicht Emus heißen, sondern Nandus. Einem Geographielehrer zu begegnen, der darauf bestand, dass Lanzarote im Mittelmeer liegt, und der nicht eine einzige kanadischen Prärieprovinz benennen konnte, schlimmer noch: bei Wer wird Millionär einen veritablen Professor dieses Fachs vorgesetzt zu bekommen, der die Kurilen nicht von den Aleuten unterscheiden konnte, machte ihn ebenso fassungslos wie der Drehbuchschreiber eines Tatort-Krimis, in dem der Protagonist von Bulgarien aus über die Grenze nach Moldawien fährt, obwohl Rumänien dazwischen liegt, oder der TAZ-Journalist, der allen Ernstes schrieb, dass der ecuadorianische Nationalpark, zu dessen hälftiger Finanzierung die UNO beitrage (um zu verhindern, dass dort nach Erdöl gebohrt werde), über die Grenze nach Argentinien hineinrage, obwohl ja nun Peru und Bolivien einer solchen Grenzüberschreitung im Wege sind. Gelegentlich erinnerte er sich an eine Stelle in der Autobiographie von Pablo Neruda, in der dieser gelinde Zweifel an den enzyklopädischen Kenntnissen seiner intellektuellen Pariser Freunde äußert, die keine Ahnung haben, wo Chile liegt, aber ganz sicher sind, das es dort Elefanten gibt.

Immer wenn Günter Trobitius, dessen Erdkunde-Kenntnisse ja durchaus auch lückenhaft waren, so sehr er sich gelegentlich mühte (eines seiner Mantras war das Quartett der Großstädte in Ohio, die mit C anfangen, und an schlechten Tagen fiel ihm entweder Canton oder Cleveland nicht ein), mit der sektoralen Ignoranz seiner Umwelt konfrontiert wurde und auf diese Weise vorgeführt bekam, dass er hier herausragte, schämte er sich ein bisschen. Denn was war das schon? Kleinkram, Kinderwissen. Nicht zu vergleichen mit dem Wissen derer, die einem vergeblich zu erklären versuchen, wie eine Leber funktioniert oder was Enzyme sind, wie man das Begründungsproblem in der Ethik löst oder wie die statischen Voraussetzungen einer Hängebrücke zu ermitteln sind.

Um sich in Geographie im engeren Sinne auszukennen, braucht man sich bloß eine Weltkarte an die Wand zu hängen und sie ein paar Stunden anzustarren. Schon kann man die Westafrikanischen Staaten von Nord nach Süd abklappern und weiß, dass der Kilimandjaro weder in den Rocky Mountains noch in Nepal liegt. Dann liest man noch eine 500 Seiten-Schwarte zur Länderkunde und besucht flankierend einen Zoo. Na gut, wenn man in Geschichte und im Sprachunterricht nicht durchgängig geschlafen hat, ist das durchaus hilfreich. Sonst kann es passieren, dass man zwar Antwerpen auf Anhieb auf der Landkarte findet, aber die feste Überzeugung äußert, dass dort belgisch gesprochen wird.

Das war´s dann aber auch schon. Nichts, worauf man stolz sein sollte.

Der Vorteil, so dachte Günter Trobitius immer, besteht darin, dass man die Wirklichkeit ein wenig mehr durchdrungen hat. Der Nachteil ist: Man hat seine Unschuld verloren und wird deshalb schon zornig, wenn es in den Nachrichten heißt, der G 7-Gipfel habe auf den Azoren stattgefunden. Auf allen neunen? Wie denn das? Solche Nachrichten lösen einen leichten Google-Zwang aus. Aha, die Konferenz fand in Lages auf Terceira statt. Warum sagt ihr uns das nicht gleich.

Scheidungsanwalt Günter Trobitius starrte also auf die T-Shirt-Landkarte seiner Mandantin und sein abseitiges Interesse erwachte. Er hatte sie Personalien der Eheleute und der Kinder sowie die wichtigsten Daten zum beiderseitigen Einkommen und Vermögen aufgenommen und konnte nun so tun, als höre ihr zu, während sie zu einer längeren Selbstrechtfertigungsrede ausholte, die sich inhaltlich mit der plastischen Schilderung der Schlussphase des ehelichen Zusammenlebens deckte. Er hegte den amateurhaften Optimismus, dass eine Frau aus knapp zwei Metern Entfernung – sein Schreibtisch war ungewöhnlich bauchig – nicht sehen kann, ob einem das Gegenüber in die Augen oder auf die Brust blickt, und fing an der Amazonas-Mündung an.

Ah, Belém ist drauf, sogar Marajó im Delta, größte Flussinsel der Welt. Sehr schön. Weiter im Westen ist Manaus eingezeichnet. Richtig fett. Schönes Zugeständnis, denn eigentlich konzentriert sich die Karte ja auf die Küstenregion. Weiter die Küste runter, Richtung Ostostsüd. São Luís fehlt. Fortaleza ist drin, kann man ja auch erwarten bei 2,5 Millionen Leuten. Natal haben sie weggelassen, na gut. Aber da, João Pessoa. Alle Achtung. Auf den Reiseprospekt-Karten ist immer nur Recife drauf, ca. 100 km südlich. Über João Pessoa könnte ich ihr viel erzählen, nicht nur, dass es die östlichste Stadt Amerikas ist, sondern auch, dass sie nach einem Gouverneur benannt ist, der eigentlich Vizepräsident unter dem großen Getúlio Vargas werden sollte, dann aber 1930 sozusagen noch rechtzeitig gemeuchelt wurde, wobei man bis heute nicht weiß, ob es ein politischer Mord war oder eine Eifersuchtsgeschichte, aber das interessiert hier keine Sau. In Brasilien auch nicht mehr. Wichtiger ist, und das zeigt die Design-Katastrophe des bunten Hemdchens, dass João Pessoa genau denselben Breitengrad hat wie ihre Nuckelnuppel. Die Brüste führen hier zum Glück nicht zu wesentlichen Verzerrungen des Landschaftsreliefs, weil ... wie hat diese Sachverständige im Kunstfehlerprozess neulich so unnachahmlich höflich und einfühlsam zu meiner Mandantin gesagt? Sie sind da ja recht zart gebaut.

Tja, und deshalb nun Südamerika in 3 D. Und mit der Stimme aus dem Off, die allerdings ihr Thema verfehlt hatte. Keine Erläuterung der landwirtschaftlichen Nutzung des fruchtbaren Küstenstreifens, der Sklavenhaltung bis vor gut 100 Jahren, des Reichtums der Zuckerbarone, der genetischen Spuren der Holländer, denen Pernambuco vor vier Jahrhunderten drei Generationen lang gehörte, nichts über den Regenmangel im Sertão und die Revolte von Canudos, immer nur der Ehemann, der eine andere habe, keinen Unterhalt für die Tochter zahle und ihr jetzt das Auto nicht überlassen wolle ...

Sie sind da ja recht zart gebaut - das hätt ich als Mann nicht hinbekommen, auch wenn ich wie die Sachverständige schon seit 20 Jahren im Brustzentrum tätig gewesen wäre.

Andererseits, wenn ich ruppig bin, und das bin ich meistens, trifft´s auch die Richtigen. Da pass ich schon auf. Ja, genau, dieser Schweinehund von der Versicherung, der mich anrief, als ich den Prozess gewonnen hatte, und mich mit dem Kollegen von der Gegenseite verwechselte, um dann gleich den üblichen Haftpflichtversicherungssachbearbeiterquatsch loszuwerden: Bei einer solchen Rechtsprechung solle man sich nicht wundern, wenn die Versicherungen die Prämien erhöhen müssten, um nicht pleite zu gehen, und dann würden die Leute wieder auf die Assekuranz (er sagte wirklich Assekuranz) schimpfen statt auf die Oberlandesgerichte, usw. Ich hatte ihn dann lachend unterbrochen, um das Missverständnis aufzuklären. Er fing sich überraschend schnell und sagte tatsächlich, ich müsste doch auch zugeben, dass 50.000 € Schmerzensgeld bei so einer kleinen Titte eindeutig zu viel wär, und ich spürte, wie mir die Wutflamme durch die Brust schoss, nicht nur, weil die Mandantin mir erzählt hatte, dass sie Haltungsschäden bekommen hätte, weil rechts das geringe Gegengewicht fehlte, und ich hörte mich sagen: "Na ja, wenn Sie Ihren Schniedelwutz in die Heißmangel gekriegt hätten, würden Sie sicherlich nicht meinen, dass 50.000 € zu viel sind."

Einen Moment war es ganz still in der Leitung. Dann sagte der Minuskavalier, er habe keine Verlassung gegeben, ordinär zu werden. "Doch", korrigierte ich ihn, "wenn Sie die Höhe des Schmerzensgeldes von der Größe der amputierten Brust abhängig machen, sind Sie auf dem Niveau von RTL II mit seinem Tittenwiegecontest." Er musste nicht nachfragen, was das ist, er hatte die Sendung mit Sicherheit gesehen.

Nun, unter diesem T-Shirt hier wär nicht viel zu wiegen gewesen. Die linke Brust orientierte sich ungefähr an der Küstenkordillere, die rechte an der den peruanischen Anden. Die sind zwar doppelt so hoch, aber die Brüste einer Frau sind ja auch nicht immer symmetrisch. Das südliche Amazonastiefland war allerdings ein bisschen zu breit geraten.

In diese versunkenen topographisch-anatomischen Betrachten hinein platzte der Wechsel in der Modulation der Stimmführung der Mandanten: "Entschuldigung, ich erzähl Ihnen hier, wie meine Ehe den Bach runter gegangen ist, aber ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass Sie mir auf die Brüste starren."

"Und starren Sie nicht dauernd auf meine Titten, Mister ...", murmelte Günter Trobitius mechanisch und kaum hörbar.

"... sonst hau ich Ihnen die Scheiße aus den Knochen", ergänzte die Mandantin.

Günter Trobitius fiel die Kinnlade herunter. "Sie haben Bukowski gelesen?"

"Ach wissen Sie, ich habe Anglistik studiert, und nach 200 Seiten Jane Austen brauch ich immer dringend so etwas wie Big Bart. Wer immer nur ungezuckerten grünen Tee trinkt, muss auch mal einen rauchigen Whiskey hinterherschicken."

"Umgekehrt ist mir das nie so gegangen", gestand Günter Trobitius, "aber zurück zu meinen angeblich lüsternen Blicken, denn darauf wollten Sie ja wohl hinaus. Ich muss schon sagen, Sie machen mir Spaß. Sie erscheinen hier mit einer Landkarte und wundern sich, dass ich mich dran festgucke."

"Landkarte?"

"Na, Ihr T-Shirt."

Sie lachte befreit.

"Ach du Schreck. Entschuldigung. Das Ding ist grässlich, aber ich musste es heute Mittag meiner Tochter zuliebe tragen. Sie ist gestern aus Bahia zurückgekommen, da war sie 9 Monate lang Au-Pair. Sie hat mir das Ding mitgebracht, und ich hatte vorhin keine Zeit mehr, mich umzuziehen."

"Salvador."

"Bitte?"

"Salvador heißt die Stadt. Sie ist die Hauptstadt des Bundesstaates Bahia. Schauen sie mal, ich schätze, es steht sogar drauf, müsste direkt in der Falte unter ihrer linken Brust sein."

Sie hob Ihre linke Brust mit der linken Hand etwas an, was, wie Rechtsanwalt Günter Trobitius fand, durchaus anmutig aussah.

"Wenn ich das von oben richtig lese ... stimmt. Ich hoffe, dass Sie bei der Unterhaltsermittlung genau so pingelig sind."

"Keine Sorge. Ich hab schon bisher gut zugehört. Bin zwar männlichen Geschlechts, aber für so viel Multitasking reicht es noch, dass ich alles Rechtsrelevante herausfiltern kann, obwohl Sie hier in Begleitung der südamerikanischen Ostküste zu mir gekommen sind. Wissen Sie, ich habe eine besondere mentale Beziehung zu Brasilien, und gucke dann natürlich unwillkürlich, ob das Wichtigste drauf ist."

"Ach so, dann tun Sie sich keinen Zwang an. Ich unterbreche kurz, bis Sie mit Ihrem, äh, visuellen Kontrollgang fertig sind."

"Danke, geht schnell. Ich kann Sie auch gern beteiligen."

"Herr Rechtsanwalt, ich habe gerade andere Probleme und Interessen, aber wenn´s sein muss ..."

Sie wirkte mittlerweile eher amüsiert als genervt.

"Gut. Salvador hatten wir schon. Au, Porto Seguro fehlt."

"Na und?"

"Na, an der Stelle ist Brasilien entdeckt worden."

"Hochinteressant. Ich bin sicher, dass Sie auf den Tag genau wissen, wann."

"Klar, 21. April 1500. Rio ist drauf, São Paulo auch, Belo Horizonte fehlt."

"Belori was?"

"Be-lo-ri-song-tschi. Millionenstadt immerhin. Kennt jeder Fußballfan. Viele Brasilianer, die in der Bundesliga spielen, kommen von einem der dortigen Spitzenclubs, Atletico Mineiro und Cruzeiro."

"Bitte, nicht das noch. Außerdem: Wenn Beo Dingsda nicht auf der Karte ist, liegt´s vielleicht daran, dass nur die Küstenstädte drauf sind, hm?"

"Kann nicht sein. Manaus und São Paulo sind ja auch drauf."

"Skandalös. Am besten, ich flieg morgen nach Brasilien und tausch es um."

Rechtsanwalt Trobitius war entzückt von ihrem sarkastischen Lächeln.

"Glänzende Idee. Vorher lassen Sie mich bitte noch ... Moment, bin auch gleich durch. Florianopolis fehlt, Porto Alegre ist drauf, sehr schön, da ist Brasilien auch schon zuende. Montevideo, Buenos Aires, Rosario hätte noch reingepasst, Schade, da ist jetzt ihr Gürtel."

"Was vermissen Sie denn noch?"

"Ushuaia."

"Wo ist das denn?"

Rechtsanwalt Günter Trobitius schaute seiner Mandantin ungerührt in den Schritt und sagte "Feuerland".

Wie konnte mir das wieder passieren? fragte er sich mit der Nervosität dessen, der zu weit gegangen ist. Ich hätt ja auch tierra del fuego sagen können, das hätt sie nicht verstanden und alles wär gut gewesen. Wenn sie jetzt aufsteht und einen Satz ausspeit, der mit einem entrüsteten "Also wirklich" beginnt, seh ich sie nicht wieder. Wenn sie lacht und bleibt, werd ich mich für sie im Scheidungsprozess zerreißen.

Seine Mandantin lachte sehr laut, und es klang, wie Rechtsanwalt Trobitius fand, ein bisschen nach seinen weiblichen Auszubildenden, wenn sie zu viel billigen Sekt getrunken hatten. Ihr Lachen brach abrupt ab, so wie es bei vielen kopfgesteuerten Frauen geschieht, die registrieren müssen, dass sie unter ihrem Niveau gelacht haben. Sie stand auf und sagte:

"Also wirklich, ich bin nicht hergekommen, um mir hier Ihre Anzüglichkeiten anzuhören. Irgendwann reicht es. Es gibt noch andere gute Anwälte."

Grußlos wandte sie sich zum Gehen.

Murat

Günter Lux war sich natürlich darüber im Klaren, dass die beiden in der Jugendkammer sitzenden Männer der Vertreterin der Jugendgerichtshilfe nur deshalb so geduldig und nach seinem Eindruck sogar begierig zuhörten, weil sie schön war, ungeschminkt schön. Sie hatte haselnussbraune Locken und einen Mund, der Phantasien weckte, die nicht in den Gerichtssaal gehören.

In der russischen Literatur, so fiel ihm ein, ist in solchen Fällen von einer mühelosen Schönheit die Rede. Ihm und den anderen Männern fiel es schwer, den Blick von ihr abzuwenden, was auch daran lag, dass der Gerichtssaal keine Attraktivitätsalternative bot, an der die Blicke, auch seine eigenen, hätten andocken können.

Der Angeklagte Murat Ibrahimović, den er als Pflichtverteidiger vertrat, war ein rothaarig-struppiger und ungeachtet seines jugendlichen Alters schon bedenklich zahnarmer Bosnier. Die Staatsanwältin hatte, soweit man das sehen konnte, ihr Haare überall da, wo sie nicht hingehören, in Sonderheit auf den Zähnen, und die beiden Richter sahen so aus, wie Männer zwischen Mitte 40 und Mitte 50 eben aussehen. Die einzige Frau auf der Richterbank, eine Fleischereifachverkäuferin, die es unter die Laienrichter verschlagen hatte und die während der gesamten Verhandlung verständnislos dreinschaute, war auf eine unwabbelige Weise dick, hatte dünne blonde Haare und einen Teint, dem man ansah, dass sie das Schweinefleisch billiger bekam.

Selbst der Angeklagte würde sich allenfalls das Gericht des Vorsitzenden merken können, und das auch nur dann, wenn er seine Berufung verwerfen würde.

Auch der Vorsitzende schaute die Kleine, die seine Tochter hätte sein können, aufmerksam und mit anfänglichem Wohlgefallen an. Zweierlei fiel ihm sofort auf: Die junge Dame war dem Angeklagten an Jahren, aber nicht an Verschlagenheit ebenbürtig und erzählte, auch das merkte er nach dem ersten Satz, einen derartigen Stuss, dass er und die beiden Nichtprofis, vielleicht mit Ausnahme der Schöffin, Mühe haben würden, nachsichtig zu bleiben. Die Staatsanwältin, der der Widerstreit zwischen Großhirn und limbischem System in dieser Situation fremd war - sie kannte diesen Konflikt nur als Alt-Sängerin im Kirchenchor, wo die Bachsche Gänsehautmusik mit stumpfsinnigen Texten kollidierte -, betrachtete sie dagegen aus Augen, mit denen man ohne weiteres hätte Nägel einschlagen können. Castor und Pollux, ihre beiden risikolos geliebten Afghanen, kamen ihr in den Sinn, vor etwa 10 Jahren gestartet als Konvergenzhunde, damals, als sie noch schlank und im Gesicht weniger verhärtet war. Mittlerweile waren die Tiere zu Komplementärhunden mutiert, immer noch schön, schlank und schnell, mit langen braunen Haaren und glänzenden schwarzen Augen. Castor und Pollux, so erkannte sie jäh, hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit der Vertreterin der Jugendgerichtshilfe, aber sie redeten keinen Scheiß.

Die Kleine war immer noch bei der Vorgeschichte, d.h. bei der von Murat schlampig geschönten Biographie:

"Also, er war ja nun Asylbewerber, und sonst hätten sie ihn auch zurückgeschickt in die Hölle da, also im nahen Osten, und er hätte noch viel eher untertauchen müssen, also nicht erst nach diesen Schlägereigeschichten, die die Polizei ihm da anhängen wollte - also ganz klar: die anderen haben angefangen, das glaub ich ihm, weil ..."

"Hören Sie mal, Frau Weber", unterbrach die Staatsanwältin mit scheppernder Stimme, "Sie brauchen dem Herrn Verteidiger hier nicht die Arbeit abzunehmen, erst recht nicht, wenn es um Ermittlungsverfahren geht, die längst eingestellt sind."

"Fahren Sie bitte fort", sagte der Kammervorsitzende verbindlich, "und zwar möglichst ohne zu plädieren."

"Ja, also der Murat war ja nicht nur so genannter Deserteur, sondern die waren auch, das hat er mir mal so richtig voll ehrlich gesagt, also die waren auch hinter ihm her wegen so ner Aktion gegen Zivilisten, also der Murat ist nämlich eigentlich Bosnier, und in Mostar, da musste er dann auch mal ein paar Handgranaten in einen Kindergarten reinwerfen, wo sich die Serben verschanzt hatten, ich mein, er konnt ja nicht wissen, dass da noch ..."

"Halt", rief Günter Lux dazwischen. "Das geht so nicht. Wir verhandeln hier über angebliche Einbrüche in Gartenlauben. Da brauchen wir weder Gräuelpropaganda noch die Selbstbezichtigungen eines Traumatisierten."

Der Richter streifte den Verteidiger mit einem dankbaren Lächeln und sagte:

"Frau Weber, noch einmal, bei allem Respekt vor Ihrem Engagement: Sie sollten die Heldentaten des Angeklagten im Krieg vielleicht weglassen. Ich glaube nicht, dass Sie ihm damit einen Gefallen tun, und darauf kommt es ihnen ja schließlich an, wie uns allen hier nicht entgangen ist."

"Ja also o.k., ich wollt nur sagen, im Krieg verliert man ja auch manchmal den Überblick. Bei diesem Wahnsinnsstress und so. Na ja, und dabei hat er sich dann, hat er mir erzählt, noch ganz plötzlich in die Kindergärtnerin verliebt, und die fand ihn wohl auch nett, und, na ja, das haben sie ihm jedenfalls als Ver ..."

Günter Lux wurde erstmals laut: "Frau Weber, auf die Erörterung der Vorstrafen kommen wir später, und seien Sie bitte so freundlich, alle strafrechtlich relevanten Vorgänge wegzulassen, die sich vor der Ankunft des Angeklagten in Deutschland ereignet haben."

Der Schöffe, ein Deutschlehrer an der Realschule, räusperte sich und sagte mit müder Stimme:

"Wir sollten den Ausgangspunkt nicht aus den Augen verlieren. Hier geht es in erster Linie um die Frage, ob der Angeklagte oder, wie Frau Weber sich auszudrücken beliebt, der Murat, als Heranwachsender einfach noch unreif ist oder eine jugendtypische Verfehlung, oder meinethalben, Frau Staatsanwältin, eine ganze Serie davon, begangen hat. Deshalb würden wir uns freuen, wenn Sie, Frau Weber, sich auf Ausführungen beschränken könnten, die uns die Beantwortung dieser Frage erleichtern."

Seine Stimme hatte für ihn selbst eine Art Weckruffunktion. Er blickte die junge Frau jetzt munter und sogar ein wenig kokett an.

Die Angesprochene schaute keineswegs irritiert, sondern eher etwas angewidert in Richtung Berufungskammer.

"Ich mein, wir leben hier im tiefsten Frieden und haben gut lachen. Ich möcht nur sagen, also es gibt da auch welche in unserer Friedensgruppe, die haben dem Murat jede Solidarität verweigert. Diese Heuchler. Dabei erzählen die zum Beispiel frauenfeindliche Witze und waren noch nie im Krieg."

Die Staatsanwältin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte schneidend:

"Junge Frau, ich brauche sicherlich nicht auszuführen, dass auch ich kein Freund von frauenfeindlichen Witzen bin, obwohl Ihr Auftreten hier durchaus geeignet ist, die Verbreitung von Blondinenwitzen zu fördern, ..."

"Bitte, Frau Staatsanwältin, keine Schärfen", unterbrach der Vorsitzende. Zeitgleich rief die Bespöttelte:

"Ich bin doch gar nicht blond."

"Unterbrechen Sie mich bitte nicht", sagte die Staatsanwältin kalt, sah dabei aber nur ihre Geschlechtsgenossin an. "Da Sie schon bei Ihren körperlichen Attributen sind: Ich sitze ja hier ganz in Ihrer Nähe. Der Herr Verteidiger, man sieht es ihm an, säße gern an meiner Stelle (Günter Lux winkte genervt ab), und da ist mit aufgefallen, Sie haben da einen Schatten über dem linken Auge, der nur geringe Ähnlichkeit mit einem Lidschatten hat, aber an ein Hämatom erinnert, das im Abklingen begriffen ist. Da Sie ja hier jede Distanz zum Angeklagten vermissen lassen, erlaube ich mir die Nachfrage, ob das blaue Auge vielleicht Ausdruck dieses Mangels an professioneller Distanz ist. Ich erinnere mich an die Schlagzeile, die ich vorgestern in einer seriösen Zeitung gelesen habe: Gleichstellungsbeauftragte von ihrem afghanischen Freund erschossen."

Sie lächelte verächtlich und unterdrückte einen leisen Schmerz.

"Sie brauchen diese Frage nicht zu beantworten", sagte der Vorsitzende schnell und bedachte die Staatsanwältin mit einem zornigen Blick. Günter Lux fiel auf, dass der Richter sich kurz darauf nervös über das schüttere Haar strich und dass sowohl die Haarfarbe wie auch Haardichte eine beträchtliche Ähnlichkeit mit den Borsten einer betagten Glanzbürste hatte, mit der braune Schuhe poliert werden.

"Na ja", sagte die Kleine unbeirrt, "immer wenn ich mipm blauen Auge in unser Koordinationskomitee komme, ernte ich auch solche Blicke, ich mein, das ist doch klar, dass der Murat noch nicht so weit ist, dass er keine Frauen schlägt. Wenn es passiert, dann gucken sie irgendwie schadenfroh, diese Scheißtypen, Entschuldigung. Das ist natürlich immer einfacher, als da bei dem Opfer von solchen Kriegsgräueln Aufklärungsarbeit zu leisten und mit ihm seine Erlebnisse aufzuarbeiten und so."

Ogottogott, dachte der Kammervorsitzende, wen haben sie uns denn da geschickt.

"Übrigens sind da einige Frauen, muss ich ganz ehrlich sagen, auch nicht besser. Die eine hat auch völlig verständnislos reagiert, wie der Murat sie am Ende von unserer Solidaritätsparty ... , also er war auch ein bisschen betrunken, und da hat er sich ihr ein bisschen fordernd genähert, und da musste diese Bratze dann auch gleich wieder n Vergewaltigungsversuch draus machen - ich mein, das muss man doch auch im historischen Zusammenhang sehen und so. Der Murat ist so in einer voll machistischen Gesellschaft groß geworden, da kann er doch schließlich nichts für, und von daher ist es auch ganz normal, wenn er so reagiert. Ich beschwer mich ja auch nicht, dass ihm mal die Hand ausgerutscht ist, er fühlte sich eben von mir provoziert mit meinen Fragen und weil er sauer war, weil ich mal zu spät kam, als wir uns privat getroffen haben. So, jetzt wissen Sie´s. Aber Sie, Frau Staatsanwältin, wollen das nicht verstehen. Und jetzt will ich zum Punkt kommen: Als der Murat nach Deutschland gekommen ist, kannte er hier keinen, und da hatte er voll die Schuldgefühle, weil er ja desertiert war, wie es so schön heißt. In Wirklichkeit ist er da weg, weil er sich nicht weiter an den befohlenen Massakern beteiligen wollte. Aber das hat ihn so verfolgt, dass er angefangen hat zu trinken, und weil er das als Moslem auch nicht darf, hat er noch schlimmere Schuldgefühle gekriegt, und da musste er noch mehr trinken. Und weil das Geld kostet, hat er sich das durch Einbrüche in den Gartenlauben besorgt. Und dann eben den einen Tag, als ihn einer gesehen hatte und all die Kleingärtner mit Gartengeräten bewaffnet hinter ihm her waren, musste er ein Auto kurzschließen, um zu entkommen. Da hatte er schon so allerhand intus, wie Sie das wohl nennen würden, und da ist er dann erwischt worden. Also ich meine, dass Laubeneinbrüche und ein Auto kurzschließen unter Alkohol und so, dass das jugendtypische Sachen sind, das machen viele in dem Alter so zwischen 18 und 21. Und Reifeverzögerung hat er auch, weil nämlich seine Eltern hat er lange nicht gesehen, er weiß gar nicht, ob die noch leben, er musste ja mit 18 zum Militär, und da hat auch seine Einstellung zu Frauen drunter gelitten, Frau Staatsanwältin, auch wenn Sie jetzt wieder so lächeln. Der Murat ist noch nicht so weit. Und deshalb meine ich, dass er noch Jugendstrafrecht kriegen muss."

Der Kammervorsitzende bedankte sich betreten, schloss die Beweisaufnahme und erteilte dem Pflichtverteidiger das Wort.

Günter Lux legte sich schwer ins Zeug. Es ging zum einen darum, noch unter den Schutz des Jugendgerichtsgesetzes zu kommen, obwohl der Angeklagte zum Zeitpunkt der Taten schon etwa 20 ½ Jahre alt war, zum anderen und vor allem darum, dass die einjährige Jugendstrafe im Gegensatz zum Urteil der 1. Instanz noch einmal zur Bewährung ausgesetzt wurde. Günter Lux hob insbesondere die Ausführungen des vor dem Auftritt der Vertreterin der Jugendgerichtshilfe angehörten Sachverständigen Dr. Zlatan Pančević zum posttraumatischen Belastungssyndrom des Angeklagten hervor, bagatellisierte die Laubeneinbrüche der Vergangenheit, die seinem Mandanten einen mehrwöchige Arrest eingebracht hatten ("Dummejungenstreiche"), und ritt so lange auf der Reifeverzögerung seines entwurzelten Mandanten herum, bis er sich schließlich selbst glaubte. Schließlich wandte er sich an die Schöffen und beschwor sie in ausgesucht schlichten Worten, dem Angeklagten nicht die Empathie zu versagen, die die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe ihm sicherlich nicht ohne Grund hatte zukommen lassen.

All dies verlieh seinem Schlussvortrag eine derartige Überzeugungskraft, dass das Gericht (unbeeindruckt durch das nachfolgende Plädoyer der Staatsanwältin, die erwartungsgemäß beantragte, die Berufung zu verwerfen, nicht ohne die junge Dame als naive Unterstützerin krimineller Ausländer zu verhöhnen und den Angeklagten als feigen Deserteur zu brandmarken, der das Gastrecht in Deutschland mit Füßen getreten habe) schließlich trotz großer Bedenken, die der Kammervorsitzende auch in aller Breite erläuterte, die Freiheitsstrafe unter Anwendung des Jugendgerichtsgesetzes mit straffen Auflagen zur Bewährung aussetzte.

Als der Dolmetscher mit der Übersetzung der Urteilbegründung fertig war, huschte ein flüchtiges Siegerlächeln über das Gesicht von Murat Ibrahimović. Der Abschied von Günter Lux war eher frostig-formell. Murat Ibrahimović war der Überzeugung, dass der Verteidiger nichts taugte, weil es ihn umsonst gab. Das Ergebnis schrieb er Frau Weber zu, die er Wochen zuvor mit dem hochbetagten Trick herumgekriegt hatte, sie wolle ja bloß nichts von ihm wissen, weil er Moslem sei. Günter Lux dachte, dass sein Pflichtverteidigerhonorar von 216 € in einem auffälligen Missverhältnis zu der Tatsache stand, dass er seinem Mandanten ein Jahr Knast erspart hatte, Ganz unabhängig davon hielt er ihn für einen Drecksack.

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