Mit Segenskreuz und Handy

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So erwanderte ich mir in meiner ersten Nacht als Seelsorger für die deutschsprachigen Katholiken in Ägypten mein »Viertel«. Gebäude, in denen früher höhere Beamte und natürlich viele ausländische Geschäftsleute wohnten, ein »Regierungsviertel« dazu, in dessen südlichem Bereich die Gebäude des Parlaments sind. Häuser, wie sie fast baugleich und zeitgleich in Paris stehen, in Brüssel oder im Vorkriegs-Berlin. Und in der Nacht, die einen gnädigen Schatten auf den wirklichen Zustand der Gebäude legt, ist ein Weg um diese Häuser ein Gang durch die Geschichte Kairos des neunzehnten Jahrhunderts. Ich kannte Kairo ja schon, aber als Tourist ist man eben eher nicht in »Bab el Louk«, sondern in Zamalek, der Nil-Insel, oder in den Hotels bei den Pyramiden. Und ich begann, mein »Veedel«, wie die Kölner sagen würden, spontan lieb zu gewinnen – auch in der Nacht …

Es war gut, dass ich aus dem Zimmer gegangen bin, denn etwa gegen 4 Uhr kam eine Brise auf und schenkte die erhoffte leichte Abkühlung. Ich ging gerade am hohen, wundervoll geschmiedeten Zaun des Abdin-Palastes entlang und bewunderte dessen Architektur, die mich entfernt an den Buckingham-Palast erinnerte, da erklang fast gleichzeitig und doch mitunter um Sekunden versetzt aus hunderten von Moscheen der Ruf »Allah hu-Akbar!« – »Gott ist Größer!«. Kurz vor Sonnenaufgang ruft der Muezzin die Schläfer zum Gebet. »Gebet ist besser als Schlaf«, ruft er den Erwachenden zu. Der Gebetsruf strukturiert den Tagesablauf eines Muslim – aber auch eines jeden, der in einer durch den Islam geprägten Welt lebt. Und es ist fatal, wenn man sich gegen diesen Ruf innerlich wehren würde. An diesem frühen Morgen beschloss ich, auch auf die Einladung des Muezzin: »kommt zum Gebet, kommt zur Seligkeit« zu hören. Und beim Höchststand der Sonne, also zum Mittag, halte ich auch heute noch etwas länger inne und bete den »Engel des Herrn«. In Europa die Glocken – hier der Ruf des Muezzin. Und beides lädt zum Gebet.

Die Gebetseinladung nahm ich an diesem Morgen besonders gerne an, ging zurück zur Schule und hinauf in die Kapelle. Mit dem Brevier in der Hand kam ich in das Herzstück der Gemeinde, in das, was ich gerne »Gemeindezentrum« nenne. Denn es ist ja falsch, Versammlungsräume für Jugend- und Gruppenarbeit oder Säle zum Feiern mit diesem Begriff zu belegen. Das Zentrum der Gemeinde ist Christus, in der Gestalt des eucharistischen Brotes. Und ich konnte mich nun auch auf die bald beginnende Heilige Messe vorbereiten; »Natürlich auf Deutsch!«, wie Schwester Oberin erklärt hatte.

Obwohl ich erst vier Wochen später feierlich durch eine Mitarbeiterin von Pfr. Blome, Frau Julia Kohler, in meinen Dienst eingeführt wurde, war mir klar; mit dieser Messe beginne ich einen wichtigen Abschnitt meines Lebens. Ein guter Anfang – Mit Maria, die selber durch Ihre Spuren dieses Land Ägypten gesegnet hat, kann ich eigentlich ganz sicher gehen. Und der Heilige Josef, ihr Verlobter, wird still meine Wege schützen und mich darauf hinweisen, wenn ein Engel mir etwas sagen will …

11 https://de.wikipedia.org/wiki/Barmherzige_Schwestern_vom_hl._Karl_Borromäus.

DIE MARKUSGEMEINDE ZU ÄGYPTEN

Einführung als »Pfarrer« von Kairo?

Am 10. September fand in der Kapelle der »Deutschen Schule der Borromäerinnen« in Bab el Louk zu Kairo der »Einführungsgottesdienst« statt. Wer katholisch ist und sich etwas auch in der Struktur der kirchlichen Verwaltung auskennt wird sicher glauben, daß ich nun, mit dem Dekret des Bischofs in der Hand, »Pfarr-Herr« geworden wäre. Denn eine »Pfarrei« ist eine ganz klar vom Kirchenrecht beschriebene Größe, vor der Einführung der Kirchensteuer in Deutschland musste der Pfarrer von den »Pfründen«, also der finanziellen Ausstattung der jeweiligen Pfarrei, leben, und er hatte ganz besondere Rechte. Noch bis 1983, dem Jahr der Neuformulierung des Kirchlichen Gesetzbuches (des sog. Codex Iuris Canonici, kurz: CIC) war so zum Beispiel ein Pfarrer quasi »inamovibel«, das heißt, man konnte ihn nicht einfach »versetzen«. Daher sprach man früher auch von der »Besitznahme« der Pfarrei durch den Pfarrer.

Im Falle unserer »Deutschsprachigen Katholischen Gemeinde« war das freilich ganz anders.

Eine katholische deutsche oder deutschsprachige Pfarrei gibt es nicht! Auch keine »Gemeinde« im kirchenrechtlichen Sinne. Als Priester des Bistums Mainz wurde ich freigestellt, um Dienst zu leisten für die Deutschsprachigen Katholiken in Ägypten (und weiteren Ländern; dazu später mehr). Um dennoch als Priester wirklich arbeiten zu können, muss ich bei dem jeweiligen Ortsbischof gemeldet sein, der mir dann auch die offizielle Erlaubnis gibt, als Priester zu wirken. Die katholische Kirche kennt keine einfach daher laufenden »Wanderprediger«, sondern weiß sich dem hierarchischen Prinzip treu verpflichtet. Die Priesterweihe ist zwar ein unauslöschliches Sakrament (wie Taufe, Firmung, Ehe und so fort), das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann; aber die Ausübung der in der Weihe verliehenen Befähigungen muss vom Bischof erst erlaubt werden. Hier liegt oft ein Missverständnis, meinen doch selbst viele Katholiken, ein katholischer Priester kann letztlich völlig unabhängig (und auch frei von Vorschriften) schalten und walten, wie er will. Weit gefehlt!

Ich darf, wenn ich vom Kirchenrecht nicht daran gehindert werde, auf der ganzen Welt die Heilige Messe feiern – gesetzt den Fall, ich habe auch eine Bestätigung durch meinen Heimatbischof dabei, nach der jederzeit durch einen Kirchenrektor oder demjenigen, bei dem ich um Erlaubnis zur Zelebration bitte, gefragt werden kann. Übrigens wurde ich, in meinen fast 34 Priesterjahren, nur ein einziges Mal nach dem »Celebret« (von lateinisch: »er möge zelebrieren«) gefragt. Das war in der Kathedrale Montreal/Kanada, wo ich mich für einige Tage aufgehalten hatte.

Ebenso darf ich, so das Kirchenrecht, auf der ganzen Welt die Heilige Beichte hören. Das ist gar nicht selbstverständlich, denn bei der Lossprechung handelt es sich auch um einen Rechtsakt, und oberster Richter einer Diözese ist eben der Bischof, von dem man früher die Erlaubnis erhalten musste.

Ein ganz besonderer Fall ist die Eheschließung. Wie oft habe ich schon in meinem Leben einer katholischen Hochzeit »assistiert«. Die Eheleute spenden sich nämlich das Sakrament der Ehe gegenseitig; der Diakon oder Priester ist quasi »nur« der »erste Zeuge«.

Und dennoch: Zum Zustandekommen einer »gültigen Ehe« sind eine Reihe äußerst wichtiger Faktoren notwendig. Im Oktober des Jahres 2015 kam es ja im Zusammenhang der Bischofssynode in Rom zum Thema »Ehe und Familie« zu vielen und auch häufig wirren Diskussionen. Leider wurde in den Medien viel zu wenig darüber gesprochen was die »Ehe als Sakrament« eigentlich bedeutet. Jeder Teilnehmer der Bischofskonferenz (so glaube ich wenigstens!) wusste das. Aber in den Medien wurde zum Beispiel immer wieder die »Hartherzigkeit« der Kirche gegeißelt, die es nicht zuließe, dass man nach einer so genannten »gescheiterten Ehe« wieder heiraten dürfe.

Wann wird je gesagt, dass die Ehe deshalb ein Sakrament (also ein Zeichen der Nähe Gottes) ist, weil die Ehegatten das abbilden wollen, was Gott zu uns Menschen hat: Unwiderrufliche Treue und nie endende Barmherzigkeit (Eph 5,32)!

Was wohl seit Jahrzehnten fehlt ist die Vorbereitung der Eheleute genau zu diesem Punkt. Vielleicht würden dann weniger katholische Ehen geschlossen – aber diejenigen, die sich bewusst sind, was sie tun, könnten wahrhaftige Zeugen dieser »Ewigen Liebe Gottes« sein – einer Liebe, die miteinander, wie wir sagen, »durch dick und dünn« gehen kann.

Selbst ein wohl bestallter, kanonisch installierter Pfarrer kann von den »Hürden«, die das katholische Eherecht vor der Eheschließung aufbaut, ein episches Lied singen. Doch all diese Hürden sind notwendig, damit die Verliebten »geerdet« bleiben. Katholische Eheschließung ist nicht die schönere und feierlichere Form, miteinander das gemeinsame Leben »absegnen« zu lassen; es ist ein nicht widerruflicher Entschluss, dem Ehepartner ein Leben lang treu zu bleiben. Dazu bedarf es einer sehr reiflichen Prüfung und einer langen Vorbereitungszeit, die ehedem durch die Verlobungszeit gekennzeichnet war. Und freilich zog man dann nicht gleich zusammen! Heute wird man als »stock-konservativ« angesehen, wenn man nur zaghaft versucht, ein Fragezeichen hinter dieser »modernen« Verlobungszeit zu setzen. Und dennoch; jedem und jeder zolle ich Hochachtung, wenn Respekt gegenüber dem/der Anderen die eigenen Begierden übertrifft.

Zurück zur meiner Stelle und Stellung in Kairo. Ich bin und war also nie »Pfarrer« einer »Pfarrgemeinde« in Kairo! Und eigentlich – ich sage das mit einem lachenden und einem weinenden Auge – war ich noch nie in meinem Priesterleben richtiger »Pfarrer«. Als ich nach meiner Kaplanszeit die Stelle als Schulseelsorger der St. Lioba-Schule in Bad Nauheim antrat, war ich »Kaplan« – wie ich gerne übersetze: »Pfarrer zum Anlernen«. Ursprünglich war dieser »Titel« auch anders verwendet worden, aber in vielen Bistümern Deutschlands bezeichnet er eben das: Ein »Neupriester«, der die ersten Jahre seines Priestertums unter den Fittichen eines Pfarrers verbringt und von ihm viel lernen kann – bis er eben dann eine Pfarrei »verliehen« bekommt. Mancherorts heißt diese Stellung auch »Vikar«.

Ich selber kam 1988, nach einigen Jahren des Weiterstudiums und priesterlicher Tätigkeit in Tübingen und Butzbach/Oberhessen an ein Gymnasium in bischöflicher Trägerschaft, das St. Lioba – Gymnasium in Bad Nauheim, Hessen. Andere Mitbrüder im priesterlichen Dienst wurden so langsam »Pfarrer« – aber was macht man mit jemandem, der eben einen Dienst in der »Sonderseelsorge« beginnt?

Ganz einfach (und da ist die Kirche wirklich kreativ!); man »verleiht« ihm den Titel »Pfarrer«! So war ich, dem Titel nach, »Schulpfarrer«; aber ohne Pfarrei.

 

Priester ist man durch die Priesterweihe, die in der Kirche ein Sakrament ist, also »auf ewig«. Das unterscheidet übrigens fundamental die katholische Kirche von den evangelischen Gemeinschaften, die sich getrennt haben oder sich trennen mussten.

Für alle evangelische Christen gilt, dass sie ein »allgemeines Priestertum« kennen. »Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht einem jeglichen ziemt, solch Amt auszuüben.« So schreibt der Reformator 1520 in seiner Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung«. Und er erklärt kurz und bündig, dass »wir alle gleichmäßig Priester sind«. Unabhängig vom Rang in der kirchlichen Hierarchie kommt allen Getauften eine Mitverantwortung für die »Sache Jesu« zu.

Pfarrer ist und bleibt bei den Katholiken ein Titel! Priester jedoch ist man, kraft der durch den Bischof gespendeten, besonderen Weihe, die einen »character indelebilis« verleiht.

Mit der Lehre vom »character indelebilis« bekennt sich die Kirche zur Bundestreue Gottes, die in Christus ihren letzten und unwiderruflichen Ausdruck gefunden hat: »Wenn wir untreu sind, bleibt er doch treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen.« (2 Tim 2,13)

Der Geweihte bleibt dies lebenslang, auch wenn er kein kirchliches Amt mehr inne hat, sogar wenn ihm die Ausübung der jeweiligen Funktionen aus disziplinarischen oder lehramtlichen Gründen verboten oder er gar durch Laisierung aus dem Klerikerstand entlassen wurde. Auch dann kann er weiterhin noch gültig die Sakramente spenden. Dies gilt besonders in Todesgefahr.

Und was darf also der »Pfarrer« von Kairo? Diese Frage stellte sich für den »normalen« Katholiken nicht. Alle, die sich als katholisch betrachten, katholisch getauft sind und gerne eine »Gemeinde« bilden, waren und sind immer herzlich willkommen. Ich selber habe während meiner offiziellen Dienstzeit, also meiner Freistellung aus dem Bistum Mainz für den Dienst in Kairo, nie Probleme lösen müssen. Denn ich wusste; jede »Amtshandlung« muss über den Bischof gehen.

Ja; selbst in Ägypten gibt es einen katholischen Bischof! Eigentlich gibt es sehr viele, aber die sind nicht »römisch-katholisch«, sondern gehören einer anderen Riten-Familie an. Kopten, Armenier, Griechen, Libanesen – alle haben auch einen »katholischen« Platz in Ägypten.

Damit hat sich, seit ich nicht mehr offiziell durch das »Auslandssekretariat der Deutschen Bischofskonferenz« entsandt bin, an meinem Status nichts geändert. Nach wie vor ist es der römisch-katholische Bischof, derzeit Adel Zaki, der als »Apostolischer Vikar« mir alle Unterstützung gibt – und die entsprechenden Erlaubnisse (etwa: zur Eheassistenz oder zu anderen, kirchenrechtlich relevanten Handlungen) erteilt.

Aber schon höre ich die Frage: Herr Pfarrer; und was machen Sie, wenn jemand gefirmt werden will?

Meine Antwort: Ich frage den Bischof! Die lateinischen Bischöfe Ägyptens, Egidio Sampieri (1928-2000), Guiseppe Bausardo (1951-2008) und nun Adel Zaki (seit 1. Sept 2009) haben sich mit unserer Gemeinde immer gut verstanden. Wenn ich die Frage nach einer (anstehenden) Firmung an den entsprechenden Bischof sandte (oder ihn direkt fragte, denn Bischöfe sind hier schnell per Telefon zu erreichen), dann sagten sie mir immer: »Vater, bitte firmen Sie! Ich kann kein Deutsch; und das sollte schon die Sprache sein, in der die jungen Christen gefirmt werden«.

So wurde ich als »Pfarrer« in Kairo also eher »begrüßt« als »eingeführt«. Und das war ein Fest von großer Ausstrahlung! Vertreter der Ortskirche, der orientalischen Kopten und der mit Rom unierten Kirchen – all meine Brüder waren zur Feier gekommen.

Besonders wichtig war die Anwesenheit des damaligen evangelischen Pfarrers der Deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde in Kairo, Pfr. Günter Selbach. Er machte mir Mut und bot mir seine Hilfe an, »wenn immer ich ihn bräuchte«. Und dieses ökumenische Zeichen hat bis heute und bei allen seinen Nachfolgern angehalten!

Und es war eben die Gemeinde, die mich von Herzen begrüßte! Nach 4 Jahren ohne hauptamtlichen Seelsorger gab es wieder einen, der alleine für die Gemeinde (und für einige Gemeinden deutscher Sprache in anderen Ländern!) zuständig war.

Bab el Louk – Ein Stadtteil ist das Herz der Gemeinde

Unser »Viertel« ist »Bab el Louk«, und damit ein Teil des im 19. Jahrhundert durch den Khediven Ismail (1830 – 1895) errichteten, »modernen« Kairo. Über die Geschichte und Entwicklung dieses Viertels möchte ich kurz schreiben.

Vor der Verbannung Ismails in den Sudan durch die Engländer im Jahre 1879 soll er gesagt haben:

»Mein Land liegt jetzt nicht mehr in Afrika, wir sind jetzt ein Teil Europas. Daher ist es selbstverständlich, alle früheren Gebräuche zu verlassen und ein neues System einzuführen, das an unsere sozialen Bedingungen angepasst ist«.

Als Enkel des albanischen Tabakhändlers und Gouverneurs Mohammed Ali, der eine Dynastie errichtet hatte, die von 1805 – 1953 bestand, fühlte er sich berufen, Ägypten endgültig in die Moderne zu führen.

Hatte Mohammed Ali noch in der Schlacht bei Abukir (1799) gegen die Franzosen unter Napoleon gekämpft, änderte sich in zwei Generationen Einiges.

Gemeinsam mit seinem ältesten Bruder Ahmed wurde Ismail in Paris erzogen und kehrte 1849 nach dem Tode seines Vaters zurück. In der Politik engagiert wurde er schließlich 1863 Herrscher über Ägypten und erhielt 1867 vom Sultan Abdülaziz in Konstantinopel den erblichen Titel eines Khediven (Fürst oder Vizekönig), für dessen Verleihung er sich freilich auch finanziell erkenntlich zeigen musste.

Die folgenden zwölf Jahre nutzte er, um vor allem bedeutende Baumaßnahmen durchführen zu lassen. So setzte er die Vollendung des Suez-Kanals (Eröffnung 1869) durch, und baute Paläste sowie westlich des alten Kairos einen neuen Stadtbezirk; eben das, was heute »Wust el Balad« (Stadtmitte) genannt wird. Die Stadt Ismailia wurde nach ihm benannt. Die Kosten waren gewaltig, und wie fast immer: die Armen, besonders die Bauern in Mittelägypten, mussten zahlen! Die Schulden, auch auf internationalem Parkett, wuchsen ins Uferlose. 1878 geriet der Staat unter Finanzaufsicht der Geldgeber aus dem Ausland. Die Staatsschulden hatten sich von ca. 3 Millionen Pfund auf 100 Millionen Pfund vermehrt. Andererseits war ein Fünftel des gesamten Fruchtlandes sein privater Grundbesitz. Im Lande erhob sich großer Protest. Auf Betreiben der westlichen Mächte wurde Ismail 1879 durch den osmanischen Sultan abgesetzt. Seine Suezkanal-Aktien musste er verkaufen; damit konnten sich die Engländer die Kontrolle über den Kanal sichern. Seine letzten Lebensjahre durfte er in Konstantinopel zubringen. Dort starb er am 2. März 1895.

Im »Baedeker« von 1913, den ich heute noch regelmäßig befrage, wenn es um die Geschichte der Stadt geht, wird »Wust el Baldad« Ismaèlije genannt – eben; das von Khediven Ismael erbaute Viertel. Hier ein Zitat:

»Die Ismaèlije verdankt ihre Entstehung der Baulust des Vizekönigs Isma`il …, der jedermann gegen die Verpflichtung, innerhalb 18 Monaten ein Haus von mindestens 30.000 fr. Wert zu bauen, das Grundstück dazu schenkte. Es ist noch immer das vornehmste Viertel, der Sitz des europäischen Handels. Hier liegen mehrere der großen Hotels und Banken, die englische Kirche, die Ministerien und die meisten Konsulate, sowie viele Paläste reicher Europäer, Levantiner und ägyptischer Großen.«2

Leider sind über 100 Jahre vergangen, und an der von Karl Baedeker getroffenen Aussage über »Wust el Balad« stimmt nicht mehr viel. Spätestens seit der Revolution 1952 ging es mit den herrlichen Häusern steil bergab. Nach dem Beschluss durch Präsident Gamal Abd El Nasser, die Mieten einzufrieren, trat nach und nach ein sichtbarer Verfall ein. Als ich 1995 nach Ägypten kam, gab es noch Wohnungen von 250 Quadratmetern, die 20-50 Ägyptische Pfund kosteten, also etwa 5-15 DM im Monat. Dass dann ein Hauseigentümer nichts am Haus machen kann versteht sich von selbst.

Und dennoch; die Atmosphäre von »Wust el Balad« ist traumhaft! Kann man von »morbidem Charme« sprechen? In den letzten Jahren hat sich in diesem Bereich der Stadt viel ereignet. Studenten und Künstler eröffneten Cafés und Ausstellungen, in manchen Gegenden und Straßen, die tagsüber eher öde und verfallen aussehen, regt sich am Abend ein frohes »Nachtleben«. Aber das ist nicht zu vergleichen mit dem, was wir in der Regel darunter verstehen. Junge Ägypter treffen sich zum Tee und zum Wasserpfeife-Rauchen. Und vor allem: Zum Diskutieren! Geschäftstüchtige Ausländer suchen sich einen Geschäftspartner, um zum Beispiel ein italienisches Restaurant aufzumachen, das wenigstens einige Tage in der Woche mit Life-Jazz-Musik unterhält.

Schon unter Husni Mubarak wurden einige Fußgängerzonen angelegt. Die Straßen wurden begrünt und dadurch konnte man Raum schaffen. Mit Sicherheit sind hier auch im Vorfeld der so genannten »Revolution« vom 25. Januar 2011 viele Gedanken ausgetauscht worden. Ein Viertel mit »Querdenkern« – ein liberales, modernes, kreatives Viertel.

Und eben genau hier liegt das Herzstück unserer Gemeinde; die Deutsche Schule der Borromäerinnen mit den vielen Möglichkeiten, sich zu treffen und auszutauschen – und vor allem: Mit der Kapelle, dem geistlichen Zentrum unserer Gemeinde.

Einige Jahre wohnte ich also gegenüber der Schule –ich war ein stolzer Bewohner von »Bab el Louk«! Eine große, schöne und wichtige Erfahrung. Zwei kleine Begebenheiten sollen illustrieren, was es sein kann, wenn man an diesem für alle Ägypter so beliebtem Ort wohnt.

Wenige Tage nach meinem Einzug, also Ende des Monats August 1995, sprach mich ein mir unbekannter Mann an. Das ganz besonders auffällige an ihm: Auf seiner Stirn sah man deutlich einen etwas dunkleren Fleck; Eine Zibiba (arabisch für: »Rosine«), das Zeichen für besonders fromme Muslime. Ich sei doch der neue »Abuna« (arabisch für: »Vater«) der Schwestern in Bab el Louk? Er hatte auch keine großen Probleme, mich als Abuna zu erkennen, denn ich trug auch damals schon sehr häufig die priesterliche Soutane. In meinem palästinensischen Arabisch – der ägyptische Dialekt war mir noch fremd - fragte ich ihn, was er denn wolle. Ein breites Grinsen ging über sein Gesicht, so, als wolle er mir sagen: Jetzt hab` ich Dich erwischt! »Ich habe gehört«, sagte er, der neue deutsche Abuna sei gar kein Deutscher, sondern … Libanese! Und siehst Du, ich habe Recht behalten!«. Nun musste ich Grinsen und ihm zu seiner sichtlichen Enttäuschung sagen, ich sei sehr wohl Deutscher. »Aber Dein Vater ist bestimmt aus dem Libanon – oder zumindest aus Palästina; Deine Sprache verrät Dich ja!« Auch das musste ich verneinen – und zugleich dachte ich, da der freundliche Herr einen mir aus der Heiligen Schrift bekannten Satz gebrauchte: So war das also bei Petrus, als er im Hof des hohepriesterlichen Palastes stand und Jesus verleugnete! Die Magd hatte ihn, aufgrund seines Dialektes als jemanden erkannt, der vom See Genezareth stammte. Deine Sprache verrät Dich!

Immer noch ungläubig sagte er, eigentlich würde er ja nicht mit mir sprechen wollen, weil ich (vielleicht) Libanese sei. Und er hatte auch keine Wette darüber abgeschlossen. So langsam also kam er zu seinem Punkt.

Man muss wissen, dass die orientalische Mentalität es nicht zulässt, Dinge direkt anzusprechen, geradeaus Kritik zu üben oder seine Wünsche zu äußern. Die »Annäherung« an mich konnte eben durch die Frage, wo ich denn her käme und ob ich nicht ein Libanese sei, erleichtert werden. Für uns Europäer ist das immer eine etwas problematische Sache. Wenn wir in Deutschland zum Beispiel jemanden anrufen, dann sagen wir unseren Namen und unser Anliegen. Das wäre in Ägypten (und überhaupt im Orient) schon sehr unhöflich! Hier im Orient meldet man sich oftmals überhaupt nicht mit Namen, sondern fragt fast sofort zu Beginn: »Ezzayyak?« – wie geht es Dir? Und selbst wenn man sich schon lange kennt und man eigentlich erwarten würde, dass »Höflichkeitsfloskeln« nicht mehr notwendig sind; jetzt erst recht!

Mein Gesprächspartner erkundigt sich nach mir, fragt nochmals nach meiner Gesundheit (»ezzay sahetak?« – wie geht es Deiner Gesundheit?), fragt nach meiner Arbeit (»shughul quayyes?« – geht’s deiner Arbeit gut?) und natürlich fragt er nach dem Zustand der Familie. Zunächst in der Gesamtheit (»Ezzay usratak?« – wie geht es deiner Familie?) und dann einzeln, also zum Beispiel: »Madame quayyes?« – geht es Deiner Frau gut? – »Ahmed quayyes« – geht es Ahmed gut … und so fort. Für mich als Europäer, der ich auch heute noch, und aus ganzem Herzen bin, stellt dieses »Vorgeplänkel« vor der eigentlichen Frage oder dem eigentlichen Anliegen eine wirklich große Herausforderung dar. Und manchmal bin ich geneigt, alles abzukürzen und zu fragen: »Inte awwes eh?« – Was willst Du denn?

 

Zurück also zu meinem neuen Bekannten mit dem Gebetsmal auf seiner Stirn. Er sagte mir, dass er vor 2 Wochen eine »Ahwa« (arabisch für: Café) eröffnet habe; gerade die Straße Richtung Abdin-Palast, etwa 200 Meter von der Schule entfernt. »Ahlan wa-sahlan« (arabisch für: Herzlich Willkommen!)! Und er erklärte mir umständlich, dass wir ja hier in »Wust el Balad« seien und hier würde das Leben pulsieren und; nach der Religion fragt hier Keiner! Das überraschte mich einigermaßen; ein gläubiger Muslim lädt einen Priester in sein Café ein? Warum?

Zwei Tage später nahm ich mir etwas Zeit und schlenderte zum Café meines neuen Freundes.

Mit großem Hallo wurde ich begrüßt und geküsst – und dann durfte ich seine Freunde und anderen Gäste begrüßen. Da war ein Gemüsehändler von Shabramant, der täglich die zwanzig Kilometer nach »Downtown« fährt, um Tomaten, Zwiebeln und das Gemüse der Saison an den Mann zu bringen, der Elektriker, der bei Tag und Nacht kommen würde, um etwas zu reparieren, der englische Student, der an der Amerikanischen Universität Cairo (AUC) studiert, die direkt am Tahrir-Platz liegt und ebenfalls an derselben Straße wie die Deutsche Schule der Borromäerinnen und meine Wohnung, da gab es einen Schuhputzer, der in diesem neuen Café eine Chance sieht, seine Dienste anzubieten – und da saß ein Lehrer der Deutschen Schule, der schon seit längerem in Kairo war und ebenfalls das neu eröffnete Café inspizierte.

Die genannten und die weiteren Gäste stellten ein buntes Spektrum dar, das typisch ist für »Wust el Balad« und eigentlich für Kairo überhaupt. Wenn es eine Stadt gibt, die sich »kosmopolitisch« nennen darf, dann ist es Kairo!

Bei Kaffee, Tee und Wasserpfeife wurde im wahrsten Sinne über Gott und die Welt diskutiert – wobei klar war: Keine Verletzung der Gefühle des Anderen! Und nach etwa einer Stunde sagte Mohammed (mein neuer Freund und Besitzer des Cafés): »Abuna, bevor du gehst, musst Du noch eine ‚Baraka’ über meinen Laden sprechen! Hier kommen Muslime, Christen und Ungläubige zusammen. Deshalb braucht dieser Laden auch den christlichen Segen«.

Eine »Baraka«? Den Stamm dieses Wortes hatte ich schon vor Jahrzehnten kennen gelernt, als in Jerusalem studierte. »Baruch atta adonai …« (hebräisch für: Gesegnet bis Du, Herr). Meine Mainzer Diplomarbeit hatte sich mit dem Vorkommen eben dieser Formel »baruch YHWH« (hebräisch für: Gesegnet der Herr) im Alten Testament beschäftigt. Der Präsident Ägyptens hieß: Mubarak (Partizip Perfekt Passiv: Der Gesegnete, übrigens Lateinisch: Benedictus).

Und das damals einzige in Flaschen zu kaufende Mineralwasser hieß: Baraka (Denn Wasser ist immer ein Segen, gerade in einem Land, das zu fast 95% aus Wüste besteht).

Schnell eine »Baraka« sprechen wollte ich allerdings nicht; dafür war mir diese Handlung zu wichtig. Am folgenden Tag kam ich, mit Rituale, Stola und Weihwasser, wieder zum Café meines Freundes Mohammad. Um dem Segen eine besondere Ausstrahlung zu geben sprach ich auf Latein:

»Oremus: Benedic, Domine, Deus omnipotens, locum istum: ut sit in eo sanitas, castitas, victoria, virtus, humilitas, bonitas, et mansuetudo, plenitudo legis, et gratiarum actio Deo Patri et Filio et Spiritui sancto; et haec benedictio manet super hunc locum et super inhabitantes (vel visitatores) in eo nunc et in omnia saecula saeculorum. Amen«.

In freier Übersetzung:

»Lasset und beten: Segne, Herr, Allmächtiger Gott, diesen Ort, damit in ihm seien: Sauberkeit, Zucht, Sieg und Tugenden, Barmherzigkeit, Güte und Sanftmut, die Fülle des Gesetzes und die Danksagung gegenüber Gott, dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste; und dieser Segen bleibe auf diesem Ort und auf denen, die hier wohnen (und alle Besucher) heute, und in alle Ewigkeit. Amen«.

»Bab el Louk« – das Herz der Gemeinde? Sicher, denn hier findet BEGEGNUNG statt, hier werden keine Schranken errichtet, sondern Brücken gebaut. Meine Idee war es von Anfang an, meine deutschsprachigen Katholiken hinzuführen zum Gastland und deren Bräuchen, Religionen und Konfessionen. Wo, wenn nicht in Bab el Louk, einem Teil des neu errichteten Stadtteils Ismailia, einem Teil des »Wust el Balad«, das von einem Vizekönig errichtet worden war, der sich als Europäer verstand und sein Volk in die Begegnung mit der Moderne führen wollte, kann das – wenigstens ansatzweise – gelingen?

Das Erlebnis, nun vor 20 Jahren, blieb gewiss in dieser Weise einmalig. Aber immer wieder passiert es, dass ich mit jungen oder alten Menschen – einfach so auf der Straße, in der Bäckerei oder auch in einem Café – ins Gespräch komme. Häufig beginnt es mit der Frage: »Du bist doch ein »Abuna«; was meinst Du …« Und dann kommen Fragen zu Christen und Muslimen, zu Europäern und Orientalen, zu Demokratie und Diktatur …

Inzwischen kennen mich viele in unserem Bab el Louk; und immer wieder lerne ich neue Menschen kennen. Freilich sind inzwischen die Wenigsten wirklich Ausländer. Doch scheint die Gegend auch zu einem Viertel geworden zu sein, in die es viele intellektuelle junge Ägypter treibt – auch wenn seit der Amtsübernahme durch Präsident El-Sisi die lebendige Kraft nicht mehr so sichtbar ist.

Der Aufstand vom 25. Januar 2011 ging von »Wust el Balad«, von Ismailia, aus. Heute sind moderne Kunst und Kultur, oft als »fusion« (englisch: Verschmelzung) mit der Kultur des Orients, angesagt. Und es bleiben wohl auch noch genug Menschen, die sich einen Fortschritt Ägyptens erhoffen, wie er als Vision über dem Jahr 2011, dem Jahr der »Revolution«, geschwebt hatte. Die kreativen und sehnsuchtsvollen Kräfte sind, wie vor Jahrzehnten, noch da. Und sie werden die Krusten lösen.

Deutschsprachige Gemeinde – wer ist das?

Nach meiner Begrüßung und vielen Besuchen bei Vertretern der Wirtschaft und den Einrichtungen der schweizerischen, österreichischen und deutschen Botschaften sowie besonders der damals zwei deutschen Schulen in Kairo sollte der Alltag beginnen. Doch was ist bei einer deutschsprachigen Gemeinde im Ausland eigentlich »Alltag«? Bestimmt wird in den Gemeinden, die kanonisch errichtet, also »richtige Pfarrgemeinden« sind, auch Routine herrschen. Doch gerade in diesen Gemeinden wird der Seelsorger besonders wach und aktiv sein müssen.

In einem Land, in dem die meisten Ägypter selbst Englisch oft nicht verstehen, in dem fast 85% der Bevölkerung muslimisch ist, weitere 10% einer der orientalischen bzw. orthodoxen Kirchen angehört und eben nur 1% »einigermaßen« der Christenheit entspricht, die man kennt – kann man da ganz normale Gemeinde sein?

Andere Mentalität, andere Regeln, andere Religion; die Markusgemeinde kann nicht so sein wie eine Gemeinde von Köln, Dresden, Berlin oder Mainz!

Bereits bei einem Besuch im Oktober 1994, den ich mit dem Leiter des Auslandssekretariats, Pfr. Norbert Blome, machen konnte, wurde klar: Hier ticken die Uhren anders. Blome sagte mir damals schon sinngemäß:

»Sollte Ihr Bischof Sie freistellen, dann haben Sie sich selbst zu organisieren. Wir werden Sie nach allen Kräften unterstützen; aber WAS Sie WIE machen müssen – das können alleine Sie vor Ort entscheiden. Wir in Deutschland wären damit total überfordert. Und außerdem können wir ja gar nicht in Ihre Arbeit »hineinregieren« und wollen es nicht! Sie sind in Kairo, Sie sind im Nahen Osten; was Sie, zusammen mit der Gemeinde, entscheiden und brauchen, das lassen Sie uns wissen und wenn es irgend geht, werden wir ihnen helfen!«

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