Buch lesen: «Sexualität – Macht – Religion»
Joachim Kügler
Sexualität – Macht – Religion
Joachim Kügler
Sexualität – Macht – Religion
Zeitreisen ins Bermuda-Dreieck
menschlicher Existenz
Für Ottmar, Eugen, Ben und all jene, die auf ihre Art dem Zeus-Komplex Widerstand leisten.
Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf Folienverpackung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
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1. Auflage 2021
© 2021 Echter Verlag GmbH, Würzburg
Umschlag: Vogelsang Design, Jens Vogelsang, Aachen
Umschlagbild: Shutterstock / Anton Pronin
Innengestaltung: Crossmediabureau, Gerolzhofen
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-05656-8
978-3-429-05181-5 (PDF)
978-3-429-06544-7 (ePub)
Inhalt
Einleitung
Macht und Missbrauch
Sexualität, Macht und Religion als „Bermuda-Dreieck“?
I.Eine Frau als König? – Der politische Körper der Hatschepsut
Von der Königsgattin zum König
Königstochter
Gottessohn / Gottestochter
Tochter einer Göttin
Keine Ewigkeit für Hatschepsut: Eine Frau ist eine Frau
Wenn eine Frau „ihren Mann steht“ – erste Fragen aus der Vergangenheit an die Gegenwart
II.Warum man einen Mann nicht zur Frau machen darf
Zwei ägyptische Götter streiten um die Herrschaft
Das Buch Levitikus und die Männlichkeit der Söhne Israels
Der griechische Zeus-Komplex und die Vergewaltigung im Krieg
Rom beherrscht die Welt – ein Mann beherrscht Rom
III.Der schöne Josef: Die bedrohte Männlichkeit eines Sklaven
Der schöne Geliebte im Hohelied Salomos
Der schöne Sklave Josef
Die Schönheit des Gesalbten: Abglanz der Schönheit Gottes
IV.Jesus als Opfer sexuellen Missbrauchs?
Kreuzigung als Entmännlichung
Die Tradition des leidenden Erlösers
Der Weg Jesu als Geschlechtswechsel
Die Staatskirche braucht wieder einen „richtigen Mann“
V.Auch Christinnen sind Söhne Gottes: Paulus und der öffentliche Körper von erlösten Frauen
Das Problem in Korinth: Schleier, offenes Haar oder „Bubikopf “?
Die Motivation der korinthischen Frauen: „Alle sind Söhne Gottes!“
Kleider machen Leute
Warum es nicht genügt, Tochter Gottes zu sein
Es ist gut für die Frau, keine zu sein!
„Söhne Gottes“ sollten aussehen wie Männer!
Weibliche „Söhne Gottes“ müssen aussehen wie Frauen!
Paulus, meine Oma und Marlene Dietrichs Hosenanzug
VI.„Gottesgemahlinnen“, „alte Jungfrauen“ und „junge Witwen“: Wenn Frauen nicht heiraten
Ägyptische Frauen mit einem himmlischen Ehemann
Die römischen Vestalinnen
Geistbegabt und unabhängig: Judit
Jungfrauen als Gattinnen der Weisheit bei Philo von Alexandrien
Junge „Witwen“ als Bräute Christi
Die Attraktivität der Ehelosigkeit als Vehikel weiblicher Selbstbestimmung
VII.„Und die Moral von der Geschicht’?“ – Impulse aus der Vergangenheit an die Gegenwart
Männliche Herrschaft ist das Übliche, aber kein Ideal
Frauen sind nicht nur Opfer
Die Welt braucht eine apostolische Genderpolitik der Kirche
Sexualität ist gefährlich, aber nicht böse
Jenseits des Zeus-Komplexes: Gott ist die ganz Andere
VIII.Für ganz Neugierige: Literatur zur Vertiefung und einige Anmerkungen
Zu Kapitel I:
Zu Kapitel II:
Zu Kapitel III:
Zu Kapitel IV:
Zu Kapitel V:
Zu Kapitel VI:
Zu Kapitel VII:
Anmerkungen
Einleitung
Macht und Missbrauch
Seit über zehn Jahren wird die katholische Kirche von einem Missbrauchsskandal erschüttert, der sie in eine existenzbedrohende Krise gestürzt hat. Das bringt mit sich, dass die moralische Autorität der Kirche sich in vielen Bereichen in Luft aufgelöst hat. Viele Menschen – auch Freunde der Kirche – fragen völlig zu Recht, was denn die Lehre der Kirche wert sein kann, wenn sie es nicht einmal schafft, in ihrem eigenen Bereich schlimmste Verfehlungen wie den Missbrauch von Kindern zu verhindern. Und noch schlimmer ist der Eindruck, dass die ureigene Tradition der Kirche kaum geeignet scheint, die Krise aufzuarbeiten. Weder moralische Appelle noch geistliche oder theologische Rezepte scheinen sich als Lösungsmodelle aufzudrängen.
Auch dieses Buch will und kann keine Rezepte liefern. Es ist nur der Versuch, durch eine Reise in die Vergangenheit quasi einen Blick von außen auf unsere heutigen Probleme zu werfen. Alte Kulturen zeichnen sich meist dadurch aus, dass Sexualität und Macht ganz innig verbunden sind. Das vermag unseren Blick zu schärfen für Gebrauch und Missbrauch von Sexualität als Instrument der Macht. Dieser Blick ist – trotz Missbrauchsskandalen und #metoo-Bewegung – durch die Nachwirkungen der Romantik und ihrer exklusiven Verbindung von Sexualität mit Liebe und innigem Gefühl immer noch etwas getrübt. Es ist an der Zeit, die Abgründe und Ambivalenzen menschlicher Sexualität wieder deutlicher wahrzunehmen, gerade damit menschliche Sexualität wirklich zum Ausdruck von Liebe und Zuneigung werden kann.
In den Zeitreisen, zu denen ich einlade, benutze ich eine Unterscheidung, die für viele vermutlich recht ungewohnt ist. Ich spreche nämlich von verschiedenen Körpern eines Menschen. Das muss kurz erläutert werden:
•Persönlichen Körper nenne ich den Körper, in dem wir leben. Der persönliche Körper ist aber mehr als nur biologisches Material. Er ist zugleich ein geistiges Konzept, weil er ja von uns wahrgenommen und gedeutet wird. Da Menschen gesellige Wesen sind, ist unsere Wahrnehmung des persönlichen Körpers von kulturellen und religiösen Traditionen bestimmt und nicht einfach nur unser „eigenes Ding“. Gleichzeitig wird unser Körper von anderen wahrgenommen und gedeutet, womit dann ein anderer Körper beginnt, der öffentlich ist.
•Der öffentliche Körper ist weitgehend definiert durch die Rolle, die wir in der Gesellschaft spielen (wollen und/oder müssen). Wenn ich im Folgenden vom sozialen, religiösen, politischen, kulturellen oder gesellschaftlichen Körper spreche, dann meine ich keine zusätzlichen Körper, sondern will nur deutlich machen, um welchen Aspekt von „Öffentlichkeit“ es jeweils geht. Unser Austausch mit anderen geschieht ja in verschiedenen Welten, in der Zweisamkeit, der Familie, dem Freundeskreis, im Berufsleben, der Kirche, den Medien oder in der Weltöffentlichkeit. Alle diese Welten verdienten natürlich eine eigene Betrachtung, aber im Rahmen dieses Buches kann ich nur bestimmte Aspekte auswählen und darauf eingehen.
Die Unterscheidung von zwei Körpern ist übrigens alt. Bei Paulus haben wir schon die Vorstellung, dass die Glaubenden in einen Christus-Körper eingefügt werden (dazu später mehr), und auch die politische Theologie des Mittelalters unterscheidet einen natürlich-sterblichen Körper des Königs von seinem übernatürlich-unsterblichen Körper.1 Mir geht es freilich nicht nur um den König. Auch wenn im Folgenden viel von Herrschern die Rede ist, gehe ich davon aus, dass jeder Mensch mehrere Körper hat. Auch unterscheide ich nicht nach sterblich/unsterblich oder natürlich/übernatürlich, sondern nach privat/öffentlich. Ich konzentriere mich sehr auf das Geschlecht der beiden Körper und auch auf die Frage, wie die beiden Körper zusammenhängen. Wie weiblich kann der private Körper sein, wenn der öffentliche Körper männlich sein muss? Was geschieht, wenn der persönliche Körper unterworfen wird, während der öffentliche Körper absolute Macht besitzt?
Während wir uns an den Zusammenhang von Sexualität und Macht erst wieder gewöhnen müssen, ist uns der Gedanke, dass Religion und Macht zusammengehören, viel vertrauter. Das hat die religiöse Tradition nicht nur des Christentums immer schon gewusst. Nicht umsonst wurde Gott als der Allmächtige verkündet und verehrt. Die vielen Götter anderer Religionen mögen zwar nicht allmächtig sein, aber dass sie mächtiger sind als die Menschen, macht ihr Wesen aus. Sonst bräuchte man sie gar nicht.
Sexualität, Macht und Religion als „Bermuda-Dreieck“?
Angewandt auf den Zusammenhang von Sexualität, Macht und Religion, dient das Bild vom Bermuda-Dreieck als Metapher für Zusammenhänge, die einerseits offenkundig machtvoll und wirksam sind, andererseits aber auch geheimnisvoll und undurchsichtig.
Dass Sexualität, Macht und Religion jedes für sich ein wirksames, geradezu unheimlich energiegeladenes Kraftfeld der menschlichen Existenz darstellen, liegt auf der Hand. Jedes menschliche Leben muss sich in ein Verhältnis zu diesen Kraftfeldern setzen. Selbst ein völlig asexueller Mensch, falls es ihn gäbe, müsste sich mit der sexuellen Bestimmtheit seiner Artgenossen auseinandersetzen. Selbst ein völlig machtloser Mensch bekommt es mit der Macht der anderen zu tun. Selbst eine komplett religionslose Person muss sich mit der Religion der anderen als einem machtvollen Sinnsystem in Vergangenheit und Gegenwart auseinandersetzen.
Der Aspekt des Geheimnisvollen wird vielen dagegen nicht sofort einleuchten. Gibt es denn in unserer Zeit überhaupt noch Tabus? Besonders im Bereich der Sexualität scheint in Zeiten allgemein zugänglicher Versorgung mit pornographischen Produkten die Rede von Tabu und Geheimnis ziemlich altbacken.
Auch die Macht scheinen wir entzaubert zu haben. Wir wählen unsere Regierenden für eine bestimmte Zeit, und wenn sie uns nicht mehr passen, dann wählen wir sie ab.
Und letztlich gehen wir auch an Religion mit aufklärerischer Vernunft heran und unterwerfen religiöse Geltungsansprüche wie selbstverständlich den Regeln der allgemeinen Menschenrechte und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Die Geheimnisfreiheit unserer modernen westlichen Kultur ist aber wohl nur ein Trugschluss. Das völlige Fehlen von Geheimnis und Tabu ist nämlich kulturgeschichtlich gesehen geradezu unmöglich. Jede Kultur hat nämlich ihre eigenen Geheimnisse, Mythen und Tabus. Und die wirksamsten zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie unsichtbar sind – gerade für die unmittelbar Beteiligten nicht recht zu fassen. Erfasst werden Mythen und Tabus immer erst dann, wenn sie schwach werden, unwirksam und unbrauchbar. Deshalb erkennen wir sie leichter in Kulturen, denen wir nicht oder nicht mehr angehören.
Außerdem geht es bei dem Bermuda-Bild nicht einfach um den Tabu-Charakter von Sexualität, Macht und Religion, sondern um die geheimnisvollen Wechselwirkungen zwischen diesen drei Dimensionen menschlichen Lebens. Dass hinsichtlich dieses Zusammenspiels auch unsere Kultur ihre „blinden Flecken“ hat, darf als sicher gelten.
Nun bin ich als Bibelwissenschaftler kein Experte für die Gegenwart. Deshalb wende ich mich mit meinen Betrachtungen alten, längst vergangenen Kulturen zu. Meiner Profession entsprechend sind meine kleinen, höchst selektiven Ausflüge ins Bermuda-Dreieck menschlicher Existenz also zugleich Zeitreisen. Sie laden ein, ins Fremde zu reisen, um das Eigene zu erkennen. Gerade wenn wir uns sehr fremden Kulturen widmen, wird nahezu unweigerlich immer wieder die Frage aufkommen, was das Ganze mit uns zu tun hat, ob wir es heute denn so ganz anders machen und wenn ja warum.
So hoffe ich, dass Sie auch dort, wo ich nicht selbst die Linien direkt bis zur Gegenwart ausziehe, die Möglichkeit entdecken, sich selbst und Ihre eigene Kultur neu zu begreifen – in Zustimmung und Widerspruch zum Damals und auch zu mir als Autor. Steigen Sie also ein, in unsere kleine Zeitmaschine SE-MA-RE!
I.Eine Frau als König? – Der politische Körper der Hatschepsut
Die erste Zeitreise macht deutlich, dass mit Sexualität nicht nur Sex gemeint ist. Es geht vielmehr auch um das Geschlecht, das uns mitgegeben ist, und um die Geschlechtsrolle (engl. Gender), die uns Kultur und Gesellschaft deshalb zuweisen. Die Geschlechtsrolle ist so etwas wie unser gedachter kultureller, politischer und religiöser Körper. Indem eine Gesellschaft definiert, wie sie Männlichkeit oder Weiblichkeit versteht, weist sie jedem Menschen einen gedachten Körper zu, der seinem / ihrem wahrnehmbaren Körper irgendwie entspricht. Damit verbunden ist die Erwartung, in diesen geistigen Körper hineinzuwachsen, also ein richtiger Mann oder eine richtige Frau zu werden. Diese Erwartungen wirken dann wieder zurück auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers, auf die persönliche Zuordnung dieses Körpers zu einem Geschlecht und sogar auf die Gestaltung dieses Körpers – etwa durch Kleidung, Kosmetik, Training oder operative Eingriffe.
Nun aber genug der Vorrede. Unser kleiner Theorie-Koffer ist gepackt und wir starten unsere erste Zeitreise. Wir sind im Ägypten des Neuen Reiches, etwa in der Mitte des 15. Jahrhunderts v. Chr. Nach kurzer Herrschaft ist König Thutmosis II. gestorben. Für eine seiner Witwen ist dieser Tod ein besonderes Problem. Die „Große Königsgemahlin“ Hatschepsut hat ihrem Ehemann (und Halbbruder) nämlich „nur“ eine Tochter geboren. Als Mädchen ist sie nicht berechtigt, die Krone zu erben. Damit geht die Thronfolge auf den Sohn einer Nebenfrau über. Das kann für Hatschepsut bedeuten, dass sie ein ganz normales Mitglied des königlichen Harems wird – ohne herausgehobene Stellung. Diese gebührte meist der Königsmutter. Verglichen mit den normalen Ägypterinnen ist der Status einer königlichen Dame unvorstellbar privilegiert, aber vielleicht ist er doch zu wenig für die „Spitze der Damen“ (so ähnlich die Übersetzung des Namens Hat-schepsut), die ja genau wie ihr verstorbener Gatte und Halbbruder ein Kind von König Thutmosis I. ist.
Die männliche Erbfolge kann aber offensichtlich nicht außer Kraft gesetzt werden. Sie ist ja auch mehr als nur eine rechtliche Regelung. Sie ist fest verankert im religiösen Rahmen, der das königliche Amt begründet. Die ägyptische Tradition versteht den König als Inkarnation des Himmelsgottes Horus. Er ist „Horus auf dem Thron“ und zugleich Sohn des höchsten Gottes (zunächst des Sonnengottes Re, später dann des Amun-Re). Als Sohn ist der König der Stellvertreter und das Abbild seines göttlichen Vaters. Als Gottessohn hält er durch seine Herrschaft die Welt als Haus seines himmlischen Vaters in Ordnung. Und ein Sohn ist nun einmal männlich.
So wird es auch vom Isis-Horus-Mythos vorausgesetzt. Dieser Mythos identifiziert den König mit Horus, dem Königssohn, der seinen ermordeten Vater Osiris rächt und dessen Herrschaft übernimmt. Solange der König auf Erden regiert, ist er der „lebende Horus“. Und wenn der König stirbt, dann geht er ein in die Rolle des Vaters, er wird zu Osiris. Der Vater-Gott Osiris, der im Jenseits herrscht, ist die (männliche) Gestalt, in die jeder tote König sich verwandeln muss, wenn er seine Königsherrschaft über den physischen Tod hinaus verewigen will.
Die gesamte Königsideologie ist also auf das männliche Geschlecht des Amtsträgers ausgerichtet. Das drückt sich auch in den königlichen Titeln und in seinem Ornat aus. Der König führt den Titel „Sohn des Re“, trägt selbstverständlich männliche Kleidung, einen Zeremonialbart und einen Stierschwanz, der ihn als „Starker Stier“ kennzeichnet.
Das Amt des Königs ist also durch und durch männlich bestimmt. Für eine weibliche Besetzung ist da kein Spielraum. Es überrascht also nicht, dass der Sohn einer Nebenfrau, auch wenn er noch ein Kind war, das Erbe seines Vaters antreten musste, während dies Hatschepsuts Tochter Neferure verwehrt blieb.
Abb. 1: Ein Fragment aus dem Karnak-Tempel zeigt Hatschepsut mit dem Titel (markiert) und in der typischen Tracht einer „Großen Königsgattin“ (Geierhaube und Doppelfederkrone, busenfreies Trägerkleid) beim Opfer. (Graphik JK)
Irgendwie ließ sich aber der drohende Bedeutungsverlust für Hatschepsut abwenden. Sie übernimmt anstelle der rangniederen Königsmutter die Vormundschaft für den unmündigen Knaben, der als König Thutmosis III. installiert wird. Solche Konstruktionen stellvertretender Herrschaft von Frauen waren in der ägyptischen Geschichte zwar selten, aber nicht unmöglich. Selbstverständlich wird Hatschepsut in der Zeit der stellvertretenden Regentschaft auf den Reliefs so abgebildet, wie es sich für eine Königsgemahlin gehört, nämlich als Frau.
Von der Königsgattin zum König
Die Vormundschaft von Frauen für den unmündigen König störte die männliche Königstradition nicht. Außergewöhnlich, ja eigentlich unmöglich war aber, dass Hatschepsut nach wenigen Jahren selbst das Königsamt übernahm. Sie agierte nicht mehr als Stellvertreterin, sondern als König mit allen Rechten. Sie trug jetzt die Titel ägyptischer Könige und den Thronnamen Maat-Ka-Re. Um aber selbst König zu sein, musste sie zwei große Probleme lösen: Erstens saß mit Thutmosis III. schon ein rechtmäßiger König auf dem ägyptischen Thron. Und zweitens hatte sie für das Königsamt das falsche Geschlecht.
Die einfachste Lösung für das erste Problem wäre wohl die Ermordung des Knaben gewesen. Als „Gott“ konnte ein altägyptischer König zwar nicht in Rente geschickt werden, aber man konnte ihn umbringen. Aus Gründen, die wir nicht kennen, wählte Hatschepsut eine andere Lösung. Sie leugnete die kurze Herrschaft ihres Mannes Thutmosis II. und stellte sich als direkte Nachfolgerin ihres Vaters Thutmosis I. dar. Thutmosis III. deklarierte sie als „zukünftigen“ König und „erhob“ ihn zu ihrem Mitregenten. Das Modell des Ko-Regenten mit Nachfolgerecht war aus der ägyptischen Geschichte bekannt. Und so konnte Hatschepsut mit diesem Modell als eigentlicher König gelten, ohne ihren Neffen und Stiefsohn um seinen Thronanspruch zu bringen.
Damit war Hatschepsut aber immer noch eine Frau. Dieses Problem löste sie in einer sehr kreativen Doppelstrategie. Einerseits arbeitete sie an einer gewissen Verweiblichung der ägyptischen Königsideologie und andererseits passte sie sich selbst an das männliche Geschlecht des Königsamtes an.
Vollzog sich ihre Bearbeitung des Königsmythos vor allem im Bereich der Texte, so geschah die Anpassung ihres Geschlechts vor allem im Bild. Das ist plausibel, denn das elastische Medium des Textes ist für eine bewusste Veränderung von Geschlechtsrollen wesentlich durchlässiger als die bildliche Darstellung, die gerade hinsichtlich der Geschlechtsrollen sehr starr ist.
Auch heute käme doch niemand auf die Idee, Damentoiletten mit einem Hosen-Piktogramm und Herrentoiletten mit einem Rock-Piktogramm zu markieren, obwohl (z.B. in Schottland) auch Männer Röcke tragen und es heute viele Frauen gibt, die gerne Hosen tragen. So gibt es in Ägypten auch für die Darstellung eines Königs ein ganz bestimmtes Bild, das zwar Variationen (etwa bei Kopfbedeckung) zulässt, aber eines immer konstant hält: Stets handelt es sich um eine männliche Gestalt.
Nach einer Phase des Experimentierens mit neuen, weiblichen Königsdarstellungen beugt sich Hatschepsut der Macht der Tradition, passt ihre Darstellung an und erscheint von da an nur noch als männliche Gestalt: König Hatschepsut. Wenn Reliefs König Hatschepsut und den „Mitregenten“ Thutmosis III. zeigen, dann gleichen sich die Darstellungen der beiden vollkommen (Abb. 2). Nur die jeweils beigefügte Inschrift ermöglicht eine Identifizierung.
Abb. 2: Hatschepsut und ihr „Mitregent“ Thutmosis III. beim Opfer (Graphik JK)
Dabei geht es nicht nur um die Kleidung. Der amtliche Geschlechtswechsel geht so weit, dass Hatschepsut auch dort, wo sie nackt abgebildet ist, männlich erscheint (siehe unten Abb. 5). Hatschepsut ordnet in ihrer öffentlichen Erscheinung ihr persönliches Geschlecht dem amtlichen Geschlecht des Königs unter. Es ist daher unsinnig, Hatschepsut als „Transvestitin“ zu bezeichnen. Es geht nicht um Psychologie, sondern um Symbolpolitik. So sagt der amtliche Geschlechtswechsel auch nichts darüber aus, wie sich Hatschepsut privat gekleidet hat. Da wir nur die offiziellen Darstellungen aus den Tempeln haben, können wir darüber nichts sagen. Wichtig ist nur, dass der politische und religiöse Körper des Königs männlich ist, weil nur ein Mann das männliche Amt ausfüllen kann. Die Idee Hatschepsuts, ihren amtlichen Körper zu vermännlichen, mag kühn erscheinen, aber sie radikalisiert damit eigentlich nur die Unterscheidung von Person und Amt, die die Königstradition ohnehin kannte. Auch Thutmosis III. wird nicht als Kind dargestellt, sondern als erwachsener Mann. Und hätte ein ägyptischer König nur ein Auge gehabt, dann wüssten wir es vermutlich nicht, denn man hätte ihn sicher der Königsnorm entsprechend mit zwei Augen dargestellt. Im Grunde hatte ja jeder ägyptische König zwei Körper, einen amtlichen und einen persönlichen. Mit Letzterem war er Sohn eines Königs, mit dem anderen Sohn eines Gottes.
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