Die Verabschiebung

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Die Verabschiebung
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»Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.«

FRANZ KAFKA

Genau solch ein Eisbrecher ist Joachim Zelters Roman ›Die Verabschiebung‹. Beklemmend-spannend erzählt er von der End- und Aussichtslosigkeit eines Asylverfahrens in einem kafkaesk-kalten Kosmos akribischen Rechts, in dem die beteiligten Menschen immer mehr an Autonomie und Substanz verlieren. Menschenwürde? Sie erweist sich in diesem Roman zunehmend als Konjunktiv.

Joachim Zelter, 1962 in Freiburg geboren, studierte und lehrte Literatur in Tübingen und Yale. Seit 1997 freier Schriftsteller. Bei Klöpfer & Meyer erschienen u. a. Der Ministerpräsident (2010), nominiert für den Deutschen Buchpreis, sowie Im Feld (2018). Zuletzt erschien Imperia (2020). Joachim Zelter erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Preis der LiteraTour Nord. Er ist Mitglied im Deutschen PEN.

www.joachim-zelter.de


Joachim Zelter

Die Verabschiebung

Roman

1. Auflage

in der Edition Klöpfer

Stuttgart, Kröner 2021

ISBN DRUCK: 978-3-520-75201-7

ISBN EBOOK: 978-3-520-75291-8

Umschlaggestaltung Denis Krnjaić

unter Verwendung eines Fotos von Andanu Adhitya, pexels.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2021 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

Für Petra & Jean-Luc

Es ist hier … nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und das bedeutet … das Recht eines Fremdlings, … nicht feindselig behandelt zu werden. Es ist … ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der als Kugelfläche sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere.

IMMANUEL KANT, Zum ewigen Frieden

Vorbemerkung

Dieser Roman ist eine Fiktion. Darin liegt seine Wahrheit. Es handelt sich um eine literarische, menschliche und gesellschaftliche Wahrheit, nicht um die faktengetreue Wiedergabe tatsächlicher Ereignisse. Thomas von Aquin bringt es auf den Punkt: fictio figura veritatis. Die Fiktion ist eine Figur der Wahrheit. Man könnte es auch umgekehrt sehen: Die Wahrheit (oder was man für sie hält) ist immer auch ein Motor des Fiktiven. Früher oder später geht sie in die Literatur ein. Sie geht in sie ein, in sie über und in ihr auf, in welcher Form auch immer, und sei es nur in der Form, dass man einen literarischen Text andernfalls gar nicht geschrieben hätte.


PAKISTAN INTERNATIONAL AIRLINES. In seiner Schulzeit war diese Fluglinie der Name einer Klassenkameradin gewesen. Sie hieß Pia. Wie die Abkürzung dieser Fluglinie. Sie war unansprechbar schön gewesen. Während der ganzen Schulzeit hatte er kein Wort mit ihr gewechselt. Wenn er von ihr sprach, dann nur als Pakistan International Airlines. Als wäre sie ein Staatsgeheimnis oder Gegenstand einer geheimdienstlichen Operation. Vielleicht dachte er, dass damit die Unerhörtheit seiner Anbetung halbwegs gebannt wäre, in erträglichere Bahnen gelenkt, in die Bahnen einer Fluggesellschaft.

Dreißig Jahre später bestieg er ein Flugzeug dieser Gesellschaft. Pia. Ihr Name stand überlebensgroß auf einer Boeing 747. Wie eine Erinnerung oder Aufforderung stand ihr Name dort. Auf dem hochragenden Seitenruder sah er einen Halbmond und einen Stern, in weißer Farbe auf grünem Untergrund, die Flagge der Islamischen Republik Pakistan. Sie erinnerte ihn an ein Himmelsbild. Eine Stewardess lächelte ihn beim Eintreten in das Flugzeug an. Sie lächelte mit den Augen. Ihr Mund war hinter einer weißen Maske verborgen.

Auf Englisch und Urdu blinkten links und rechts der Sitzreihen die mannigfachen Sicherheitshinweise, mehr Sicherheitshinweise als in allen früheren Flugzeugen, mit denen er geflogen war. Schon auf den ersten Metern durch den Jumbo fühlte er sich daran erinnert, dass so ein Flugzeug durchaus abstürzen kann. Jederzeit. Und wenn er an Bord war, dann umso mehr. Er dachte an seinen festen, schon vor Jahren gefassten Vorsatz: Nie mehr ein Flugzeug zu besteigen, nicht zum Spaß, und schon gar nicht, weil irgendjemand ihn dazu überreden würde. Und wenn man behauptet hätte, Fliegen sei ab sofort ein neues Heilmittel gegen sämtliche Krankheiten oder Katastrophen der Welt, dass Fliegen ab jetzt kein Unding mehr sei, sondern sogar eine heilige Pflicht, der Inbegriff einer neuen Vernunft und einer vehementen Naturbewahrung – selbst dann wäre er nicht mehr geflogen. Nun bewegte er sich durch die endlosen Sitzreihen eines Jumbojets der staatlichen pakistanischen Fluggesellschaft und flog damit nach Islamabad. Es war der erste reguläre Flug auf dieser Flugverbindung seit Monaten. Er setzte sich auf den ihm zugewiesenen Platz, betastete die ergrauten Armlehnen, schaute aus dem Fenster, bedachte den Kontrast zwischen den turnhallengroßen Ausmaßen des Jumbos und den rostigen Flügeln, die diese Ausmaße – ist ein solches Flugzeug erst einmal in der Luft – womöglich kaum tragen würden. Er atmete den Geruch von Desinfektionsmitteln, sah aus dem Augenwinkel pakistanische Zeitungen, die verteilt wurden. Ein Gruß aus der Heimat, anlässlich dieses ersten Flugs.

Mit einer Stewardess wechselte er einige Sätze – auf Englisch. Auch sie trug einen beiläufig gebundenen Schleier, in einer betörenden Offenheit und Nonchalance – und (wie eine zweite Verschleierung) einen Mundschutz. Im Lichte der Deckenbeleuchtung wirkte er nahezu transparent, wie ein durchsichtiger Badeanzug.

Er verwechselte die einfachsten Worte, spürte bereits die Wirkung von Tavor und Vomex, die er auf der Flughafentoilette eingenommen hatte. Ohne diese Medikamente wäre er nicht geflogen.

»Are you all right?«

»Yes, I am fine.«

»Really?«

»Yes, of course.«

Aus seinem Handgepäck holte er die deutsche Zeitung, die er auf dem Flughafen gekauft hatte. Er wollte sie zuerst gar nicht unbedingt lesen, warf aber dann doch einen Blick auf die ersten Seiten. Schon auf der Titelseite sah er die neuesten Schreckensnachrichten: Umsatzeinbrüche und Firmeninsolvenzen. Schwerste Rezession seit dem Krieg. Depression. U-förmige Talsohlen gefolgt von V-förmigen Talsohlen. Und wie man da wieder herauskommt. Nie mehr. Weltbekannte Firmen vor dem Aus. Gefolgt von anderen Firmen. Insolvent, geschlossen, verkauft. Wie Todesanzeigen wirkten diese Nachrichten. Und immer weitere Zahlen: Kurzarbeiterzahlen, Arbeitslosenzahlen und Schuldenzahlen. Schulden über Schulden … Die Frage: Was jetzt werden soll? Wer das alles bezahlen soll? Die Armen? Oder die Reichen? Oder doch besser die Armen? Und der Satz: Jetzt, wo das Schlimme vorbei sei, stehe das Schlimmste erst wirklich bevor. Das klang wie: Genieße den Krieg, der Friede wird fürchterlich.

»Fasten your seat belt.«

Die Stewardess überprüfte das. Mit einem unsichtbaren, nachsichtigen Lächeln. Es schien mehr Lächeln unter ihrer weißen Maske, als Pia während seiner gesamten Schulzeit gelächelt hatte. Der Sitz neben ihm blieb frei. So wie jeder zweite Sitz auf diesem Flug frei blieb. Auch er trug eine Maske. Er merkte das kaum noch. Seine Flugangst hatte sich bereits ein wenig gelegt. Angesichts all der freien Plätze und der ihn umgebenden Masken. Ein mögliches Unglück schien in Anbetracht dieser Bilder gar nicht mehr unbedingt bevorzustehen – es schien bereits geschehen. Damit konnte man leben. Zumindest einige Momente durchatmen. Die Motoren des Flugzeuges begannen zu summen. Er lehnte sich zurück und sah über das Rollfeld hinweg. Im Hintergrund entdeckte er Wiesen und Felder, sogar einige weidende Kühe. Wie ein letzter Gruß. Dann setzte sich das Flugzeug mit einem Ruck in Bewegung.


WEIDENDE KÜHE. SOGAR KÜHE fügten sich in seine Kindheitserinnerungen. Die Tage vor seinem Abflug waren eine ständig wachsende Kindheitserinnerung gewesen. Er erinnerte sich, so wie er sich schon lange nicht mehr erinnert hatte. Erinnerung neben Erinnerung neben Erinnerung. Sie überschlugen sich … Er sah – während das Flugzeug auf die Rollbahn gezogen wurde – all die Wohnorte vor sich, in denen er als Kind gelebt hatte. Allein nur für seine ersten zehn Lebensjahre zählte er fünf Wohnsitze – beziehungsweise Umzüge in ständig wechselnde Aufenthaltsorte. Jede Beförderung seines Vaters war ein Umzug gewesen. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr folgten diese Umzüge einer bestimmten Logik, man könnte auch sagen, einer klimatischen, topographischen und emotionalen Bewegung. Sie gingen entweder von Süd nach Nord oder von West nach Ost, also vom Wärmeren ins Kältere, vom Katholischen ins Pietistische, vom Freundlichen ins Unfreundliche, wenn nicht gar ins Feindselige. Zuerst zogen sie von Südbaden in ein Dorf in Nordbaden, von dort in ein Dorf in Ostbaden, auch Badisch Sibirien genannt, und, als wäre das noch nicht schlimm genug, dann noch einmal ein Umzug nach Nordostschwaben. Es waren Tiefpunkte und Verbannungsorte. Oder immer weitergehende Kältegrade einer entropischen Bewegung. Er sah das nun alles deutlich vor sich: die abgeschiedenen oder abgestorbenen Häuser, vereinsamte Bushaltestellen, abweisende Gasthöfe, die keine Gästezimmer anboten, sondern Fremdenzimmer. Man sollte in Gottes Namen dort nächtigen und sich dann nie wieder blicken lassen. Das war die Botschaft gewesen. In einer solchen Gegend zogen sie in ein neu gebautes Haus.

 

Zwischen Wohnzimmer und Flur hatten die Eltern für die Kinder eine Schaukel aufgehängt. Vielleicht als eine Art Aufmunterung oder Wiedergutmachung. Dort schaukelten Johannes und seine Schwester während der endlosen Wintermonate. Die Schaukel war in etwa das, was die Pendel der Wanduhren in den anderen Häusern gewesen waren. Oder das unablässige Kreischen der nachbarlichen Kreissägen. Sie kreischten und kreisten Nachmittage lang.

Im Dorf hatte die Schaukel für Befremden gesorgt, da Schaukeln dort ausschließlich im Freien hingen. Johannes wurde wegen dieser Schaukel wiederholt angegangen: Was das soll? Eine Schaukel? Mitten im Haus? Ob es denn dort nichts zu tun gebe. Schon Schaukeln unter freiem Himmel schienen an diesem Ort eine Lächerlichkeit, eine Ausschweifung. Nicht von dieser Welt.

Und wenn es nicht Schaukeln gewesen waren, die die Bewohner gegen sie aufbrachten, dann waren es die bemalten Fenster gewesen: Küchenfenster, Wohnzimmerfenster, Schlafzimmerfenster. Er hatte sie zusammen mit seiner Schwester reihum mit Fingerfarben bemalt, und sei es nur deshalb, um das Leben daheim ein wenig aufzufrischen oder es zu übermalen. Bitte übermalen, hatte seine Mutter gesagt. Vielleicht hatte sie damit ein Zeichen setzen wollen, ob nun für sich selbst, für die Kinder oder für das ganze Dorf.

Immer deutlicher sah er – als das Flugzeug sich langsam der Startbahn näherte – nun seine Schwester. Er sah sie auf Strohbergen spielen oder mit baumelnden Beinen auf dem Seitensitz eines Traktors sitzen. Er sah, wie sie Tiere an sich gedrückt hielt: Meerschweinchen, Hasen, Katzen. Als wollte sie diese Tiere für immer bewahren. Wenigstens gab es in dem Dorf reichlich Tiere. Später waren es Ponys und Pferde gewesen, die sie mit beiden Armen umschlang. Oder sie lag zusammen mit der Mutter im Krankenhaus in einem Krankenbett. Die Mutter war erst vor wenigen Tagen operiert worden. Julia lag an ihrer Seite, Hausaufgaben machend oder ein Buch lesend oder der Mutter etwas erzählend, aus dem Kindergarten oder der Schule, während Krankenschwestern rein- und rausgingen, ihr Malstifte oder Zeichenblöcke brachten. Alles schien auf den Zustand der Mutter ausgerichtet, selbst die Hausaufgaben.

Das Wort Klinik war über allem gestanden. Wenn das Haus mehr und mehr verstummte, wenn die Mutter aus dem Nichts anfing zu weinen, sie immer weniger aß, sie kaum noch schlafen konnte, ihre Beschwerden unerträglich wurden, bis irgendwann ein Arzt gerufen wurde – dann formte sich dieses eine Wort: Klinik. Sie müsse sofort in die Klinik. Wie ein Weckruf oder eine letzte Instanz klang das. Als ob man erst jetzt begreifen würde. In aller Eile wurden nun Koffer gepackt und Telefonate geführt: Wo man die Kinder hinbringen könnte. Wo sie wohnen und zur Schule gehen könnten. Wie lange sie dortbleiben und wann sie wieder zurückkehren könnten.

Manchmal war ihre Mutter wochenlang in der Klinik gewesen. Und wenn sie irgendwann entlassen wurde, dann mit dem Gefühl, dass sie jederzeit wieder eingewiesen werden könnte. In einem ständigen Hin und Her. Es herrschte der Eindruck von Endlosigkeit. Als würde das immer so weitergehen, ohne je ein Ende absehen zu können, Krankheit auf Krankheit, Behandlung auf Behandlung, Operation auf Operation. Als ob nie mehr irgendwo auf dieser Welt eine Freude aufkommen dürfe. Jedenfalls nicht dann, wenn ihre Mutter immerzu krank war. So wirkte das. An der Einfahrt des Grundstücks befand sich eine riesige Hausnummer. Sie sollte den Krankenwagen den Weg weisen. Damit gar keine Zweifel aufkommen würden, wohin sie kommen sollten.

Seine Schwester war in dieser Endlosigkeit am deutlichsten präsent gewesen, mittendrin, an der Seite der Mutter, nicht mehr von ihr weichend. Während Johannes immer öfter abseitsstand. Er umarmte keine Tiere, er saß an seinem Schreibtisch und arbeitete, machte Hausaufgaben, ging in die Schule, und dies sogar gerne. Sie war für ihn ein Ort der Ruhe und des Friedens gewesen. Das Gegenteil von Krankenhäusern. Als müsste er nicht nur für sich allein, sondern gleich für zwei oder drei Menschen arbeiten, so arbeitete er, um das Leben daheim in andere Bahnen zu lenken, wenigstens in seinen Gedanken. Damit bestand er sein Abitur, mit einem guten Notenschnitt – während seine Schwester sich später kaum noch daran erinnern konnte, ob sie das Abitur überhaupt bestanden hatte. Es interessierte sie gar nicht.

Er wurde ihr als leuchtendes Beispiel hingestellt. Ein Beispiel wofür? Beispiel eines guten Notenschnitts, einer Eins in Englisch, eines zügigen Studiums, eines Doktors und einer Art Stelle an der Universität. Während sie sich als ein Anti-Beispiel sah. Sie sah sich nicht nur so, sie fühlte sich dem ganz und gar verpflichtet.

Sie studierte irgendetwas. Oder nein, sie studierte genau das, was sie eigentlich immer hatte studieren wollen, aber keinesfalls hätte studieren sollen. Sie studierte Germanistik und Philosophie, und dies gegen den Rat aller. Ob sie nicht besser Tiermedizin hätte studieren können, so der Rat einer Tante, wenn sie doch Tiere so gerne mochte. Aber sie wollte nicht. Trotz der Tiere. Sie studierte Germanistik und Philosophie. Aussichtslose Schreckworte – doch sie studierte genau das.

Manchmal hörte ihr Bruder monatelang nichts mehr von ihr, dann überschlugen sich plötzlich ihre SMS-Nachrichten. Es handelte sich überwiegend um Notrufe: Geld verloren, ihre Wohnung aufgebrochen, von ihrem Freund geschlagen, in eine Polizeikontrolle geraten, das Studium abgebrochen, und das kurz vor dem Examen, obgleich sie ihre Magisterarbeit bereits abgeschlossen hatte … Ihr Bruder fragte sich: Warum eigentlich? Und sie wusste darauf keine Antwort. Meist war es irgendein Schrecken, eine Hiobsbotschaft, eine Notsituation, ein selbstgewählter oder ein sich von außen auftuender Abgrund, der alles und jeden in den Bann schlug, ob man wollte oder nicht. Als würde sie damit an das Klinikwort der Mutter anknüpfen, nur unter anderen Vorzeichen und in ihrer eigenen Welt. Was sagst du nun, leuchtendes Beispiel. Und er sagte nichts.


IRGENDWANN SASS ER AN Julias Seite. So wie vorher auch schon andere Männer an ihrer Seite gesessen hatten, zahlreiche, wechselnde, in der einen oder anderen Form immer wieder angeschlagene Männer, die irgendein Problem hatten oder einer besonderen Hilfe oder Zuwendung bedurften, dezidierte Anti-Beispiele – während an Johannes’ Seite nur selten irgendwelche Frauen saßen, weder Beispiele noch Anti-Beispiele, und wenn doch einmal eine Freundin neben ihm saß, dann wurde sie kaum beachtet. Weit entfernt von irgendeiner Pia.

Sie stellte ihren neuen Freund der Familie vor: »Das ist Faizan.« Jener Mensch, der wie eine Flocke in ihr Leben geschneit war, eine Flocke, die bald größer wurde, größer und immer größer, zu einem Schneeball anwuchs, zu einem immer größer werdenden Schneeball, der immer noch mehr Schnee an sich band, ganze Schneefelder, die irgendwann zu einer Lawine anwuchsen, zu einer von allen Seiten gespeisten Lawine.

Zunächst sprach er nur Englisch, auf eine archaisch anmutende Art und Weise. Julias Eltern adressierte er mit »Father« und »Mother«. Dies klang ehrerbietend. Als wäre er eine Art Sohn. Der Vater blickte teils gerührt und dann wieder fragend: Woher er komme. Was er beruflich mache. Was er studiert habe. Vor allem aber: Was denn mit ihm nun werden solle, hier in diesem Land? Und Julia gab die Antworten: Er komme aus Pakistan. Er habe in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Er sei ihr Freund. Der Vater aß schweigend. Die Mutter war angetan von Faizans Augen. Ihr Vater wollte ihn fragen: Wer ihn, Faizan, in Pakistan denn genau verfolgt habe. Wie man sich eine solche Verfolgung denn vorzustellen habe. Doch er fragte lieber nicht, schon gar nicht mit dem Wort denn. Für Julia war das ein Unwort: der Prolog zu immer wiederkehrenden Streitgesprächen. Stattdessen erkundigte sich ihr Vater nach der allgemeinen politischen Lage in dem Land, nach der Topographie und dem Wetter … Doch diese Fragen liefen ins Leere. Ihr Vater sprach kaum Englisch, und Julia hatte keine Lust, derlei Fragen zu übersetzen. Die Mutter fand ihn warmherzig, aber für die Tochter etwas zu jung. Er schien zehn bis fünfzehn Jahre jünger als sie. Aber warum nicht.

Julia erklärte, um irgendetwas zu sagen, dass Faizan leidenschaftlich gerne Cricket spiele. Cricket sei in Pakistan ein Nationalsport. Faizan zeigte auf seinem Smartphone Fotos pakistanischer Cricketstars. Es handelte sich um Nationalhelden, die mit einem einzigen Schlag Geschichte geschrieben hatten, in atemberaubenden Schicksalsspielen, insbesondere gegen Indien, Südafrika oder England. Es drehe sich beim Cricket alles um das Duell zwischen Werfer und Schlagmann, und es seien die Befreiungsschläge von in Bedrängnis geratenen Schlagmännern, die ein stundenlanges Spiel schlagartig wenden können. Das sei Cricket. In ausgesuchten Momenten seien es Befreiungsschläge, Genieschläge, Umschläge jahrelangen Unglücks in ein unerwartetes Glück. Mancher Schlag sei wie eine Auferstehung oder eine nationale Unabhängigkeitserklärung.

Der Vater fand das beeindruckend – die Quintessenz eines englischen Sports, eine ungeahnte Verbindung zu Europa. Faizan erzählte auf Englisch. Auf die Rückseite einer Speisekarte zeichnete er die wichtigsten Regeln. Er zeigte, wie ein Werfer (Bowler) und ein Schlagmann (Batsman) sich in diesem Spiel bewegen, niemals abrupt, aufbrausend oder hektisch, wie etwa im Fußball, sondern ruhig, konzentriert und bedacht, immer die Contenance wahrend, trotz der unbeschreiblichen Bedeutung eines Cricketspiels, und das über viele Stunden hinweg, ohne dass überhaupt etwas passiere. Bis dann doch etwas passiere, und es sei diese Plötzlichkeit, die das Spiel ausmache. Er erzählte das mit wachsender Begeisterung und mit immer größer werdenden Bewegungen. Was Cricket sei, und was Cricket auf keinen Fall sei. »Cricket … That is Cricket … That is not Cricket …«

Sie saßen im Ratskeller und aßen Maultaschen, Rostbraten und Spätzle. Für die Eltern war das der Inbegriff eines guten Essens, während Faizan dieses Essen (nach pakistanischem Standard) nichtssagend und fad fand, ohne jeden Geschmack. Selbst die ihm empfohlene Pfefferpfanne schmeckte nach gar nichts.

Ob ihm denn das Essen munde, fragte der Vater.

Faizan antwortete ausweichend: »It is most interesting.«

Der Vater verstand das als Lob.

Für Julia war all das unendlich peinlich.

Später nahm er es selbst in die Hand zu kochen, entweder in Julias Wohnung oder in Julias Elternhaus. In der nächstgrößeren Stadt besorgte er die notdürftigsten Gewürze, kochte für Julia und ihre Eltern pakistanische Gerichte, die er wie ein Sternekoch garnierte und servierte, als wollte er sie für immer von allen Maultaschen und Pfefferpfannen befreien.

Wie sie sich kennengelernt hatten, wollte ihre Mutter später wissen. Julia erzählte es nur bruchstückhaft: Sie hatte ihn auf einer Treppenstufe am Ausgang einer Diskothek sitzen sehen. Sie hatte sich zu ihm gesetzt und sie hatten angefangen zu sprechen. Irgendwann sind sie dann aufgestanden und nach Hause gegangen.

»Why are you so sad?«

Das war seine erste Frage gewesen.

Nachdem sie sich neben ihn gesetzt hatte.

»I am not sad.«

»Yes, you look sad.«

»Really?«

»Yes.«

Und sie fühlte sich zum ersten Mal seit Jahren verstanden. Julias Mutter sprach von ihm als einem leuchtend jungen Mann.


ALS HÄTTE DIE WELT ausgespielt, mit ihrem ganzen Gebaren und Gehabe. So war ihr das damals erschienen, als sie das erste Mal gemeinsam mit ihm nach Hause gegangen war. Als wäre nichts anderes mehr von Bedeutung, nur noch er und sie.

 

Sie unterhielten sich – auf Englisch – und kein Wort war verfehlt oder vergebens, wie in den früheren Beziehungen. Obwohl sie gar nicht gut Englisch konnte, fand sie doch immer die richtigen Worte.

Wo ist der Haken?

Hatte eine Freundin sie gefragt. Denn das sei ja alles viel zu schön, um wahr zu sein. Beginnend mit seinen Augen. Seine strahlenden Augen. Sie fand ihn hinreißend und liebenswert. Entwaffnend war das Wort. In allem, was er tat und sagte. Ohne den ständigen Einwand, den so viele Männer verkörpern: Einwände gegen dieses und jenes, eigentlich gegen alles, selbst gegen den Umstand, mit einer Frau überhaupt zusammen zu sein. Wenn es denn unbedingt sein muss. In dieser Art sprachen und sprechen sie. Immerzu ausweichend. In jedem zweiten Satz irgendein Denn oder Aber vorbringend, in einer nicht mehr ablassenden Akribie und Rechthaberei, bis von zwei Menschen nichts mehr übrig ist.

Wo war der Haken?

Der Haken war, dass sie sich ernsthaft in ihn verliebt hatte, dass sie sich in seiner Gegenwart wohlfühlte, nicht gedrängt, gehetzt oder verletzt, so wie in den früheren Freundschaften. Alles schien dieses Mal anders und besser – das einzige Problem war: Wenn er doch nur bleiben dürfte. Er war in diesem Land (wenn überhaupt) nur vorübergehend geduldet. Bei der Landesaufnahmestelle hatte er einen Asylantrag gestellt, unter den denkbar schlechtesten Vorzeichen. Das war der Haken. Dass er aus Pakistan kam und nicht aus einem anderen Land, einem Kriegs- oder Bürgerkriegsland, wie etwa Syrien. Vor der Anhörung in der Landesaufnahmestelle hatte er panische Angst, wohl wissend, dass man seinen Asylantrag wahrscheinlich ablehnen würde, und dies aus zahllosen Gründen, deren Logik er zum größten Teil nicht einmal verstand. Er hatte keine Ahnung von den deutschen Gesetzen (oder allenfalls umrisshaft, gerüchteweise, als nächtlicher Flüsterton in den Sammelunterkünften), und auch Julia hatte von diesen Gesetzen keine Ahnung: Asylrecht, Aufenthaltstitel, Arbeitserlaubnis. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als sich nach Anwälten zu erkundigen, die es kaum gab, da es, wie sie erfuhr, in diesem Rechtsbereich kaum etwas zu holen gab, außer Niederlagen, Abschiebungen und endloser Tristesse.

Faizan wohnte in einer Flüchtlingsunterkunft: Aschgraue containerartige Gebilde, in denen offensichtlich Menschen untergebracht waren, die aus Fenstern schauten, in einer Mischung aus Müdigkeit und Ratlosigkeit. Und? Was sollen wir jetzt tun? Jetzt, wo wir hier sind. Tagaus, tagein. Immer dieselben Fragen, derselbe Blick. Wie in einem ewigen Wartezimmer.

Er schlief in einem Mehrbettzimmer. Dort hielt er es kaum mehr aus: die knarrenden Doppelstockbetten, das Geschnarche, die ständigen Toilettenspülungen, die nächtlichen Flüstergespräche – und das wütende Hundegebell aus einer benachbarten Abfallverwertungsanlage. Immer öfter stand er nachts auf und lief ins Freie, wanderte ziellos durch die Nacht, um dann irgendwann vor Julias Tür zu stehen. Doch für sie war das kein Haken, sondern eine Freude, wenn er nachts zu ihr kam, in ihr Bett schlüpfte, sie umarmte, in einer Mischung aus Verlorenheit und Sehnsucht.

Im Radio hörte sie, dass in diesem Land alles schon viel zu viel sei, das Leben, die Steuern, die Abgaben, die Staus, der Verkehr, der Stress, die Arbeit, und dass jetzt auch noch die Flüchtlinge kommen und dass das (bei aller Fürsorge und Liebe) unendlich anstrengend sei. Wenn Faizan nachts neben ihr lag, dann war es jedenfalls nicht anstrengend.

Später dachte sie: Nicht Flüchtlinge sind anstrengend, sondern Flüchtlinge im Angesicht der deutschen Bürokratie. Das ist in der Tat anstrengend.

Es war ein Fulltime-Job. Beginnend mit der Suche nach einem Anwalt. Keiner fühlte sich für einen solchen Fall zuständig. Oder wollte sich dafür zuständig fühlen. Man schickte sie weiter oder wollte erst einmal Geld sehen.

»Das wird nicht ganz billig sein.«

»Wieviel?«

»500 Euro.«

Und Julia nickte.

»Pro Monat.«

Doch man sagte ihr, dass dieser Anwalt ein ausgewiesener Fachmann sei, auf Asylfragen geradezu spezialisiert. Einer der ganz wenigen.

»Wenn Sie das bitte unterschreiben würden.«

Sie unterschrieb und reichte ihm Unterlagen, die der Anwalt beiläufig durchblätterte: Pakistan. Das sei nicht Syrien. Das sei weder Fisch noch Fleisch. Das komme kaum in den Abendnachrichten, passe in kein rechtes Konzept. Für einen Flüchtling sei das ein viel zu schönes Land. Gelte de facto als sicherer Herkunftsstaat.

Julia: Wenn es dort so schön wäre, dann wäre Faizan ja kaum hier.

Der Anwalt: Das könne sie nicht entscheiden.

Wer es dann entscheide?

»Das entscheidet die Bundesrepublik Deutschland.«

»Die Bundesrepublik Deutschland?«

»Ja.«

Nicht einmal der Anwalt glaubte, dass Faizan einen wirklichen Asylgrund hatte. Keinen eigentlichen Weggeh-Grund als vielmehr nur einen Hierherkomm-Grund. Und das sei ein Unterschied, ein entscheidender Unterschied.


IN DER ZWISCHENZEIT HATTE Faizan eine Arbeit gefunden, in einem Dönerrestaurant namens Osmanisches Reich. Dort wischte er Tische, räumte Geschirr ab, füllte die Spülmaschine. Später nahm er Bestellungen auf. Er tat das mit einer Ruhe und Freundlichkeit, die die Gäste beeindruckte. Er schien die Gäste, die meist auf die eine oder andere Art mürrisch oder gereizt wirkten, zu beruhigen. Das Essen an sich war nicht besonders, doch es gewann von Woche zu Woche dank seiner Präsenz – und der Eleganz seiner Bewegungen. Eigentlich waren es die Bewegungen von Kellnern in Sternerestaurants, wie auch immer er sich diese Bewegungen angeeignet hatte. Er sagte, es seien die Bewegungen von Cricketspielern. Jeden Tag schaute er im Fernsehen Cricket, und er bewegte sich im Geiste mit seinen Lieblingsspielern, wie sie mit ruhigen Schritten stundenlang einen englischen Rasen beschreiten. Nichts anderes sei ein Restaurant – mit Werfern und Schlagmännern und fliegenden Wechseln. Die Schwingtüren zwischen Küche und Gästeraum bewegten sich, wenn er Dienst hatte, anders als sonst: feierlicher und freigiebiger. In ausgesuchten Momenten wie ein Theatervorhang, der sich öffnet. Vorhang auf – hier kommt das Essen, das er in einer einzigen durchgehenden Bewegung servierte.

Tagsüber fühlte er sich ausgeglichen und ruhig, nachts überkam ihn Panik. Er hörte, sobald er wieder in der Sammelunterkunft schlief, das ständige Hundegebell aus der angrenzenden Abfallverwertungsanlage. Bauschutt, Metallschrott, Häckselgut und Problemstoffe. So stand es auf hell erleuchteten Schildern hinter meterhohen Zäunen. Dahinter bellten die Hunde. Sie klangen wie Grenzhunde. Ihr ganzes Leben schien ein einziges, unablässiges Wutgebell, gegen alles und gegen jeden. »Don’t sit here. Don’t stand here. Don’t sleep here.« So bellten sie. Im Stakkato der Sätze, die er auf seiner Flucht gehört hatte. Endlose Don’ts.


RUHE UND PANIK. IN diesem Wechsel vollzog sich nun sein Leben. Ruhe, wenn er seinen Monatslohn bekam und er Julia einen Becher Eis mitbrachte, wenn er daran dachte, dass er mittlerweile schon fast ein Jahr hier war, ein wenig Deutsch konnte, wenn es so wirkte, als bewegte sich sein Hiersein schon in ersten gesicherten Bahnen, in einer Art Gleichklang und Rhythmus (von Julia zur Arbeit, von der Arbeit wieder zurück zu Julia), wenn er Julia gegenüber erklärte, dass Deutschland insgesamt (alles in allem) das freundlichste Land sei, das er unter all den Ländern dieser Welt erlebt hatte. Dann wieder ein Gefühl von Nervosität, wenn er daran dachte, dass seine Familie in Pakistan auf eine Geldüberweisung von ihm wartete und er erfuhr, dass er in Deutschland als nur geduldeter Ausländer gar kein Bankkonto eröffnen durfte. Julia eröffnete für ihn ein Konto, so wie man für einen Minderjährigen oder ein Kind ein Konto eröffnet, mit zahllosen Unterschriften, Versicherungen und Rückversicherungen. Doch immerhin, es war ein Konto. Ein erster Schritt. Aber trotz Konto (und einer eigenen Bankkarte) wuchs seine Unruhe, wenn er sich vorstellte, dass ein Bankkonto ohnehin bald obsolet sein könnte, da er gar nicht mehr lange hierbleiben dürfe, ja, dass man den bloßen Umstand eines Kontos auch gegen ihn auslegen könnte, als einen Größenwahn oder eine Anmaßung. Dass er genau dann wieder nach Pakistan zurückmüsse, wenn er zur Bank gehe, um dort zum ersten Mal Geld abzuheben. Als würde man diesen Moment von Genugtuung abwarten, um ein Exempel zu statuieren. Wage es nie mehr wieder.

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