Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte

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Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte
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Edgar –

Mein Leben zwischen

Nobelpreis und Arschkarte

Jens Reinländer

EDGAR —
MEIN LEBEN ZWISCHEN
NOBELPREIS UND ARSCHKARTE

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

www.jens-reinlaender.de

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

Illustrationen © Sven Häberlein

www.engelsdorfer-verlag.de

Heute ist der vierte Advent und ich liege gefesselt und geknebelt in meinem Bett.


Normalerweise liege ich an so einem Tag nicht gefesselt und geknebelt im Bett. Normalerweise! Aber was ist bei mir in letzter Zeit schon normal verlaufen? Seit sich dieses nervige Quasselmonster in meinem Ohr eingenistet hat, stolpere ich von einem Fettnäpfchen ins nächste. Keine Ahnung, wie ich das bisher alles überleben konnte. Aber ich bin noch da! Obwohl mir das eigentlich fast unmöglich erscheint, wenn ich alle Katastrophen zusammenzähle, die mich bis jetzt heimgesucht haben.

Bestimmt bin ich bloß noch nicht aus den Latschen gekippt, weil ich als Genie auf die Welt gekommen bin.


Ich bekomme ja demnächst alle möglichen Nobelpreise überreicht. Aber im Augenblick bin ich noch auf dem steinigen Weg zum Ruhm unterwegs und werde deshalb als Genie leider noch nicht so richtig wahrgenommen. Manche halten mich sogar für irre. Selbst mein bester Kumpel, der Gescheitelte Bernd. Aber Bernd hat mich beruhigt. Ich soll mir deswegen keine grauen Haare wachsen lassen, hat er gesagt. Das ist normal. Jedes Genie ist auch gleichzeitig immer ein bisschen bekloppt.

Und Bernd muss es wissen. Sein Onkel arbeitet in einer Klapsmühle. Darum weiß Bernd auch ziemlich genau über Klapsmühlen und bekloppte Genies Bescheid. In Klapsmühlen wimmelt es nämlich nur so von denen. Alles durchgeknallte Typen, die dir auf Anhieb sagen können, wie viel 237 x 894 ist. Bloß, dass sie dabei auf dem Kopf stehen und sich mit allen zehn Fingern gleichzeitig in der Nase popeln.

„Das Problem ist, Genie und Wahnsinn sind leider Geschwister“, hat Bernd mir erklärt und dazu ein Gesicht gemacht, als ob er mir damit ein großes Geheimnis offenbaren würde. Dabei wusste ich das längst. Bei mir zu Hause existiert dieses Geschwisterproblem schon so lange ich auf der Welt bin. Ich bin das Genie und mein kleiner Bruder Malte und meine große Schwester Stella sind die Wahnsinnigen. Aber ich schweife ab. Dazu später mehr. Jetzt wieder zurück zu den wichtigen Dingen. Zu mir!

Wie ich ja bereits erwähnte, werde ich demnächst alle möglichen Nobelpreise bekommen. Manchmal träume ich davon. Es ist immer derselbe Traum. Plötzlich hupt ein gelbes Postkranauto vor der Wohnungstür und der Briefträger ruft aus dem Fahrerhaus: „Guten Tag! Ich habe hier wieder einen Nobelpreis für Sie. Wo soll ich ihn denn diesmal abstellen?“

Daraufhin verdrehe ich die Augen und seufze: „Oh Mann, schon wieder ein Nobelpreis. Hört denn das nie auf? Stellen Sie ihn einfach zu den anderen.“ Und schon brummt und rattert der Kran los und ein gigantischer Pokal schwebt an einem Stahlseil baumelnd über das Haus in den Garten.


Dass der Pokal so riesig ist, habe ich der Auszeichnung zu verdanken. Weil die ja auch riesig ist. Ein Nobelpreis ist sozusagen der Dinosaurier unter den Preisen. Und ich habe schon neunundneunzig Stück davon. Jedenfalls in meinem Traum. Der ganze Garten ist mit Nobelpreisen vollgestellt. Ganz hinten links steht der Nobelpreis für die Erfindung des Ja-Pulvers. Ein sehr hilfreiches Mittel gegen widerspenstige Eltern. Darum ist es auch nur an Kinder verkäuflich. Es ist sehr sparsam im Gebrauch. Für einen mittleren Erwachsenen braucht man nicht mehr als eine Messerspitze davon. Man lässt die benötigte Menge Pulver auf die Handfläche rieseln und pustet sie dann dem störrischen Erwachsenen ins Gesicht. Und schon hat sich das Problem, das eben noch da war, in Luft aufgelöst.

„Darf ich heute Abend den Gruselfilm sehen?“ – „Ja.“

„Fahren wir morgen in den Zoo?“ – „Ja.“

„Kaufst du mir eine PlayStation?“ – „Ja.“

Natürlich gibt es in meinem Traum auch ein Nein-Pulver. Auch dafür habe ich einen Nobelpreis bekommen. Und klar, auch das Pulver darf nicht in falsche Hände geraten. Was heißt: Es darf nicht an Erwachsene verkauft werden! Damit es nicht zu Missbrauch kommt. Es soll ja Kindern helfen, ihren schwierigen Eltern Vernunft beizubringen.

„Muss ich mein Zimmer aufräumen?“ – „Nein.“

„Soll ich jetzt wirklich aufstehen?“ – „Nein.“

„Muss ich echt für Mathe üben?“ – „Nein.“

Welches der beiden Pulver man nimmt, ist egal. Sie helfen beide großartig, das Leben als Kind zu meistern. Man muss bloß höllisch aufpassen, dass man nicht aus Versehen das falsche Pulver erwischt. Die Pulver sehen sich nämlich zum Verwechseln ähnlich. Für den Fall habe ich gleich noch ein drittes Pulver erfunden. Das Lass-uns-später-noch-mal-drüberreden-Pulver. Mit dem Pulver verschafft man sich die nötige Zeit, das richtige Pulver herbeizuschaffen und den Fehler wieder auszubügeln. Natürlich habe ich auch dafür einen Pokal im Garten stehen. Der steht zwischen dem Nobelpreis für die Erfindung der Ganzjahresferien und dem Nobelpreis für die erste Achterbahn zum Mond. Dann gibt es noch Nobelpreise für die Entdeckung des Luft-in-Pizza-Umwandlers und der Zahnpflege-Limonade. Und für die Erfindung von „Haarstopp“. Zwei Tropfen davon auf die Kopfhaut geträufelt und man hat eine Sorge weniger. Die Haare hören auf der Stelle zu wachsen auf und man muss nie wieder zum Friseur.

Nobelpreis um Nobelpreis reiht sich in meinem Garten aneinander wie auf einer Perlenschnur. Und nun also noch einer. Der Einhundertste. Ein Jubiläums-Nobelpreis. Ein Nobelpreis für das massenhafte Erhalten von Nobelpreisen. Einhundert Pokale stehen jetzt in meinem Traumgarten herum, versperren mir die Sicht und drücken den Rasen platt. Und jeder ist mindestens so groß wie eine ausgewachsene Kuh.

„Bloß gut, dass sie nicht auch noch Kuhfladen auswerfen. Als Nobelpreisträger hat man es echt nicht leicht“, stöhne ich jedes Mal und wache dann prompt an der Stelle immer auf.

Darum weiß ich auch nicht, wie der Traum weitergeht. Aber eins weiß ich ganz sicher: dass mir mein erster Nobelpreis schon im Nacken sitzt. Und ich weiß auch schon, wofür ich den bekommen werde. Für meine peinlich-blöden Sprüche. Die habe ich dem Quasselmonster zu verdanken, das sich in meinem linken Ohr eingenistet hat. Seit es dort haust, bin ich echt reif für den Literaturnobelpreis.

Angefangen hat alles beim Frühstück.

Ich weiß nicht mehr genau, an welchem Tag es war. Aber ich weiß noch genau, dass es draußen vorm Fenster wie aus Kübeln gegossen hat. Ich sitze also in die Küche und mampfe mein Müsli. Nebenbei grüble ich wieder mal darüber nach, wofür ich wohl meinen ersten Nobelpreis bekommen werde, denn das ist mir zu diesem Zeitpunkt noch ein großes Rätsel. Da entdecke ich plötzlich in der Zeitung, die Papa auf dem Tisch liegen gelassen hat, ein Bild von Bruno Barrikade. Und über dem Bild steht in fetten Buchstaben: Heute große Sonderbeilage mit Fanposter!

Hammer! Ein Fanposter von Bruno Barrikade!, schießt es mir durch den Kopf und ich weiß auch sofort, wo ich das Poster aufhängen werde. Natürlich muss der beste Torhüter auf der Welt den besten Platz an meiner Posterwand bekommen. Denn beinahe wäre ich ja selbst in seine Stelle getreten. Aber weil ich als zukünftiger Nobelpreisträger dauernd so viel um die Ohren habe, musste ich die Karriere als weltbester Torhüter frühzeitig wieder an den Nagel hängen und Bruno den Vortritt lassen.

„Bruno Barrikade im Großformat an meiner Posterwand, das ist Klasse“, juble ich. Bis ich die Zeitung auseinander gefaltet habe und die Bescherung entdecke. Das Poster ist tropfnass und total zusammengepappt. Unsere Briefkastenabdeckung ist nämlich nicht ganz dicht und sobald es mal etwas kräftiger regnet, wird gleich der ganze Briefkasten geflutet. So wie an diesem Morgen. Schönen Dank, Regen! Jetzt hilft bloß noch wedeln. Wenn es fürs Postertrockenwedeln einen Nobelpreis gäbe, auch der wäre mir spätestens jetzt sicher gewesen. Ich wedele, bis dicke Schweißperlen auf meiner Stirn wachsen und ich so schlapp bin, dass es mir vor den Augen flimmert und eine Stimme in meinem Kopf irre kreischt: „Yippie, gib alles!“ Doch obwohl ich mich voll reinhänge und alles gebe, kommt mein Rettungsversuch leider zu spät. Die Druckerschwärze der Buchstaben ist bereits verschmiert und hat sich mit dem Bruno-Barrikade-Poster vermischt. Bruno Barrikade hat mit einemmal ein großes O unter der Nase hängen und auf seinem Kopf balanciert ein Fragezeichen. Auf seinem Torwartdress steht in schwarzen verwaschenen Buchstaben: Fliegenfänger. Und im Tornetz hinter ihm hat sich gleich ein ganzer Schwarm Wörter verfangen. In dem Zustand kann ich das Poster vergessen. Bruno Barrikade mit einem Nasenring und der Aufschrift: Fliegenfänger. Was für eine Schande!

 

Rudi würde jetzt vor Lachen glatt Schnappatmung kriegen.

Rudi ist mein zweiter bester Kumpel. Und eigentlich ist er der Letzte, der über einen Torwart lachen darf. Selbst wenn der die Aufschrift „Fliegenfänger“ trägt. Rudi ist nämlich als Torwart unterirdisch schlecht. Das liegt an seiner niedrigen Bauhöhe. Rudi ist vom Wuchs her etwas tiefergelegt. Deshalb fängt er auch keine hohen Bälle und ist im Tor allerhöchsten als dritter Pfosten zu gebrauchen. Im Turnen ist Rudi dagegen ein Ass. Er kann in einer Geschwindigkeit Purzelbäume schlagen, dass einem beim Zugucken schwindlig wird. Aber im Tor, da ist er eine Flasche. Da braucht er Stelzen, um an die hohen Bälle zu kommen.

Bei den meisten von uns ist es genau umgekehrt. Wir fischen fast jeden Ball von der Linie. Doch wenn wir Purzelbäume schlagen sollen, sehen wir immer aus wie umhereiernde Pflaumen.

Am meisten eiert dabei die Heidelbeere. Mit bürgerlichem Namen heißt sie Heidrun-Beatrice. Sie ist unsere Klassensprecherin und der geborene „Bewegungsidiot“. Mit Sport hat sie gar nichts am Hut. Das ist aber auch gleich ihr einziger Mangel. Sonst ist sie eine Schülerin, von deren Fleiß wir uns alle eine Scheibe abschneiden können. Meinen jedenfalls unsere Lehrer. Wir Schüler dagegen meinen, dass die Heidelbeere mit ihrer Arbeitswut mächtig übertreibt und dass selbst ein Streber gegen sie noch ein Faultier ist. Beweise dafür liefert uns die Heidelbeere regelmäßig. Auch an dem Morgen, an dem ich Bruno Barrikade vergeblich zu retten versuche.

Kaum bimmelt es wenig später in der Schule zur ersten Unterrichtsstunde, kommt Direktor Kittel ins Klassenzimmer gefegt und überbringt uns die Nachricht, dass unsere Musiklehrerin Frau Schrei erkrankt ist. Weil unser Direktor das bedauerlich findet, hat er eine sorgenvolle Miene aufgesetzt. Wir bekommen sofort sorgenfreie Mienen, denn wir finden die Nachricht toll. Weil Frau Schrei ja zu Hause im Bett liegt und uns deshalb schon mal nicht anstecken kann. Und es kommt noch besser. Da Direktor Kittel so schnell keinen Ersatz bekommen konnte, bekommen wir jetzt eine Freistunde. Wir sollen im Zimmer bleiben und uns leise verhalten und nicht den Unterricht der anderen stören.

Die ganze Klasse sitzt da, als hätte Direktor Kittel gerade von einer „Freustunde“ gesprochen. Bloß die Heidelbeere macht ein Gesicht, als hätte sie soeben eine Zwei plus verpasst bekommen und müsste zur Strafe dafür nun vier Wochen in den Stubenarrest.

Die meisten von uns wären ja schon mit einer Zwei minus zufrieden. Aber wenn man wie die Heidelbeere als Eltern zwei Ärzte hat, kommt eine Zwei plus einer Katastrophe gleich. Da muss mindestens eine Eins mit Sternchen her. Bei Ärzten ist das wohl so üblich. Dagegen bin ich echt ein Glückspilz. Mama arbeitet nämlich in einem Bäckerladen und Papa ist Bademeister in unserer Schwimmhalle. Da ist auch mal eine Drei erlaubt, wenn es nicht zum Dauerzustand wird. Ich habe mal heimlich beobachtet, wie die Mütter von Meerschweinchen-Klara und Pfannkuchen-Rosi die Köpfe zusammengesteckt und getuschelt haben: „Diese Heidrun-Beatrice ist wirklich sehr strebsam. Kein Wunder, dass das Kind so ist. Die Eltern färben ab!“ Ich habe lange darüber nachgedacht, ob Eltern abfärben können. Leider bin ich bis heute zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Einerseits, wenn das stimmt, dann müsste der Vater von Rudi ein Zwerg sein. Ist er aber nicht. Andererseits trägt Bernd haargenau denselben Scheitel wie sein Vater. Das Ganze ist eine wirklich komplizierte Angelegenheit, die mich wohl noch länger beschäftigen wird.

Aber jetzt zurück zur Heidelbeere. Die meldet sich plötzlich und sagt doch tatsächlich mitten in die Freude der Klasse hinein: „Können Sie uns für den verlorenen Unterrichtsstoff nicht ein paar sinnvolle Übungen geben, Herr Direktor?“ Direktor Kittel ist so überrascht, dass er erst mal schlucken muss. Und die ganze Klasse schluckt mit.

„Hat die eine Meise? Was gibt es denn Sinnvolleres, als eine Freistunde ohne Übungen?“, stöhnt Hannibal hinter mir und verdreht die Augen. Also, nicht der Hannibal von ganz früher. Der Hannibal hinter mir ist bloß sein Namensvetter. Die Eltern von Hannibal haben mal einen Film gesehen, wie der Hannibal von ganz früher die Römer verkloppt hat. Mit Pauken und Trompeten hat er sie in die Flucht geschlagen. Und Elefanten waren auch noch dabei. Das behauptet jedenfalls der Hannibal von heute stolz. Aber auf seinen Namen ist er nicht stolz. Eigentlich würde er viel lieber Max oder Moritz heißen, hat er mir unter vier Augen verraten. Hannibal ist ihm zu altbacken und zu kriegerisch. Daraufhin habe ich ihm gesagt, dass er froh sein soll, dass seine Eltern keinen Film über Donald Duck oder Pharao Thutmosis gesehen haben. Ich glaube, das hat ihn ein bisschen getröstet. Es ist wirklich ungeheuerlich, wie leichtfertig manche Eltern das Glück ihrer Kinder auf’s Spiel setzen. Fast so ungeheuerlich wie der Satz, den die Heidelbeere da gerade herausposaunt hat. Und Direktor Kittel lässt sich auch nicht lange bitten und ruft nach dem ersten Überraschungsanfall prompt in die Klasse: „Eine sehr löbliche Einstellung, Heidrun-Beatrice. Alle mal herhören. Ihr habt ja als nächstes Deutschunterricht bei eurer Klassenlehrerin Fräulein Lieblich. Fräulein Lieblich hat heute Geburtstag. Jeder sucht sich in seinem Deutschbuch ein Geburtstagsgedicht und lernt es bis zur nächsten Stunde auswendig. Und damit überrascht ihr dann Fräulein Lieblich. Ist das nicht eine prima Idee?“

Die Heidelbeere nickt erfreut. Und wir bewerfen sie mit giftigen Blicken.


Nicht, dass ich etwas gegen Gedichte hätte.

Wenn sie bloß nicht immer so furchtbar langweilig wären. Und kapieren tue ich sie meistens auch nicht. Mama sagt, Gedichte sind Poesie und Poesie ist Medizin für unsere Herzen. Mag ja sein. Aber mein Herz braucht so was nicht. Es ist kerngesund. Doktor Heilfroh kann das bezeugen. Er hat mir versichert, dass ich einen prima Herzschlag habe. Laut und kräftig wie eine stampfende Lokomotive. Und wie es scheint, haben auch die anderen in der Klasse starke gesunde Herzen, denn alle blättern nun mit Zähneknirschen und viel Gestöhn in ihren Deutschbüchern herum und suchen nach einem Geburtstagsgedicht für Fräulein Lieblich. Außer Heidrun-Beatrice natürlich. Die Heidelbeere hat längst das passende Gedicht gefunden und paukt eine Strophe nach der anderen. Ich werfe einen Blick in ihr aufgeschlagenes Buch. Na klar, eine Ballade. Was denn sonst?

Balladen sind der Hammer unter den Gedichten. Sie sind nicht nur meistens in einer grässlich altbackenen Sprache geschrieben, sie sind obendrein auch noch furchtbar lang. Wenn du eine Ballade vorträgst, musst du zwischendurch unbedingt immer mal auf der Stelle hüpfen. Sonst sind deine Schuhsohlen am Ende der Ballade garantiert mit dem Fußboden verwachsen und du kommst nicht mehr vom Fleck. Balladen sind wahrscheinlich ursprünglich als ausgefeilte Trainingsmethode für Hochspringer geschrieben worden – oder eben für Menschen mit kranken Herzen.

Sprunggewaltig ist die Heidelbeere nicht gerade. Ich habe sie mal beim Hochsprung erlebt und muss sagen: Entweder die Erdanziehungskraft wirkt bei ihr zehnmal stärker oder sie trägt Turnschuhe aus Blei. Ich glaube, jede Bowlingkugel kann höher hüpfen als sie. Bleibt also noch das Herz. Möglicherweise hat sie ja ein wirklich schlimmes Herzproblem.

Während ich mir gerade darüber so meine Gedanken mache, ertönt plötzlich neben mir ein leises unappetitliches Geräusch. Das gibt’s doch nicht, die Heidelbeere hat gerülpst, durchzuckt es mich wie ein Blitz. Heidrun-Beatrice, das angeblich vorbildlichste, anständigste und wohlerzogenste Kind an unserer Schule hatte jetzt einfach so gerülpst. Mitten im Unterricht! Auch wenn es nur eine Freistunde ist, ich bin schwer beeindruckt. So was hätte ich ihr niemals zugetraut. Ich werfe einen Rundumblick in die Klasse. Aber außer mir scheint niemand die Sensation bemerkt zu haben. Auch die Heidelbeere tut so, als wäre überhaupt nichts passiert. Kerzengerade wie eine Zaunlatte sitzt sie neben mir und brabbelt mit geschlossenen Augen ihre Ballade. Da rülpst es schon wieder! Und nun höre ich obendrein auch noch eine Stimme kichern: „Ups! Heilige Kacke! Was ist denn heute los?“ Hätte ich nicht bereits auf meinem Hintern gesessen, mit Sicherheit hätte es mich jetzt umgehauen. Die Heidelbeere steckt nicht dahinter, dass wird mir jetzt ziemlich schnell klar. Die leiert ja gerade in rekordverdächtigem Tempo eine Strophe nach der anderen herunter. Da kann sie unmöglich nebenbei noch andere Geräusche verursachen. Außerdem kommt mir die Stimme plötzlich sehr bekannt vor. Als ich das Poster von Bruno Barrikade trocken gewedelt habe, hat es in meinem Kopf genauso geklungen. Mir wird ganz komisch bei dem Gedanken, dass ich Stimmen höre, die außer mir niemand hört. Ich drehe mich um und frage Hannibal leise, ob er glaubt, dass man vom Postertrocknen eine Meise bekommen kann. Hannibal guckt mich an, als hätte ich hundertprozentig eine Meise und schüttelt den Kopf.

„Uff“, meldet sich da die Stimme erneut und ich bin mir jetzt fast hundertprozentig sicher, dass sie in meinem linken Ohr steckt. Doch bevor ich der Sache weiter auf den Grund gehen kann, klingelt es plötzlich und die Freistunde ist vorbei.

Wieso Freistunden immer viel schneller vergehen als Unterrichtsstunden ist mir wieder mal ein Rätsel. Rudi erklärt mir, dass das an den verschiedenen Eigenschaften der Stunden liegt, welche man schon an den Wörtern „Frei“ und „Unter“ ablesen kann. In einer Freistunde ist man frei und glücklich und die Zeit vergeht wie im Flug. In einer Unterrichtsstunde dagegen wird man unterdrückt. Da hat man nichts zu lachen und die Zeit wird zur Qual.

Im nächsten Moment kommt Fräulein Lieblich ins Klassenzimmer gerauscht und flötet gut gelaunt: „Guten Morgen, ihr Lieben. Ich hoffe, ihr hattet eine lehrreiche Freistunde. Direktor Kittel hat mir erzählt, dass ihr etwas vorbereitet habt. Und ich soll mich überraschen lassen. Na, da bin ich jetzt aber mal mächtig gespannt.“ Plumps, lässt sie sich auf die Polster von ihrem Lehrerstuhl fallen und blickt uns erwartungsvoll an. Wie immer in solchen Augenblicken, wo alle etwas sagen dürfen aber keiner etwas sagen will, ist es jetzt totenstill im Raum. Doch schon schnellt die Heidelbeere vom Stuhl hoch und alle atmen auf. Auf unsere Heidelbeere ist zum Glück Verlass. Sie spricht, im Gegensatz zum Rest der Klasse, gern und viel. Deshalb haben wir sie auch einstimmig zu unserer Klassensprecherin gewählt. Und auch diesmal werden wir nicht enttäuscht. Als sie mit ihrer Geburtstagsglückwunsch-Ballade fertig ist, ist die Unterrichtsstunde beinahe vorbei und wir anderen sind so gut wie gerettet. Fräulein Lieblich ist gerührt und verpasst der Heidelbeere eine Eins und viel Lob. Doch dann rutscht ihr Finger im Klassenbuch weiter abwärts und bleibt schließlich in einer Region hängen, in der es für mich ungemütlich wird. Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr sagt sie: „Fünf Minuten haben wir noch. Edgar, dir fehlt noch eine Zensur. Lass uns doch bitte einmal hören, was du vorbereitet hast.“ In solchen Momenten wünsche ich mir immer, dass alle in meiner Klasse auch Edgar heißen mögen. Dann könnte ich nämlich einfach sitzen bleiben und so tun, als wäre ein anderer Edgar gemeint und mich ginge das alles nichts an. Aber leider haben Eltern nicht immer den gleichen Geschmack, wenn es um die Namen ihrer Kinder geht. Und wenn man großes Pech hat, haben sie dann kurz vor der Namensverleihung auch noch irgendeinen doofen Film gesehen, der dann alles noch schlimmer macht. So wie bei Hannibal. Das Pech habe ich zwar nicht, aber blöd ist es trotzdem, dass ich jetzt hier weit und breit der Einzige bin, der Edgar heißt. Mein Herz wummert mächtig und der Hals fühlt sich plötzlich furchtbar trocken an. Die Heidelbeere hat eben fast eine ganze Unterrichtsstunde lang ein Gedicht heruntergerattert und ich habe noch nicht mal einen Zwei-Minuten-Reim parat. Ich habe in meinem Deutschbuch einfach nichts Brauchbares gefunden. Nur wird mir Fräulein Lieblich das jetzt garantiert nicht glauben.


„Oh, Mann, das wird bestimmt eine Sechs minus geben“, seufze ich deprimiert. Da höre ich plötzlich in meinem linken Ohr wieder diese Stimme. Und ohne dass ich jetzt irgendwas dagegen tun kann, plappere ich ihr plötzlich automatisch nach:

 

„Fritzchen Frosch und Mia Mücke

kaufen sich eine Perücke.

Montag darf sie Mia tragen,

Dienstag will es Fritzchen wagen,

Mittwoch steht Mia in Locken,

Donnerstag lässt Fritz sie rocken,

Freitag geht die Mücke schick,

Samstag ist der Frosch im Glück.

Sonntag hängt sie an der Wand,

– da ist Glatzentag im Land.“

Die Klasse tobt und ich möchte am liebsten ganz schnell im Erdboden versinken. Was für eine Blamage! Etwas Unpassenderes gibt es ja wohl kaum, um Fräulein Lieblich zum Geburtstag zu gratulieren. Weshalb habe ich bloß die doofe Stimme nachgeäfft? Und wieso höre ich sie überhaupt? Oder bilde ich mir das vielleicht alles bloß ein und es gibt sie gar nicht? Aber woher kommt dann dieses alberne Gedicht? Ich kenne es doch überhaupt nicht! Und wie kann ich etwas aufsagen, wovon ich doch eigentlich keinen blassen Schimmer habe?

„Das Gedicht steht ja gar nicht im Deutschbuch!“, ruft die Heidelbeere und zieht einen Schmollmund. Klar, steht es nicht da drin. Es kommt ja aus meinem linken Ohr, denke ich zerknirscht.

„Das ist Unfair! Wir sollten Gedichte aus dem Deutschbuch nehmen“, mault die Heidelbeere weiter. Typisch! Sie will immer die Klassenbeste sein und gönnt niemand anderem den Ruhm. Nicht mal, wenn er so peinlich ist, dass sich die ganze Klasse darüber scheckig lacht. Nur Fräulein Lieblich ist jetzt ganz still. Wahrscheinlich hat es ihr die Sprache verschlagen. Doch plötzlich klappt sie das Klassenbuch zu und murmelt: „Mit der Benotung, das überlege ich mir noch. Komm doch nach der Hofpause bitte mal zu mir ins Lehrerzimmer, Edgar. Ich habe etwas mit dir zu bereden!“ Dann rauscht sie aus dem Zimmer und ich falle wie ein nasser Sack auf meinen Stuhl zurück. Ich kann mir schon denken, was sie mit mir zu bereden hat. Das gibt einen saftigen Eintrag ins Elternheft. Was denn sonst?