Lamaspucke

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Lamaspucke
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Lamaspucke

1  Lamaspucke

2  Widmung

3  Tag eins: Samstag

4  Tag zwei: Sonntag

5  Tag drei: Montag

6  Tag vier: Dienstag

7  Tag fünf: Mittwoch

8  Tag sechs: Donnerstag

9  Tag sieben: Freitag

10  Tag acht: Samstag

11  Tag neun: Sonntag

12  Tag zehn: Montag

13  Tag elf: Dienstag

14  Tag zwölf: Mittwoch

15  Tag dreizehn: Donnerstag

16  Tag vierzehn: Freitag

17  Tag fünfzehn: Samstag

18  Tag sechzehn: Sonntag

19  Tag Siebzehn: Montag

20  Epilog

21  Danksagung

22  Impressum

23  Die Autorin

Lamaspucke
Jessica July

Widmung

Für Oma Mioska

Jeder Mensch ist wie ein Mond: Er hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt.

(Marc Twain)

Tag eins: Samstag

Der Rauch stieg langsam von den noch glimmenden Dochten auf. 33 1/3 Kerzen zierten meinen Kuchen zum Nicht-Geburtstag. Ich liebte meine Freundinnen dafür, dass sie diese Überraschungsparty für mich organisiert hatten. Besonders die um zwei Drittel gekürzte Kerze rührte mich. Doch für sentimentale Gedanken blieb mir keine Zeit, denn meine Freundinnen umringten mich hüpfend und jubelnd.

»Dein Wunsch? Was hast du dir gewünscht?«, fragte Beth.

»Das darf ich nicht verraten«, sagte ich. »Sonst geht der Wunsch doch nicht in Erfüllung.«

»Der geht sowieso nicht in Erfüllung«, sagte Cynthia.

»Hey. Sag das nicht. Es ist schließlich mein Wunsch.«

»Aber Geburtstagswünsche gehen nur in Erfüllung, wenn man seinen Geburtstag feiert. Heute feiern wir aber deinen Nicht-Geburtstag, Alice«, sagte Cynthia und lüpfte zum Gruße ihren Hut.

»Darum habt ihr auch den Tee mit Whiskey verrückt gemacht. Ich verstehe.« Ich knickste in dem Alice-Kleid, verlor das Gleichgewicht und stützte mich beinahe auf der Torte ab.

»Alles Gute zu 33 1/3 Jahren, Kathleen«

stand in Zuckerschrift darauf. Wir nannten uns die vier Lamas, weil in jedem unserer Namen ein ›th‹ vorkam. Und weil unserer damaliger Klassenlehrer nicht in der Lage gewesen war, unsere Namen auszusprechen, ohne dabei zu spucken. Unsere Freundschaft überstand die Schulzeit mit ihrer Pubertät und der ersten Liebe hinter der Sporthalle. Oder zumindest dem, was wir damals für die erste Liebe hielten. Wir waren gemeinsam durch die Uni oder den Ausbildungsbetrieb gegangen und nun stand jede von uns mit beiden Beinen fest im Berufsleben. Doch dieses Jahr sollte der Herbstwind einige kleine, aber wohl gehütete Geheimnisse frei legen.

»Was hast du dir denn nun gewünscht?«, fragte Ruth. »Vielleicht können wir dir bei der Erfüllung helfen.«

»Ach nein, mein Wunsch ist nicht so wichtig.«

»Das klang gerade aber noch ganz anders«, widersprach Cynthia.

Mein Wunsch war albern und kindisch. Ich wollte ihn noch nicht mal mit meinen besten Freundinnen teilen.

»Nun sag schon. Es wird doch wohl kein heimlicher Verehrer sein.« Die pragmatische Ruth ahnte gar nicht, wie nahe sie der Wirklichkeit mit dieser Vermutung kam.

»Nein, sie wünscht sich bestimmt einen Welpen«, riet Beth und lag damit voll daneben.

»Zier dich nicht. Du bist ohnehin nur noch drei Tassen Tee davon entfernt, es uns zu erzählen.« Cynthia kannte mich von allen dreien immer noch am besten. Und im Grunde genommen wollte ich es ihnen ja erzählen. »Ich wünsche mir einen Stalker«, platzte ich schließlich heraus.

»Einen was?«, fragte Beth.

»Na, einen Stalker. Ihr wisst schon. Einen, der mir auf Schritt und Tritt folgt, weil er so hingerissen von mir ist.«

»Sag mal spinnst du?«, fragte Ruth.

»Wieso? Ich wollte schon immer mal meinen eigenen Stalker haben.«

»Die Typen sind total durchgeknallt und gefährlich.«

Ruth ging mir echt auf die Nerven mit ihrem ewigen Pessimismus.

»Aber das ist doch voll romantisch. Ein Typ, der nur Augen für mich hat. Der mir wie ein Schatten folgt und dadurch andere Bekloppte von mir fernhält.«

»So, das war’s«, unterbrach mich Cynthia, »du bekommst heute keinen verrückten Tee mehr.«

»Ja aber…«

»Kein aber. Du solltest jetzt langsam mal die Torte anschneiden, sonst stalke ich dich in deinen Träumen.«

Also griff ich zu dem bereitliegenden Messer und versenkte den harten Stahl in dem weichen Gemisch aus Teig und Sahne. Die Himbeerfüllung verteilte sich wie Blut auf den herumgereichten Tellern.

»Boah, ist die lecker«, sagte ich mit vollem Mund. »Wer von euch kann so super backen?«

Meine Mädels sahen sich verschwörerisch an, zogen Grimassen und kicherten.

»Nun sagt schon. Die ist doch nicht etwa gekauft, oder?«

Keine meiner Freundinnen schaute mir in die Augen.

»Na hört mal. Ich hatte nur einen einzigen Wunsch. Eine selbstgebackene Torte. Nicht mal das könnt ihr für mich tun?«

»Na hör du mal«, konterte Ruth. »Erstens sind wir alle vollbeschäftigte Power-Frauen, die gar keine Zeit für Küchendinge haben. Zweitens war das ein Geburtstagswunsch und heute ist nun mal nicht dein Geburtstag. Und drittens handelt es sich ja nicht um eine Tiefkühlpizza. Sie wurde selbst gebacken. Nur eben nicht von uns, sondern von Madame Petit Four.«

»Och, lasst euch drücken.« Das besänftige mich. Madame Petit Four war meine Lieblingskonditorin. Mein großes Vorbild beim Backen. Und sozusagen meine dritte Omi. Ihre Cupcakes waren mein Seelenpflaster für alle Lebenslagen. Und ihre heiße Schokolade hatte schon so manche Träne getrocknet.

»Na gut. Ich verzeihe euch. Was habt ihr als nächstes geplant?«

»Den Partyklassiker«, antwortete Cynthia. »Wahrheit oder Pflicht.«

»Och nö«, stöhnte ich.

»Och doch«, rief Cynthia. »Hier noch mal die Regeln für alle. Wer dran ist, überlegt sich eine Frage und eine Aufgabe, dann dreht er die Flasche und wählt somit sein Opfer.«

»Na schön. Es ist mein Nicht-Geburtstag. Also her mit der Flasche.«

»Hier. Musst sie nur noch austrinken.«

»Das ist Rum.«

»Na und?«

»Ich trinke keinen Rum.«

»Jetzt schon.«

»Blödsinn. Gib mir die Flasche. Die dreht sich auch mit Rum gut.«

»Ist ja gut. Hier hast du sie.« Cynthia rollte mir die Flasche zu.

Also drehte ich und Beth verschluckte sich an ihrem Moquito, als der Flaschenhals auf sie zeigte. Ich sah sie aus streng zusammen gekniffenen Augen an und fragte: »Wahrheit oder Pflicht?«

»Wahrheit«, quiekte sie wie ein kleines Mäuschen.

»Dann erzähl mal von deinem ersten Kuss.«

»Oh, das war ziemlich unspektakulär. Wisst ihr noch, Stefan, der nach der achten Klasse weggezogen ist?«

»Dieser Außenseiter, der immer tote Fliegen in der Jackentasche hatte?«, fragte Ruth.

»Ja, genau der. Wir hatten da doch mal einen Tag früher Schluss. Ihr seid mit eurem Bus nach Hause gefahren, aber ich musste ja immer in die andere Richtung. Genauso wie Stefan. Aber weil ich noch mal zur Toilette musste, habe ich den Bus verpasst. Stefan hatte den Bus ebenfalls verpasst, weil sein Lehrer noch mal mit ihm über die versemmelte Klassenarbeit hatte reden wollen. So standen wir beide an dieser verlassenen Haltestelle und schwiegen uns verlegen an. Als einer der Lehrer vorbei fuhr, zog Stefan mich zwischen die Altpapiertonne.«

»Ihhh«, riefen wir im Chor.

»Es waren die Altpapiertonnen, nicht der Restmüll.«

»Aber Stefan, ihh«, konterte Cynthia.

»Er hatte sehr weiche Lippen und roch lecker nach Kaugummi.«

»Unglaublich, dass du uns das nie erzählt hast«, sagte ich.

»Naja, du siehst doch, wie ihr reagiert habt.«

»Ja das war fies. Tut uns leid«, lenkte Ruht ein. »Jetzt darfst du drehen.«

Beth drehte die Flasche, die braune Flüssigkeit bildete Bläschen und blieb schließlich bei Cynthia stehen. Diese schloss ergeben die Augen und sagte: »Pflicht.«

 

»Da wir jetzt so viel übers Küssen geredet haben, küsst du eine von uns.«

»Na wenn es weiter nichts ist. Komm her, du Grund dieser Feier.« Bevor ich protestieren konnte, lagen ihre Lippen auf meinen. Sie schmeckte nach Rum und unter dem Duft ihres Haarpflegemittels nahm ich sehr intensiv den Geruch ihrer Haut wahr. Mir war ein wenig schwindelig, als sie sich von mir löste. Ich fing den Blick von Beth ein, konnte ihn aber nicht deuten. Während ich noch sprachlos war, sagte Cynthia fröhlich: »So. Nächstes Opfer.« Sie ließ die Flasche kreisen, die bei Ruth stehen blieb.

»Pflicht«, sagte sie zähneknirschend.

»Stelle dein erstes Mal pantomimisch dar.«

»Echt jetzt?«

»Echt jetzt!«

»Das ist langweilig«, sagte Ruth und legte sich mit gespreizten Beinen auf den Boden neben das Tischchen mit dem Zimmerbrunnen.

»Echt jetzt?« fragte ich.

»Echt jetzt! Oder willst du etwa behaupten, bei dir war es aufregender gewesen?«

»Nein, eigentlich nicht.« Und es stellte sich heraus, dass es bei uns allen recht ähnlich war. Da sprudelte ja der Zimmerbrunnen mehr als wir.

Ruth drehte die Flasche, die erneut auf sie zeigte. »Oh. Dann dreh ich eben noch mal.«

»Nix da«, sagte Cynthia, »du hast dir zwei Sachen überlegt. Jetzt nimmst du einfach die andere.«

»Na schön. Peinlichster Moment ever. Ich habe in meiner Buchhandlung gearbeitet. Da überkam mich so ein kleines Hüngerchen. Weil gerade keine Kunden da waren, habe ich schnell eine Butterbretzel weggeknuspert. Ich weiß ja nicht, wie ihr das macht, aber wenn ich irgendwo reinbeiße, krümelt es mir immer ins Dekollete. Da ich alleine war und nicht wollte, dass mir etwas in meine Mini-Möpse pickst, hatte ich mir von oben in den BH gegriffen um die Krümel raus zu wischen. Als plötzlich eine Männerstimme fragte: »Darf ich suchen helfen?«

Wir brüllten vor lachen, bis Beth sich genügend gesammelt hatte und fragte: »Was hast du ihm geantwortet?«

»Ich lief hoch rot an und fragte, was ich für ihn tun könne. Da sagte er, er suche das Buch ›Nicht ohne meinen Mops‹.«

Eine weitere Lachsalve hallte durch mein Wohnzimmer und ein einziger glücklicher Gedanke zog durch meinen Kopf: Ich liebte meine Mädels.

»Jetzt dreh mal gescheit«, sagte ich und prompt zeigte der Flaschenhals direkt auf mich. »Pflicht«, sagte ich.

»Trink dein aktuelles Getränk auf Ex.«

»Aber es ist ein Rotwein.«

»Trink.«

»Es ist ein sehr trockener Rotwein.«

»Trink.«

»Ich werde dabei ersticken.«

»Trink«, riefen meine Mädels im Chor.

»Ist ja gut.« Ich trank und mein Lieblingswein kam mir beinahe zur Nase wieder raus. Das war gar nicht witzig und schnell drehte ich die Flasche. Doch ich konnte nicht hinsehen, denn in meinem Kopf drehte es sich auch.

»Wahrheit«, sagte Beth.

»Was ist das Schlimmste, was du jemals im Vollrausch getan hast?«

»Ist die Frage zulässig? Schließlich ist sie der von eben sehr ähnlich.« Beth versuchte sich herauszuwinden.

»Natürlich ist sie zulässig, weil der peinlichste Moment nüchtern war. Dieser jetzt nicht«, entschied Ruth.

Beth kaute nervös auf ihrer Unterlippe und suchte einen Ausweg. Doch letzten Endes merkte sie, dass sie aus dieser Nummer nicht mehr rauskommen würde.

»Wisst ihr noch, damals? Mein Gott, wie oft werden wir diesen Satz heute noch sagen?«. Wieder nagte sie an ihrer Unterlippe. Ein Anblick, den wir alle nur zu gut kannten. Doch was wir in ihren Augen sahen, ließ uns gespannt den Atem anhalten. Beth griff nach dem Flaschenhals, der auf sie zeigte, drehte den Verschluss mit zitternden Fingern auf und trank einen großen Schluck. Dann erzählte sie: »Bei dem Sommerfest, als wir in der Zehnten waren, hatte jemand den Punsch mit Rum aufgepeppt. Ich hatte zu dem Zeitpunkt wenig Erfahrung mit Alkohol. Natürlich habe ich den Rum geschmeckt, konnte ihn aber nicht so richtig zuordnen. Und zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Erfahrung mit Jungs. Mal abgesehen von dem Kuss hinter den Altpapiertonnen. Ihr habt mit euren Erfahrungen geprahlt, aber ich hatte nichts vorzuweisen. Wir hatten doch damals diesen verdammt gut aussehenden Referendar in Biologie. Er hatte während des Sommerfestes Aufsicht. Ich fragte ihn, ob er mir Nachhilfe in Sexualkunde geben würde und fasste ihm in den Schritt.«

Beth schaute uns eine nach der anderen an, unsicher, wie wir ihr Geständnis auffassen würden. Aber wir schauten nur blöde zurück. Sprachlos darüber, was uns unsere kleine, schüchterne Beth gerade erzählt hatte.

»Wow«, Ruth fand als erste die Sprache wieder. »Wie hat er reagiert?«

Beth kicherte. »Er war genauso sprachlos wie ihr.«

Sie ließ uns keine Möglichkeit weitere Fragen zu stellen, sondern drehte geschwind die Flasche und wieder zeigte der Hals auf mich. »Wahrheit.«

»Was würdest du tun, wenn dir ein fremder Kerl in einer dunklen Gasse begegnen würde?«

Vielleicht lag es an zu viel Alkohol. Vielleicht lag es an dem Kuss von Cynthia. Oder auch einfach nur daran, dass ich schon zu lange Single war und mal wieder richtig Lust auf einen Mann hatte. Jedenfalls sah ich diese dunkle Gasse plötzlich vor mir. Ich sah einen bartstoppeligen großen Mann in schwarzer Jacke auf mich zukommen, der mich grob packte und gegen die Hauswand drückte. Widerstand war zwecklos, als er mir die Kleidung vom Leib riss, in meine Brüste biss und grob in mich eindrang. Meine Mädels sahen mich entsetzt an, nachdem ich ihnen von dieser kurzen Fantasie erzählt hatte, die die Frage in mir ausgelöst hatte.

»Was würdet ihr denn tun?«, fragte ich.

»Schreien«, sagte Ruth.

»Weglaufen«, sagte Beth.

»Schlagen, treten, kratzen«, ergänzte Ruth.

»Ihn mit Eiern bewerfen«, sagte Cynthia.

»Woher hast du die Eier?«, fragte Ruth.

»Aus seiner Hose natürlich«, antwortete Cynthia.

Sie verstanden mich einfach nicht. Mein Leben war öde und langweilig. Ich wünschte mir so sehr ein Abenteuer.

»Es ist doch nur eine Fantasie.«

»Aber eine ganz schön schräge«, sagte Ruth.

»Zumal die Frage ernst gemeint war«, sagte Beth.

»So stellst du dir also deinen Stalker vor?« schlug Cynthia in dieselbe Kerbe.

»Ach hört doch auf«, rief ich verärgert und drehte die Flasche, mit der ich Cynthia erwischte. »Wahrheit.«

»Bist du schon mal in einem fremden Bett aufgewacht?«

»Das bin ich tatsächlich. Das Bett gehörte einem Punk. Viele Tattoos, viele Piercings und ein Frettchen im Bad, das mir beim Pinkeln zugeschaut hat.«

Die Mädels kicherten und ich schmollte. »Warum ist diese Geschichte weniger bäh als meine?«

»Weil ich freiwillig Sex hatte«, brachte Cynthia es gnadenlos auf den Punkt.

»Bin ich jetzt ein Freak, nur weil ich mal wieder richtig Lust auf einen Mann habe, mir gerade aber keiner zur Verfügung steht?«

»Nein, du bist kein Freak«, beruhigte mich Ruth. »Dein Geständnis kam nur etwas überraschend.«

»Es ist einfach scheiße, so lange allein zu sein.«

»Ich wäre froh, mal etwas alleine zu sein. Mir gönnt mein Satansbraten nicht mal einen ruhigen Moment unter der Dusche.« War ja klar, dass Beth als allein erziehende Mutter so etwas sagen musste.

»Wie alt ist dein Kleiner jetzt eigentlich?«, fragte ich.

»Nächste Woche wird er zwei.«

»Ich würde meinen Mann ganz gerne mal zum Mond schießen um etwas alleine zu sein«, sagte Beth, verheiratet, kinderlos, Eigentümerin einer Buchhandlung.

»Ich kann dich gut verstehen«, sagte Cynthia, Vollzeitsingle, Beraterin in einer Werbeagentur und immer auf der Überholspur.

Und was hatte ich zu bieten? Eine Singlefrau von 33 1/3 Jahren mit einem langweiligen Bürojob in einer Anwaltskanzlei. Tagein, tagaus saß ich am PC und bestellte Büromaterial, prüfte Rechnungen und forderte Angebote ein. Die einzige Abwechslung bot die Kantine. Und dabei ging es auch nur um die Frage, ob ich heute mehr Lust auf Schokopudding oder Fruchtjoghurt hatte. Ansonsten war mein Leben ein Einheitsbrei. Alles, was ich hatte, waren meine Mädels, aber ausgerechnet die schienen mich heute nicht verstehen zu wollen. Ich versuchte die Situation zu retten, indem ich anfing albern zu kichern und rief: »Reingelegt. War alles nur ein Scherz, der etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Ich hole mir morgen eine Katze aus dem Tierheim.«

»Aber du hast doch schon eine. Eine dreifarbige. Die sollen Glück bringen.« Beth schluckte den Köder sofort.

»Na wenn das so ist, lässt du mich bestimmt mal einen Blick in dein Tagebuch werfen.« Bei Ruth war es nicht ganz so einfach.

»Welches Tagebuch?«, bluffte ich.

»Das unter deinem Kopfkissen«, sagte Cynthia.

»Ihr habt unter mein Kopfkissen geschaut?«

»Liegt da etwa tatsächlich ein Tagebuch?« Cynthia sprang auf und lief in mein Schlafzimmer.

»Nein, natürlich nicht. Das habe ich im Spülkasten versteckt.«

Cynthia lief ins Bad und rief laut: »Oh Romeo, oh Romeo. Was machst du auf dem Damenklo?«

Sofort waren wir wieder ein Haufen alberner Hühner der laut gackerte. Die trübe Stimmung schien wie weggeblasen. Zumindest bei den anderen. Ich sah immer wieder zu den nachtdunklen Fenstern und bei dem Gedanken, dort draußen könnte jemand stehen und mich beobachten, nur mich, lief mir ein wohliger Schauer über den Rücken.

Tag zwei: Sonntag

Der nächste Tag begann drinnen wie draußen trüb. Vor dem Fenster ballte sich der Herbstnebel zusammen und in meinem Kopf tobten Gewitterwolken. Ich fühlte mich, als wäre ich unter die Räder eines LKWs geraten und seine grellen Scheinwerfer schnitten schmerzhaft durch meine geschlossenen Lider, als das Display meines Handys aufleuchtete. Ein Anruf von Ruth.

»Guten Morgen«, schmetterte sie fröhlich in mein Ohr.

»Geh weg«, brummte ich.

»Du klingst, als bräuchtest du dringend ein Katerfrühstück.«

»Geh weg.«

»Wir treffen uns in einer Stunde im Chevy’s.«

»Geh weg«, sagte ich. Doch da hatte sie bereits aufgelegt. Stöhnend warf ich das Handy ans Fußende meines Bettes und zog mir die Decke über den Kopf. Doch trotz Brummschädel kam ich nicht mehr zur Ruhe und strampelte die Decke wieder weg. Der Gedanke an einen würzigen Cheeseburger mit salzigen Pommes war einfach zu verlockend. Aber einen Schritt nach dem anderen. Der erste Weg führte mich zum Kaffeeautomat in der Küche. Dort füllte ich auch gleich den Futter- und den Wassernapf von Cassoipeia. Von hier war es nicht mehr weit zum Balkon. Die Kombination aus heißem Koffein und kühler Herbstluft klärte meinen Kopf so weit, dass ich ins Bad fand.

Ich war tatsächlich die Erste im Chevy’s und gönnte mir dort einen zweiten Kaffee, bis die Mädels eintrafen.

»Guten Morgen«, sagte Beth. In ihren Haaren klebte Bananenbrei. Anscheinend hatte ihr Kleiner mal wieder das Frühstück verweigert. Ruth wünschte uns mit klarer, fester Stimme einen guten Morgen. Sie sah frisch und ausgeruht aus, als käme sie gerade erst von einer Woche Inselurlaub zurück. Cynthia dagegen sah aus wie ein Waschbär auf dessen Kopf die ganze Nacht seine pubertären Waschbärkinder herumgetanzt waren und setzte sich wortlos zu uns. Die Lautsprecher berieselten uns mit einem seichten Pop-Geblubber, dem wir schweigend lauschten, bis jede von uns einmal in ihren Burger gebissen hatte.

»War ein toller Abend«, eröffnete Ruth die Gesprächsrunde.

»Ja, das war es«, sagte Beth.

»Hm«, brummte Cynthia.

Ich sah Ruth schweigend an. Früher oder später würde sie schon freiwillig damit rausrücken, warum sie uns alle aus dem Bett geklingelt hatte. Sonntags morgens war das Chevy’s noch nicht so gut besucht. Es gab nur wenige Verrückte in dieser Stadt, die einen Burger zum Frühstück zu schätzen wussten. Nach den ersten fünf Pommes ging Ruth zum Angriff über: »Kathleen, was du da gestern über den Stalker gesagt hast…«

»Das war nur ein Scherz.«

»Bist du sicher?«

»Ja natürlich. Zu viel Alkohol. Zu viele verrückte Hühner um mich herum. Ich habe einfach nur rumgealbert.«

»Kathleen, ich mache mir Sorgen um dich.«

Dieses Geständnis von Ruth verblüffte mich.

»Warum das denn?«

»Weil du dich immer mehr zurück ziehst. Man bekommt dich kaum noch zu Gesicht. Verabredungen sagst du kurzfristig ab. Und zum Mittwochssport kommst du auch kaum noch mit.«

 

»Naja. Sport kannst du das ja nicht wirklich nennen, wenn wir uns wie läufige Hündinnen auf dem Boden rumrollen.«

»Hey.« Damit hatte ich Beth beleidigt. »Das ist ein sehr wirkungsvolles Workout für Bauch, Beine und Po.«

»Ja, mag sein, dass es für dich wirkungsvoll ist. Aber mir bringt es nichts. Noch nicht einmal Spaß. Damals, als du diesen SV-Kurs vorgeschlagen hattest, da hatte ich Spaß.«

»Ja, aber auch nur, weil du in den Trainer verknallt warst«, brummte Cynthia.

»Stimmt doch gar nicht.«

»Stimmt jawohl«, konterte Beth. »Du warst doch immer selig, wenn du mit ihm trainieren durftest.«

»Ich habe nur mit ihm trainieren müssen, weil Ruth ein paar Mal ausgefallen ist und ihr beide wie ein frisch verliebtes Paar aneinander geklebt hattet.«

Beth schmollte, doch Ruth blieb ernst. »Kathleen, dieses Gerede über einen Stalker… hast du einen?«

»Was? Nein, Wie kommst du darauf?«

»Weil du die klassischen Symptome zeigst.«

»Symptome? Ich bin doch nicht krank!«

»Du ziehst dich zurück. Bist schreckhaft, reizbar.«

»Warum kennst du dich damit eigentlich so gut aus?«

»Weil ich mal einen hatte.«

Verblüfftes Schweigen breitete sich über unseren Tisch. Sogar Cynthia, die die ganze Zeit zu dösen schien, war jetzt hellwach. Jede von uns versuchte, diese Nachricht zu verdauen. Ruth kämpfte mit sich, um nicht aus der Rolle der kühlen Geschäftsfrau heraus zu fallen und gewann. Mit ruhiger Stimme erzählte sie: »Wisst ihr, dass ich keine Kinder habe, ist nicht gewollt. Damals sind wir doch immer in diese schäbige Disco zur Schaumparty gegangen. Manchmal war ich alleine dort. Immer dann, wenn DJ Zecke aufgelegt hat.«

»Dieser Milchbubi?«, fragte Beth.

»So bubihaft war er gar nicht. Er hat mich mit Blicken verfolgt, wenn ich mich auf der Tanzfläche für ihn zum Affen gemacht habe. Ich liebte es, dabei zuzusehen, wie er die Platten auflegte. Wie er sie zwischen seinen Fingern drehte. Zwischen diesen Fingern, die ich so gerne auf meiner Haut gespürt hätte.«

Sie schwieg einen Augenblick und ich spürte erst jetzt, dass ich die Luft angehalten hatte.

»Eines Nachts kam es tatsächlich dazu, dass ich seine Finger auf meiner nackten Haut spürte. Und nicht nur seine Finger. Ich war jung und dumm und ließ mich von ihm schwängern.«

»Aber warum haben wir davon nie etwas mitbekommen?«, fragte ich erschüttert.

»Es war das Abschlussjahr. Ihr hattet andere Sorgen. Ich erzählte es meinem DJ, dachte, wir hätten eine gemeinsame Zukunft. Er war sehr fürsorglich und liebevoll. Ich war total überrascht, als er mir seine Rechercheergebnisse vorlegte: Wer die beste Hebamme in der Stadt ist und welcher der beste Kinderarzt. Sogar für einen Kindergarten hatte er sich schon entschieden und die Namen standen auch schon fest. Luke für einen Jungen und Leya für ein Mädchen. Ich glaube, das war der Punkt, an dem ich merkte, dass die ganze Sache aus dem Ruder läuft.«

»Also war es gar kein hinterhältiger und höchst seltener Magen-Darm-Virus, der dich so oft von der Schule und von uns ferngehalten hat?«, fragte Beth.

»So sieht es aus. Dieser total abgedrehte Freak, der Star Wars für Realität hielt, wollte plötzlich mit mir sein eigenes Imperium gründen. Er bedrängte mich immer mehr und wollte die absolute Kontrolle über mich und sein Kind. Niemand durfte mich anfassen. Selbst eine Umarmung von einer von euch ging ihm zu weit. Er lauerte mir auf und fragte mich aus, wenn er mich mal nicht beobachten konnte. Mir ging es immer schlechter. Ich hatte ständig Angst, konnte nicht mehr essen und nicht mehr schlafen. Meine Eltern dachten, es läge an den Prüfungen. Ehrlich gesagt, ist es mir völlig schleierhaft, wie ich die bestehen konnte.«

»Nach den Prüfungen hast du ziemlich viel Sekt mit uns getrunken«, erinnerte sich Cynthia.

Ruth sah auf ihren Teller hinunter ohne wirklich etwas zu sehen.

»Ich war so froh, wenigstens ein Kapitel abgeschlossen zu haben. Ich wollte das Kind in meinem Bauch, den Vater dazu, meine Eltern, denen ich ständig Lügen erzählen musste, vergessen. Einfach nur vergessen und entspannen. Einen kurzen Moment entspannen. Drei Tage später hatte ich eine Fehlgeburt. Und plötzlich war ich komplett leer. Mein Bauch war leer. Mein Herz war leer. DJ Zecke nannte mich eine Mörderin und sagte, ich sei für ihn gestorben. Ich brach zusammen und erzählte meinen Eltern alles. Sie schickten mich zu meiner Tante aufs Land. Sie hat dort einen Bauernhof, dort müssen die schwer erziehbaren Jugendlichen aus der Umgebung mit anpacken, um das Arbeiten zu lernen. Tante Gretchen und die Nähe der Tiere halfen mir aus diesem Trauma.«

»Dann warst du also nie in Schweden und hast auch deswegen keine Karte geschickt«, stellte Beth fest.

»Es tut mir so unendlich leid, dass ich euch diese Lügen aufgetischt habe.«

»Warum erzählst du uns jetzt, nach so vielen Jahren, davon?«, fragte ich.

»Ich dachte, ich hätte die Sache überwunden. Ich dachte, ich hätte mein Leben wieder fest im Griff. Aber dein Wunsch gestern hat alles wieder hoch geholt. Die Angst, die Panik, das ständige Gefühl, beobachtet zu werden. Als ich gestern Nacht nach Hause ging, zuckte ich bei jedem kleinen Geräusch zusammen. Ich schrie sogar, als mir eine Katze vor die Füße sprang und war in Schweiß gebadet, als ich zu Hause ankam. Thomas schlief zum Glück schon, ich hätte nicht die Kraft gehabt, es ihm zu erklären. Also duschte ich, ging ins Bett und dort lag ich die ganze Nacht wach.«

»Dafür siehst du aber verdammt gut aus«, sagte Cynthia, die immer noch ganz kleine Augen hatte.

Ein tiefes Schweigen legte sich über unseren Tisch. Es war diese Art von Schweigen, bei der alle Beteiligten wussten, dass alles gesagt war. Nach mehreren Minuten kam Hans, der Inhaber von Chevy’s an unseren Tisch und fragte: »Was ist los, Mädels? Schmeckt es euch nicht? Soll ich den Koch für euch verprügeln?«

Wir lachten, dankbar für diese kleine Ablenkung, die uns aus unseren trüben Gedanken riss. »Aber du bist doch der Koch«, sagte ich.

»Dann wird das jetzt wohl eine Slapstick Nummer«, sagte Hans und wackelte mit den Augenbrauen.

»Nein, ist alles gut. Lass den Koch am Leben. Heute ist der Kater einfach nur so groß, dass ihn nicht mal deine Burger umhauen können«, sagte Cynthia.

»Na wenn das so ist, habe ich etwas für euch. Lauft nicht weg.« Er verschwand in der Küche und kam nach wenigen Minuten mit einem Tablett mit vier Espressotassen zurück.

»Der geht aufs Haus«, sagte er und stellte vor jede von uns ein Tässchen. Dann erzählte er von seinen Zukunftsplänen, dass er demnächst sein Angebot auf Frühstück ausweiten wolle und sich deswegen diesen neuen Kaffeeautomat zugelegt hatte.

»Aber du hast doch Frühstück im Angebot«, sagte Beth.

»Genau, das ist doch richtiges Frühstück«, feixte ich.

Hans seufzte und räumte die leeren Tassen ab.

»Danke«, riefen wir ihm im Chor hinterher.

»War sehr lecker.«

»Haut voll rein.«

»Der totale Wachmacher.«

Und so war es tatsächlich. Der Espresso hatte uns so munter gemacht, dass wir den Kampf gegen den Kater wieder aufnahmen und unsere kalten Burger aufaßen.

Ruth legte ihre Hand auf meine. »Ich will dich nicht belehren. Ich möchte nur, dass du auf dich aufpasst.«

»Aber das mach ich doch.«

Sie drückte meine Hand noch mal fest, dann sagte sie: »So Mädels. Ich muss jetzt los. Im Buchladen warten noch Bestellungen auf mich, die ich rausschicken muss.«

»Aber heute ist Sonntag«, protestierte Cynthia.

»Aber wenn ich es heute nicht mache, komme ich nie dazu und meine Regale laufen leer.«

»Ist doch super. Dann machst du den Laden zu und gehst mit uns shoppen.«

»Am Sonntag?«

»Ach verdammt, irgendwas ist doch immer.«

»Können wir dir irgendwie helfen?«, fragte Beth.

»Nicht wirklich. Ich muss die ganzen Verlagsvorschauen durchgehen und entscheiden, was ich in welcher Menge bestellen möchte.«

»Klingt spannend. Nimm uns mit«, sagte ich.

»Es ist aber nicht spannend«, antwortete Ruth.

»Du machst was mit Büchern. Wie kann das nicht spannend sein?«, fragte ich.

»Na schön. Kommt mit«, sagte Ruth.

Wir beglichen bei Hans unsere Zeche, lobten seine Frühstücksidee und gingen durch den spätsommerlichen Nebel zu Ruths Buchhandlung. »Buchstabensalat« stand in großen braunroten Lettern über der Tür, die Ruth für uns öffnete. Sofort umfing uns der typische Geruch nach Papier und Leim. Nach Abenteuer und Entspannung. Ich liebte diesen Geruch und atmete tief ein. Beth blieb mit einem Blick auf die Uhr in der Tür stehen.

»Sorry Mädels. Ich muss zurück und Benny von der Nachbarin abholen.«

Wir verabschiedeten uns mit Umarmungen von Beth, dann ließ ich mich in einen der Lesesessel fallen und griff nach der gestrigen Tageszeitung, die noch auf dem Tisch lag. Ruth saß am PC und blätterte die Vorschauen durch, während Cynthia sich in der Kinderecke austobte.

»Kannst du mal bitte damit aufhören?«, fragte ich, doch Cynthia klapperte fröhlich mit der Motorikschleife weiter.

»Das beruhigt meine Nerven«, sagte sie.

»Meine aber nicht. Ruth, sag doch auch mal was.«

»Warte erstmal ab, bis sie den Tiptoi-Stift entdeckt hat.«

Cynthia sprang quietschend auf, während ich stöhnend tiefer in meinem Sessel versank. Schon tönte die elektronischen Stimme durch den Raum: »Tippe mit dem Stift auf Bilder und Texte im Buch!«

Wir alle kannten diese Stimme, weil Cynthia Beths Sohn zum Geburtstag ein Spiel von Tiptoi geschenkt hatte. Und wir alle hassten diese Stimme, denn wenn man den Stift nicht benutzte, leierte er unermüdlich seinen Text runter: »Tippe mit dem Stift auf Bilder und Texte im Buch!«

»Nun tipp doch endlich«, stöhnte ich und verkroch mich hinter der Zeitung. Das isolierte zwar nicht den Schall, lenkte mich aber ab. Da sprang mich eine Kontaktanzeige an: