Buch lesen: «Sag niemals, das ist dein letzter Weg»

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Unter dem Titel »Auch wir waren in Ponar - Bekenntnisse einer Wilnaerin« erschien in Israel eine hebräische Ausgabe des gleichen Urtextes von J. Schapiro-Rosenzweig

©Beit Lohamei Haghetaot

Mit freundlicher Genehmigung für den deutschsprachigen Raum

© 2001

e-book-Ausgabe 2020

RHEIN-MO­SEL-VER­LAG

Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel

Tel. 06542/5151, Fax 06542/61158

www.rhein-mosel-verlag.de

Alle Rech­te vor­be­hal­ten

ISBN 978-3-89801-905-7

Aus­stat­tung: Stefanie Thur

Umschlagzeichnung: Samuel Bak

Jetta Scha­pi­ro-Ro­sen­zweig

Sag niemals, das ist dein letzter Weg

Flucht aus Ponar – Eine Mutter und ihre kleine Tochter kämpfen ums Überleben

Aus dem Jiddischen von Tamar Dreifuß

Rhein-Mo­sel-Ver­lag

Dieses Buch widme ich meiner Mutter selig und meinen beiden Kindern Iris und Raphael.

Vorwort

Vie­le Stun­den habe ich mit der Über­set­zung die­ses Bu­ches mei­ner Mut­ter »Auch wir wa­ren in Po­nar« ver­bracht. Die gan­ze Zeit habe ich die Ge­stalt mei­ner Mut­ter vor mir ge­se­hen. Eine zier­liche blon­de Frau mit blau­en Au­gen. Eine »ari­sche« Frau. Ihr Aus­se­hen und ihre Rus­sisch­kennt­nis­se stan­den ihr bei. Ihr Le­bens­wil­le und ihre ei­ser­ne Kraft ha­ben dazu bei­ge­tra­gen, dass wir trotz al­lem am Le­ben ge­blie­ben sind. Ich bin ihr zu Dank ver­pflich­tet. Dass ich heu­te ein Le­ben in ei­ner in­tak­ten Fa­mi­lie ge­nie­ßen kann, ist nur Dank ih­res Mu­tes und Durch­set­zungs­ver­mö­gens mög­lich ge­wor­den.

Es be­stand eine sehr enge Be­zie­hung zwi­schen uns. Ob­wohl ich nach mei­ner Hei­rat Is­ra­el ver­ließ, wur­de die­se Be­zie­hung nicht un­ter­bro­chen. Wir ha­ben uns fast täg­lich ge­schrie­ben, sind öf­ter zwi­schen Deutsch­land und Is­ra­el hin und her ge­flo­gen und ha­ben län­ge­re Zeit mit­ein­an­der ver­bracht. Ich war mehr in Is­ra­el als sie in Deutsch­land. Der Be­such hier war im­mer mit Er­in­ne­run­gen ver­bun­den, die sie mög­lichst ver­mei­den woll­te. Ihre Er­leb­nis­se im Krieg ha­ben tie­fe Spu­ren hin­ter­las­sen. Nicht nur see­li­sche, auch kör­per­li­che: Herz, Ma­gen, Rheu­ma. Dies und noch mehr plag­te sie bis an ihr Le­bens­en­de.

1985 er­hielt ich ei­nen An­ruf von mei­ner Tan­te, dass bei­de El­tern sich im Kran­ken­haus be­fän­den. Von ei­nem Tag zum an­de­ren buch­te ich ei­nen Flug nach Is­ra­el. Ich sah ein, dass die ein­zi­ge Lö­sung dar­in be­stand, sie zu mir zu neh­men und hier zu pfle­gen.

Es fiel ih­nen nicht leicht, Is­ra­el zu ver­las­sen, doch es gab kei­ne Al­ter­na­ti­ve. Ich habe mei­ne Mut­ter fast drei Jah­re ge­pflegt. Zum Schluss sieg­te die Krank­heit über sie und sie ver­starb in mei­nen Ar­men am 30. Ok­to­ber 1987. Mein Stief­va­ter leb­te da­nach noch 10 Jah­re bei uns. 1997 ist er mit 95 Jah­ren ver­stor­ben. So ging bei uns eine Epo­che zu Ende.

Ich bin froh, dass ich mit mei­ner Mut­ter we­nigs­tens die letz­ten Jah­re ver­brin­gen konn­te. Das Le­ben hier in Deutsch­land hat sie nicht mehr sehr ge­stört. Sie war glück­lich, mit ih­rer Toch­ter, ih­ren En­kel­kin­dern und ih­rem Schwie­ger­sohn zu­sam­men zu sein.

Ich bin froh, dass sie die­ses Buch ge­schrie­ben hat und dass ich es über­set­zen durf­te. So wird sie bei vie­len in Er­in­ne­rung blei­ben und viel­leicht dazu bei­tra­gen, dass sich die­se Ge­scheh­nis­se nicht wie­der­ho­len.

Tamar Dreifuß

Jetta Schapiro-Rosenzweig

Mei­ne Er­in­ne­run­gen, die ich schil­dern möch­te, um­fas­sen die Zeit von 1941 bis 1944. Ich möch­te, dass mei­ne Ge­ne­ra­ti­on und auch die Nach­fah­ren die­se Überlebens-Erinnerungen ken­nen­ler­nen. Sie dür­fen nicht in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten.

Am Ende des Zwei­ten Welt­kriegs war mei­ne Hei­mats­tadt Wil­na zer­stört. Es war nicht mehr mein Wil­na – das jü­di­sche Wil­na gab es nicht mehr; auch die Fa­mi­lie von da­mals gab es nicht mehr. Mei­ne Toch­ter Ta­mar und mich hat­te das Schick­sal üb­rig ge­las­sen. Zu­sam­men sind wir durch die Höl­le ge­gan­gen und zu­sam­men ha­ben wir über­lebt. Zwar fan­den wir mei­ne Schwes­ter Mi­zia und ih­ren Sohn Samek bei unserer Tan­te Jan­ni­na – von ihr wer­de ich viel zu er­zäh­len ha­ben – doch wir er­fuh­ren, dass Jo­nas, der Mann von Mi­zia, kurz vor der Be­frei­ung von der Ge­­sta­po hin­ge­rich­tet wor­den war. Mir wur­de zu­ge­tra­gen, dass mein Mann Ja­scha in ei­nem der deut­schen Kon­zent­ra­ti­ons­la­ger ums Le­ben ge­kom­men ist.

We­nig spä­ter gin­gen wir nach Po­len. Dort habe ich Sig­mund Ro­sen­zweig ken­nen­ge­lernt. Er ver­lor wäh­rend des Krie­ges sei­ne Frau, sei­nen Sohn und sei­ne Toch­ter. In ihm fand Ta­mar ei­nen lie­be­vol­len Va­ter. Nach kur­zer Zeit hei­ra­te­ten wir, und ge­mein­sam mit mei­ner Schwes­ter und ih­rem Sohn zo­gen wir nach Is­ra­el.

Ich will im fol­gen­den ver­su­chen, ei­ni­ges von den vie­len grau­en­vol­len Ge­scheh­nis­sen je­ner Zeit zu schil­dern. Nur ein klei­ner Teil da­von kann hier zur Spra­che kom­men, es ist nur ein win­zi­ges Stück des Gan­zen, trotz­dem maß­ge­bend für die­se Epo­che.

Der Anfang: Von Wilna nach Ponar 1941

Mei­ne Hei­mat war Wil­na, eine pol­ni­sche Stadt nahe der li­tau­i­schen Gren­ze. Wil­na ist auch be­kannt un­ter dem Na­men »Je­ru­sa­lem De­li­ta«. In un­se­rem Wil­na er­hiel­ten sich vie­le all­täg­li­che jü­di­sche Ge­bräu­che und volks­tüm­li­che Wer­te. Nicht nur die Eli­te konn­te sich mit ih­rem Na­men rüh­men, auch der ein­fa­che Mensch konn­te sich dort ent­fal­ten. Das be­son­de­re an Wil­na spie­gel­te sich in den Ge­sprä­chen zwi­schen den Holz­fäl­lern auf dem Holz­markt, auf dem Schul­hof in der Ju­den­ga­sse, in ei­ner der Syn­ago­gen, es war das saf­ti­ge Wil­na­er Jid­disch.

1941 war Li­tau­en schon von der Sow­jet­uni­on ein­ge­nom­men wor­den und Deutsch­land hatte Po­len schon ganz er­obert. In die­sem Jahr brach der Krieg zwi­schen Deutsch­land und der Sow­jet­uni­on aus.

Jetzt, da ich den Ver­such un­ter­neh­me zu schil­dern, was wir er­lebt ha­ben, so­wohl in Wil­na, un­se­rer Ge­burts­stadt, als auch in Po­nar, wäh­rend un­se­rer Wan­de­run­gen in der Frem­de, er­scheint es so­gar für mich, ob­wohl ich al­les tat­säch­lich er­lebt habe, schwer zu glau­ben, dass es in Wirk­lich­keit ge­schah.

Beim Er­zäh­len wird sich hier und da ein Bild ein­schlei­chen von den gu­ten Zei­ten in der schö­nen Land­schaft rund um Wil­na, mit ih­rem Hü­geln rings­her­um, dem Wilia-Fluss, den Brü­cken und Strän­den. Nicht zu ver­ges­sen die Wangerskastraße ne­ben dem Bäumemarkt (Holz­markt). Dort habe ich eine glück­li­che Ju­gend in ei­nem an­ge­se­he­nen jü­di­schen Haus verbracht.

Die Ei­gen­art des Hau­ses be­stimm­ten Va­ter und Mut­ter, je­der eine Per­sön­lich­keit für sich. Be­son­ders stark ist die Er­in­ne­rung an das Jahr 1940, an die Fes­te Pu­rim und Pes­sach1. Sie ver­kör­pern für uns eine Epo­che, die lei­der zu Ende ging. Das Pu­rim­fest (ähn­lich dem Kar­ne­val) war für uns et­was Be­son­de­res. Die Ge­burts­ta­ge so­wohl mei­ner Schwes­ter Mi­zia als auch mei­nes Bru­ders Je­rach­miel, der da­mals schon in Palästina lebte, der Hoch­zeits­tag der El­tern und der Ge­burts­tag mei­ner Toch­ter fie­len alle auf die­sen Zeit­punkt. Der Ur­sprung des Fes­tes – Ha­mans Nie­der­gang und die Ret­tung Mor­de­chais und des Jü­di­schen Vol­kes in Per­sien – die­ses Wun­der aus der Es­ter-Rol­le konn­te ein his­to­ri­sches Zei­chen mit hoff­nungs­vol­ler Be­deu­tung für die Zu­kunft sein.

Dies al­les ge­schah, als Wil­na von den Sow­jets an die Li­tau­er über­ge­ben wur­de. Ob­wohl die Li­tau­er den Ju­den nicht gut ge­son­nen wa­ren, konn­ten wir eine kur­ze Zeit in Ruhe un­ser Le­ben wei­ter­füh­ren.

Das Pu­rim­fest war für uns das fröh­lichs­te und in­te­res­san­tes­te von al­len Fes­ten. Auch in die­sem Jahr brachte es Aufregung und Freu­de in un­se­re Fa­mi­lie. Wir wa­ren vol­ler Zu­ver­sicht, dass al­les sich zum Gu­ten wen­den wür­de. Vie­le Gäs­te ver­sam­mel­ten sich bei uns. Ich kann mich an die Tor­te er­in­nern, die mei­ne Schwie­ger­mut­ter uns schick­te. Wie­ra, die Mut­ter mei­nes Man­nes, de­ren Name noch öf­ter im Buch ge­nannt wer­den wird, war eine Frau von Adel. Sie be­stell­te die Tor­te in ei­ner der be­kann­tes­ten Kon­di­to­rei­en Wil­nas. Ich kann mich er­in­nern, dass die Tor­te aus lau­ter Mu­scheln be­stand und jede war ge­füllt mit Eis. In der Mit­te war eine be­son­de­re Kon­struk­ti­on, die Licht ver­brei­te­te. Selbst­ver­ständ­lich ha­ben auch Ha­man­ta­schen und Kre­plach (drei­e­cki­ges Ge­bäck, mit Mohn ge­füllt und eine Fleisch­bei­la­ge in Teig) nicht ge­fehlt. Wie­ra stamm­te aus der Fa­mi­lie Riw­kind, die in Wil­na hoch an­ge­se­hen war. Lei­ser Riw­kind be­saß die be­son­de­re Er­laub­nis in den Na­rutz-Seen zu fi­schen. Ihr Bru­der, Dr. Riw­kind, war Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Et­li­che aus die­ser Fa­mi­lie wa­ren bei un­se­rem Fest an­we­send. So wie je­des Jahr, wur­de das Fest mit vol­len Obst­kör­ben be­gan­gen, die ins Haus ge­lie­fert wur­den. In An­be­tracht des­sen, dass die Haupt­be­schäf­ti­gung un­se­rer Mut­ter in der Füh­rung ei­nes Obst- und Gemüsegroßhandels be­stand, durf­te das Obst im Haus nicht feh­len.

Die ers­ten, die zum Fest ka­men, wa­ren Mi­zia, mei­ne Schwe­s­ter und ihr Mann Jo­nas. Sie reih­ten sich in die Fest­ge­sell­schaft ein und stan­den wie üb­lich in ih­rem Mit­tel­punkt. Trotz der gu­ten fi­nan­zi­el­len Lage un­se­rer Fa­mi­lie hat­te sich im Un­ter­be­wusst­sein die Sor­ge ver­brei­tet, die in ei­ner Be­mer­kung mei­ner Mut­ter zum Aus­druck kam. Dies hat­te sie in jid­disch ge­sagt: »Gott soll ge­ben, mei­ne Kin­der, dass un­se­re Lage sich nicht ver­schlech­tern soll, ›nicht schreib und nicht meck‹.«

Die Wei­ne in un­se­rem Haus brauch­te man nicht an­der­wei­tig zu be­sor­gen. Ei­nes der Hob­bys mei­nes Va­ters war die Wein­her­stel­lung. Hun­der­te von Wei­nen ver­schie­de­ner Sor­ten be­fan­den sich in un­se­rem Kel­ler. Jede Wein­fla­sche war mit ei­nem Eti­kett ver­se­hen auf dem das Her­stel­lungs­jahr und die Art der Zu­be­rei­tung ge­nau ver­zeich­net wur­den. Im Obst- und Gemüsegroßhandel hat­te mei­ne Mut­ter die Ober­hand. Sie lei­te­te die­ses Ge­schäft mit gro­ßem Elan und die An­ge­stell­ten ge­horch­ten ihr aufs Wort. Mein Va­ter war mit sei­nen Hob­bys be­schäf­tigt, denn au­ßer dem Wein hat­te er noch an­de­re.

Die Gäs­te tran­ken »Le­chaim« und die gute Lau­ne stieg im Lau­fe des Abends. An die­sem Tag war auch der Ge­burts­tag mei­nes Bru­ders Jerachmiel. Auf sein Wohl wur­de ebenfalls so man­ches Glas ge­ho­ben.

Am Pu­rim­fest pfleg­te mein Va­ter Wein­fla­schen an sei­ne eng­sten Freun­de zu ver­tei­len. Sie alle wa­ren »ko­scher le­pe­sach« (ge­eig­net zum Ver­zehr am Pes­sach­fest).

Beim Er­wäh­nen des Wor­tes Pes­sach kom­men mir Er­in­ne­run­gen an die frü­he­ren Zei­ten vor 1940, an die Pes­sach­fes­te bei uns im Hau­se. An Groß­va­ter mit sei­nem wei­ßen Kit­tel. Er lei­te­te den Se­der­abend ge­nau nach den re­li­giö­sen Vor­ga­ben, an­ge­fan­gen bei der gründ­li­chen Säu­be­rung des Hau­ses bis hin zum Her­rich­ten des Se­der­abends. Die Le­cke­rei­en zu Pes­sach wa­ren uns Kin­der am liebs­ten. Sie wur­den im­mer ver­steckt, doch wir hat­ten sie vor­her im Ge­hei­men aus­ge­kund­schaf­tet und ge­nascht. Un­se­re Mut­ter hat­te es ganz und gar nicht gut ge­fun­den und war au­ßer sich vor Wut. Ich er­in­ne­re mich an mei­nes Va­ters Wor­te: »Sich auf­zu­re­gen über solch’ Lap­pa­lie hat we­nig Sinn. Bei ›Bes­zet­ni­kes‹ (bei Kin­der­lo­sen) wäre es nicht pas­siert. Bei uns ist es eben pas­siert, also soll es ih­nen wohl be­kom­men. Al­les, was sie ge­ges­sen ha­ben, soll aus der rich­ti­gen Stel­le raus­kom­men und es soll, um Got­tes wil­len, nicht drin­nen blei­ben.«

Es sind so vie­le Er­in­ne­run­gen, die in mei­nen Kopf he­rum­schwir­ren! Die­se Volks­tüm­lich­keit und Herz­lich­keit, die in un­se­rer Fa­mi­lie herrsch­te, ist mit Wor­ten nicht aus­zu­drü­cken. In un­se­rer Fa­mi­lie gab es vie­le Per­sön­lich­kei­ten, und jede ver­kör­per­te et­was be­son­de­res. Eine da­von war mein Opa, Va­ter mei­ner Mut­ter, der mit zwan­zig Jah­ren er­blin­de­te. Er war ein Wis­sen­schaft­ler im tech­no­lo­gi­schen Be­reich. Bei ei­nem sei­ner Ex­pe­ri­men­te ver­letz­te er sei­ne Au­gen. Trotz al­ler ärzt­li­cher Be­mü­hun­gen blieb er blind. Der »blin­de Tech­ni­ker« wur­de er in Wil­na ge­nannt. Trotz des Un­glücks wur­de er durch ver­schie­de­ne Er­fin­dun­gen be­kannt. Er wur­de zu sämt­li­chen Wohl­tä­tig­keits­ver­an­stal­tun­gen ein­ge­la­den. Er konn­te eine Ma­schi­ne aus­ei­nan­der­neh­men und wie­der zu­sam­men­bau­en vor dem stau­nen­den Pub­li­kum. Er pfleg­te mit ei­ner be­son­de­ren Ma­schi­ne herr­li­che Blu­men­mus­ter zu ge­stal­ten und dies trotz sei­ner Er­blin­dung. Sein Name war Arno Na­del.

Als die Ru­ssen Wil­na be­setz­ten, be­schlag­nahm­ten sie mein Näh­ma­schi­nen- und Fahrradgeschäft und auch den Gemüsegroßhandel mei­ner Mut­ter »Ag­rim­kal – Im­port und Ex­port Groß­han­del«. Mei­ne Mut­ter glaub­te da­mals, dass dies das größ­te Un­glück sei, das uns zu­sto­ßen könn­te. Zwei Wo­chen spä­ter be­ka­men wir die An­wei­sung vom Woh­nungs­amt, wo­nach wir in­ner­halb von acht­und­vier­zig Stun­den un­se­re Woh­nung räu­men soll­ten. Die­se Woh­nung, sechs Zim­mer in der Kajaweskestraße Nr. 2a be­wohn­ten un­se­re El­tern be­reits seit ei­ni­gen Jah­ren. Das wa­ren mein Va­ter, Cha­nan Jo­chel, mei­ne Mut­ter Schif­­ra, mein Bru­der Iz­chak und wir selbst mit un­se­rer Toch­ter Ta­mar, die da­mals drei Jah­re alt war. Mei­ne Schwes­ter Mi­zia, ihr Mann Jo­nas und ihr Sohn Samek wohn­ten in der Vilnastraße, ge­gen­über dem Be­ne­dik­ti­ne­rin­nen-Klos­ter. Un­ser äl­tes­ter Bru­der Je­rach­miel leb­te da­mals wie erwähnt be­reits in Pa­läs­ti­na.

Mit der For­de­rung, die Woh­nung zu räu­men, brach un­se­re Welt zu­sam­men. Wir ver­such­ten al­les, um für die Auf­lö­sung der Woh­nung eine Wo­che Auf­schub zu be­kom­men. Die Ant­wort war: »Nicht ein­mal eine Stun­de!«

Wir hat­ten kei­ne Wahl. Wir muss­ten eine neue Blei­be su­chen. Mei­ne El­tern zo­gen zu Jo­nas’ El­tern, dort be­ka­men sie ein Zim­mer. Als wir eine Woh­nung fan­den, er­klär­te man uns im Woh­nungs­amt, dass sie be­reits ver­grif­fen sei. Die letz­te Ret­tung wa­ren zwei Zim­mer in Po­nar.

Po­nar war eine Bahn­sta­ti­on mit ein paar Häu­sern und Gär­ten, von Wäl­dern um­ge­ben. Bis zu die­sem Zeit­punkt hat­ten kei­ne Ju­den dort ge­wohnt. Mein Mann ar­bei­te­te in ei­ner Le­der­ger­be­rei als zwei­ter In­ge­nieur, ich selbst fand eine Stel­le in ei­nem Ko­o­pe­ra­tiv-La­den für Näh­ma­schi­nen. Es ging uns nicht schlecht, wir hat­ten noch Le­bens­mit­tel aus der gu­ten Zeit. Un­ser Kin­der­mäd­chen Nani war mit uns nach Po­nar ge­kom­men und ar­bei­te­te für uns wie frü­her. Aus den Wäl­dern hör­te man im­mer Ge­räu­sche. Die Nach­barn er­zähl­ten, dass die Ru­ssen dort Betonbehälter für Brenn­ma­te­ri­al bau­ten.

Die Idyl­le dau­er­te bis zum 22. Juni 1941. Die­sen Tag wer­de ich nie­mals ver­ges­sen. Ich hat­te die ge­sam­te Be­leg­schaft der Ger­be­rei zum Mit­tag­es­sen ein­ge­la­den. Sie soll­ten um 13 Uhr mit dem Zug an­kom­men. In der Woh­nung war Hek­tik, man koch­te, briet und back­te. Ja­scha, mein Mann, stell­te Ti­sche auf die Ter­ras­se, ne­ben­bei hör­te er auch Ra­dio, es war zehn Mi­nu­ten vor Zwölf. Er kam zu mir und sag­te, dass ich um Punkt 12 Uhr auf die Ter­ras­se kom­men sol­le, weil eine wich­ti­ge Mel­dung durch­ge­ge­ben wer­de soll­te. Dann war es zwölf Uhr. Wir stan­den alle auf der Ter­ras­se und hör­ten die Mel­dung:

»Ach­tung, Ach­tung, hier spricht Mo­lo­tow. Heu­te Vor­mit­tag ha­ben die Deut­schen uns an­ge­grif­fen. Der Krieg zwi­schen der Sow­jet­­uni­on und Deutsch­land ist aus­ge­bro­chen.«

Plötz­lich hör­ten wir den ers­ten Auf­prall ei­ner Bom­be, die in un­se­rer Nähe ex­plo­dier­te. Die Fens­ter­schei­ben gin­gen zu Bruch. Dann wie­der eine Ex­plo­si­on. Der Tun­nel von Po­nar wur­de bom­bar­diert. Wir wa­ren wie ver­stei­nert. Dann lie­fen wir rasch in den Kar­tof­fel­kel­ler und ver­steck­ten uns dort. Nach ei­ner Wei­le wur­de es ru­hi­ger und wir gin­gen hi­naus auf die Stra­ße. Dort be­geg­ne­ten wir Leu­ten, die of­fen­bar die Mel­dung im Ra­dio nicht ge­hört hat­ten. Sie hat­ten ge­dacht, es han­de­le sich um Militärübungen. Doch schon am nächs­ten Mor­gen sa­hen wir auf der Stra­ße hin­ter un­se­rem Haus deut­sche Sol­da­ten auf Mo­tor­rä­dern, Mi­li­tär­fahr­zeu­gen und auch Pan­zer.

Kurz vor dem Ein­marsch der Deut­schen hat­ten wir in Po­nar ei­nen An­ge­stell­ten der NKWD ken­nen­ge­lernt. Der Ab­stam­mung nach war er Jude, aber er war mit ei­ner Chris­tin ver­hei­ra­tet. Er pfleg­te die jü­di­schen Fa­mi­li­en zu be­su­chen und hat­te uns da­bei nicht aus­ge­schlos­sen. Die Wahr­heit ist, dass wir da­von nicht be­geis­tert wa­ren. Die gan­ze Zeit führ­ten die Ru­ssen Ko­lon­nen von Häft­lin­gen durch Po­nar nach Russ­land. Eine Ko­lon­ne hat­te sich bei uns auf dem Bahn­hof auf­ge­hal­ten, und wir eil­ten dort­hin, um den Ge­fan­ge­nen zu hel­fen. Sie ba­ten um Was­ser, und wir reich­ten es ih­nen. Das hat­te dem An­ge­stell­ten der NKWD nicht ge­fal­len. Er fand, wir soll­ten den »Ku­la­ken« nicht hel­fen. Die­se Leu­te wur­den zur Zwangs­ar­beit nach Russ­land trans­por­tiert, und wir wa­ren seit die­sem Zwi­schen­fall über­zeugt, dass er auch bei uns nach »Ku­la­ken« such­te, um sie zu ver­schlep­pen.

An dem Sonn­tag, als der Krieg an­fing, kam er zu uns und bot uns an, mit ihm zu flie­hen. Er sag­te, dass ihm ein Auto zur Ver­fü­gung stün­de, wir soll­ten kei­ne Zeit ver­lie­ren, schnell un­se­re Sa­chen pa­cken und mit ihm ge­hen. Wir be­dank­ten uns bei ihm, doch auf sei­nen Vor­schlag gin­gen wir nicht ein. Da­mals konn­ten wir uns nicht vor­stel­len, dass man al­les zu­rück­las­sen kann, dass wir un­se­re Fa­mi­lie, die sich in Wil­na be­fand, zu­rück­las­sen könn­ten, ohne uns von ih­nen zu ver­ab­schie­den. Mit die­sem Ge­dan­ken konn­ten wir uns nicht ab­fin­den.

In Po­nar wohn­ten noch zwei an­de­re jü­di­sche Fa­mi­li­en. Fa­mi­lie Man­del­baum – ein rei­cher Kauf­mann aus Wil­na mit Frau und Toch­ter – und ein zwei­tes Ehe­paar, etwa fünf­zig Jah­re alt, aus Li­tau­en: Fa­mi­lie Pa­nis. Sie zit­ter­ten vor Angst, denn sie wussten nicht, wo sie ihr Gold und ih­ren Schmuck ver­ste­cken soll­ten. Bald zog das Ehe­paar Pa­nis zu uns. Am drit­ten Tag des Krie­ges hör­ten wir vom Wald, der hin­ter un­se­rem Haus lag, Ma­schi­nen­ge­wehr­sal­ven. Doch wir wussten nicht, was es zu be­deu­ten hat­te. Die Nach­barn er­zähl­ten uns, dass dort Ju­den hin­ge­rich­tet würden. Aber das konn­ten wir nicht glau­ben, wir dach­ten, dass es an­ti­se­mi­ti­sche Äu­ße­run­gen sei­en.

Das täg­li­che Le­ben hat­te sich wie­der et­was nor­ma­li­siert; Brot konn­te man schon wie­der kau­fen. Ich trau­te mich auf die Stra­ße und reih­te mich in die War­te­schlan­ge ein, um ei­nen Laib Brot zu be­kom­men. Zu mei­nem Ent­set­zen sah ich gan­ze Ko­lon­nen von Men­schen, ein paar Hun­dert an der Zahl, die an uns vor­bei­ge­trie­ben wur­den. Vor­ne gin­gen die Jun­gen, die noch im­stan­de wa­ren zu ge­hen, hin­ter ih­nen Alte, Be­hin­der­te und Kran­ke. Ich ver­such­te in den Men­schen­ko­lon­nen Leu­te zu fin­den, die ich viel­leicht kann­te, doch mei­ne Au­gen wa­ren so blind von Trä­nen, dass ich nie­mand er­ken­nen konn­te. Jetzt wusste ich, dass mei­ne Nach­barn die Wahr­heit ge­spro­chen hat­ten. Ich eil­te nach Hau­se, zog die Rolllä­den he­run­ter und schrie Josch­ka, mei­nem Mann, zu: »Ver­ste­cke dich, man schießt Ju­den nie­der!«

Ge­gen­über un­se­res Hau­ses stand eine Vil­la, die von Deut­schen be­setzt war. Wir konn­ten se­hen, wie man dort Men­schen jü­di­scher Ab­stam­mung hineinführte. Je­der be­kam eine Schau­fel in die Hand, und zwei Po­li­zis­ten trie­ben sie auf den Wald zu. Eine vier­tel Stun­de spä­ter hör­te man schon Schüs­se. Die Kin­der klet­ter­ten auf die Bäu­me, da­mit sie bes­ser se­hen konn­ten. Man er­zähl­te uns, dass dort von etwa zwan­zig Men­schen Grä­ber ge­schau­felt würden. Sie schau­fel­ten ihr ei­ge­nes Grab. Wir zähl­ten die Schusssalven und wa­ren schon bei der 15. Sal­ve an­ge­kom­men. Das be­deu­te­te, dass be­reits 300 Men­schen dort nie­der­ge­schos­sen wor­den wa­ren.

Vier Näch­te wa­ren wir mit dem Ein­gra­ben und Ver­ste­cken von wert­vol­len Sa­chen be­schäf­tigt, als die Nach­richt durch­kam, dass wir Schmuck, Geld, Gold, Rund­funk­ge­rä­te, Fahr­rä­der und Pro­vi­ant bei der deut­schen Kom­man­dan­tur ab­ge­ben müssten.

Gan­ze Näch­te ha­ben wir ge­gra­ben, um un­se­re wert­vol­len Sa­chen zu ver­ste­cken, doch all­mäh­lich wur­de uns be­wusst, dass das über­haupt nicht so wich­tig war. Nun kam es nur noch dar­auf an, über­haupt am Le­ben zu blei­ben. Wir mussten er­ken­nen, dass un­schul­di­ge Men­schen ums Le­ben ge­bracht wur­den, de­ren ein­zi­ges Ver­ge­hen es war, Jude zu sein. Mit die­sem Ge­dan­ken zu le­ben war sehr schwer. Wir trös­te­ten uns da­mit, dass al­les ein bö­ser Traum sei, der bald zu Ende ge­hen wür­de.

Aber der Wahr­heit mussten wir doch ins Auge se­hen, und uns wur­de klar, dass die Gräu­el­ta­ten im Wald be­kannt wer­den mussten, da­mit die Ju­den in Wil­na er­fuh­ren, dass sie nicht zur Ar­beit geführt wur­den, son­dern in den Tod.

Uns war es zu­nächst wich­tig, für die Män­ner, Ja­scha und Herrn Pa­nis, ein Ver­steck zu schaf­fen. Wir stell­ten eine gro­ße Kis­te in den Kel­ler und deck­ten sie von al­len Sei­ten mit Kar­tof­feln zu. Für die Atem­luft gab es ei­nen gro­ßen Be­häl­ter, von dem ein Schlauch an ei­ner ver­steck­ten Stel­le herausführte. So wa­ren die bei­den ge­schützt und konn­ten at­men.

Eine gan­ze Kom­pa­nie Li­tau­er kam ins Dorf. Sie stan­den un­ter dem Be­fehl ei­nes Man­nes na­mens Ko­siok. Schon sei­nem Ge­sicht sah man den Ver­bre­cher an. Die Auf­ga­be der Li­tau­er war es, die Grä­ber im Wald mit Sand zuzuschütten und die Klei­dung der To­ten zu sam­meln und mit­zu­neh­men. Abend für Abend lu­den sie Klei­dungs­stü­cke auf ei­nen Wa­gen und fuh­ren die­se an ei­nen un­be­kann­ten Ort. Da­nach be­sof­fen sie sich jede Nacht, man hör­te ihre Stim­men über­all im Dorf. So­gar die Go­jim – die Nicht­ju­den – hat­ten Angst vor Ko­siok und sei­nen Leu­ten. Je­den Tag kam Ko­siok und frag­te nach mei­nem Mann. Ich er­zähl­te ihm, dass er in Wil­na ar­bei­tet. Er ging über­all durchs Haus, schau­te sich um und nahm sich, was ihm ge­fiel. Er er­zählte mir, dass er vor­hät­te zu hei­ra­ten, und zwar das schöns­te Mäd­chen im Dorf. Er wünsch­te, dass ich das Braut­kleid für sie her­rich­te­te und auch Schu­he und Ohr­rin­ge her­bei­schaff­te. Wenn das nicht ge­sche­he, woll­te er mei­nen Mann und Herrn Pa­nis aus­fin­dig ma­chen und mein­te, ich könn­te mir dann den­ken, was mit ih­nen pas­sie­ren wür­de. Schlecht und bit­ter war mir zu­mu­te, mein Herz häm­mer­te – was konn­te ich nur tun? Wo fand ich ein Kleid für die Braut? Mit Mühe und Not konn­te ich ein Kleid auf­trei­ben, al­ler­dings nicht in Weiß, auch Schu­he und Ohr­rin­ge fan­den sich.

Es war Schab­bes; ich saß und war­te­te wie ge­lähmt. Dann trug ich den Män­nern das Es­sen in den Kel­ler. Ich riet ih­nen, sich ein an­de­res Ver­steck zu su­chen, ich hat­te das Ge­fühl, dass Ko­siok über ihr Ver­steck Be­scheid wusste. Ich war­te­te, und es gin­gen Stun­den über Stun­den vor­rüber und Ko­siok kam nicht. Auf ein­mal kam un­se­re Ver­mie­te­rin ge­lau­fen und schrie auf pol­nisch: »Kara Bos­ka! (Got­tes Stra­fe) Die schö­ne Braut ist heu­te nacht im Bach er­trun­ken! Sie ist mit ih­ren Freun­din­nen zum Ufer ge­gan­gen und da ist es pas­siert.«

Es schien fast wie ein Wun­der, da der Bach gar nicht so tief war. Wir fan­den, dass dies ein gu­tes Omen war, und hoff­ten, dass Ko­siok uns un­ter die­sen Um­stän­den ein paar Tage in Ruhe las­sen wür­de. Wie eine Kö­ni­gin wur­de die Braut be­stat­tet.

Ich hat­te mich in­zwi­schen an das Un­glaub­li­che un­se­rer Lage ge­wöhnt und ver­such­te, mich in ihr zu­recht­zu­fin­den. Ich be­schloss, mich nach Wil­na zu wa­gen und mich nach mei­ner Fa­mi­lie dort um­zu­se­hen. Am nächs­ten Mor­gen stand ich ganz früh auf. Um mich so un­kennt­lich wie mög­lich zu ma­chen, band ich mein Haar mit ei­nem Kopf­tuch zu­sam­men und mach­te mich auf den Weg. Von Po­nar nach Wil­na sind es etwa zehn Ki­lo­me­ter. Die Stra­ßen wa­ren vol­ler deut­scher Sol­da­ten. Ein deut­scher Mo­tor­rad­fah­rer fuhr so dicht an mir vor­bei, dass er mich fast über­fuhr. Ich be­kam ei­nen furcht­ba­ren Schre­cken und mir ent­fuhr eine Ver­wün­schung: »Ein schnel­ler Tod soll ihn er­ei­len!«

In die­sem Au­gen­blick stürz­te der Mo­tor­rad­fah­rer und war auf der Stel­le tot. Ich ging schnel­ler und schau­te mich nicht um – ich hat­te Angst, dass man mich ein­ho­len und be­schul­di­gen wür­de, an sei­nem Un­fall schuld zu sein.

Der Weg war lang und an­stren­gend. Als ich mor­gens in der Stadt an­kam, ging ich so­fort zur Woh­nung mei­ner El­tern. Sie wohn­ten da­mals in der Ignatova-Straße. In der Woh­nung fand ich nur mei­ne Mut­ter und Frau Bak, die Mut­ter des Ehe­man­nes mei­ner Schwes­ter. Bei­de Frau­en sa­hen um zwan­zig Jah­re ge­al­tert aus. Mei­ne ers­te Fra­ge war: »Wo sind die Män­ner?« Sie ant­wor­te­ten, dass die Män­ner nicht weit von Po­nar ar­bei­te­ten. Da konn­te ich nicht mehr, ich fing an zu wei­nen. Und ich er­zähl­te, was in Po­nar vor sich ging. Wenn die Män­ner wirk­lich noch ein­mal von Po­nar zu­rück­kä­men, so soll­ten sie sich schnell ver­ste­cken. Als sie das ge­hört hat­ten, fin­gen sie bit­ter­lich an zu wei­nen. Da­mals wusste ich noch nicht, dass bei­de Män­ner zu die­sem Zeit­punkt schon nicht mehr am Le­ben wa­ren.

Mei­ne Mut­ter um­arm­te mich und sag­te: »Be­ru­hi­ge Dich, mein Kind, es wird al­les gut!« Sie woll­te nicht zu­las­sen, dass ich zu mei­ner Schwes­ter ging. Sie wies mich an, nach Hau­se zu ge­hen und mich um mei­nen Mann und mein Kind zu küm­mern. Und so bin ich nach Po­nar zu­rück­ge­kehrt.

Täg­lich hör­te man Schüs­se auf den Stra­ßen. Ju­den wur­den er­bar­mungs­los zu­sam­men­ge­schos­sen. Täg­lich er­gin­gen neue Be­feh­le, die Ju­den zu ver­fol­gen. Ein deut­scher Po­li­zist kam in un­se­re Woh­nung und sah zu­fäl­lig un­ser Ra­dio­ge­rät auf dem Tisch ste­hen. Wü­tend schrie er uns an. Ich nahm so­fort das Ge­rät und leg­te es in den Pup­pen­wa­gen mei­ner Toch­ter. Ich sag­te: »Das Ding ist schon lan­ge ka­putt, das Kind spielt nur da­mit.«

Je­der Tag, der vor­bei­ging, brach­te uns Angst und Schre­cken. Mein Rü­cken schmerz­te vom täg­li­chen Beu­gen über die Kar­tof­fel­kis­te und beim Neu­ord­nen der Kar­tof­feln dar­um he­rum.

Nani, un­se­re Kin­der­frau, nahm aus un­se­rem Pro­vi­ant täg­lich mit, was ihr ge­fiel, als ob es schon ihr ge­hör­te. Wie kann sich ein Mensch so än­dern? Im­mer war sie die Lie­be in Per­son gewesen – und jetzt? Ei­nes Mor­gens sag­te un­se­re Ver­mie­te­rin, dass die Deut­schen auch die An­ge­stell­ten von Ju­den ver­folg­ten, sie müsste sich auf das Schlimms­te ge­fasst ma­chen. Am glei­chen Tag noch war Nani ohne Wie­der­kehr ver­schwunden.

Die Tage wur­den im­mer schreck­li­cher. Man er­zähl­te, dass alle Ju­den ins Ghet­to ge­trie­ben wer­den soll­ten. Wir hoff­ten, dass das Schie­ßen nun ein­mal auf­hö­ren wür­de, aber es wur­de mehr und mehr. Un­se­re Rolllä­den wa­ren schon lan­ge fest ge­schlos­sen, aber die Schreie von Frau­en und Kin­dern wur­den stär­ker und stär­ker, sie dran­gen uns durch Mark und Bein. Es kam uns vor, als ob es in Wil­na gar kei­ne Ju­den mehr ge­ben könn­te. Die Leu­te er­zähl­ten, dass man Jung und Alt zum Tode führ­te, dass die Kin­der bei le­ben­di­gem Lei­be mit den Al­ten be­gra­ben würden, dass auch Nicht­ju­den und so­gar Geist­li­che bru­tal er­mor­det würden.

Es war bit­ter und fins­ter in un­se­ren Her­zen. Un­se­re Trä­nen wa­ren schon aus­ge­trock­net, wir schau­ten uns ge­gen­sei­tig an und konn­ten es nicht fas­sen. Leb­ten wir denn in ei­nem Schlacht­haus? Und trotz al­lem, was uns Tag für Tag be­geg­ne­te, ver­ließ uns die Hoff­nung nicht. Ei­nes Ta­ges – bald – wür­de das al­les vor­bei sein und wie ein bö­ser Traum en­den.