Dresden - HeimatMomente

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4 Die Breslauer Zwerge

BOTSCHAFTER AUS POLEN

In Dresden kann man an einigen Orten kleine Zwerge entdecken. Hübsch sehen sie aus, aber warum stehen sie hier? Dazu muss man wissen, dass in Breslau genau solche Kunstwerke ebenfalls zu sehen sind. Die „Krasnale“ waren ursprünglich ein Kunstprojekt der politischen Oppositionsbewegung „Orangene Alternative“, die Kritik an der kommunistischen Regierung übte.

Den Zwerg wählte der Kunststudent Waldemar Fydrych als Symbol, weil die kleinen Kerle in vielen Märchen als listig und hilfreich gelten; aber sicherlich auch, weil Künstler in den Niederlanden einige Jahre zuvor ebenfalls mit Zwergen („Kaboutern“) gegen Konsumismus und Umweltverschmutzung protestiert hatten.

Die polnischen Aktivisten waren nicht so dumm, sich offen gegen das System zu richten; das hätte ihnen Gefängnisstrafen eingebracht und wohl nichts bewirkt (die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und der Arbeiteraufstände in Berlin 1953 waren eindrucksvoll gewesen). Stattdessen demonstrierten sie mit orangefarbenen Zwergenmützen auf dem Kopf gegen die Sommerhitze, sangen im Chor „Wir lieben Lenin!“ oder verteilten chronisch knappes Klopapier. Wieso hätte man sie dafür verhaften sollen?

Der eine gusseiserne Zwerg, der damals im Zentrum von Breslau aufgestellt worden war, verschwand schnell wieder. Im Sommer 2001 tauchte er jedoch wieder auf – lustigerweise erneut als Projekt von Kunststudenten, die an die Geschichte ihrer Stadt anknüpfen wollten. Sie platzierten ihren Zwerg, der nur handtellergroß war, an der Swidnicka-Straße, wo die „Orange Alternative“ sich in den 1980er-Jahren häufig getroffen hatte. Von da an erlebten die Breslauer Zwerge ein beachtliches Revival: Binnen weniger Jahre wurden Hunderte von ihnen angefertigt und im ganzen Stadtgebiet aufgestellt, aktuell sollen es über 600 sein. Jeder der maximal kniehohen Gesellen ist mit einem GPS-Sender ausgestattet, um Diebstahl vorzubeugen. Mitnehmen soll man sie bitte nicht, aber erlaubt ist es durchaus, die gefundenen Zwerge in einer App zu „sammeln“ – eine beliebte Aktivität von Breslau-Besuchern. Die Tourist-Info gibt zu diesem Zweck sogar einen Zwergenstadtplan heraus.

Ein Zwerg aus Breslau hält vor dem Springbrunnen am Rathaus zwei Stadtwappen hoch ...


... sein Genosse steht mit Koffer und Sonnenblume vor dem „Ratskeller“.

Statt Protest zu äußern, sind die Zwerge kleine Tourismusbotschafter von Breslau geworden. Hunderte winzige bronzene Gesellen bevölkern heute die Innenstadt der polnischen Stadt Wrocław (oder Breslau) – sie hängen an Laternen, stehen auf Ausflugsbooten, lugen um Häuserecken herum oder hocken auf Fensterbrettern.

Genau in dieser Funktion haben die „Krasnale“ im Jahr 2014 einen Vertreter ihrer Zunft nach Dresden geschickt. Die 270 Kilometer entfernte Elbmetropole ist nämlich seit 1959 Partnerstadt von Wrocław. Was wäre passender, als dieses Bündnis mit einem hilfreichen Zwerg zu besiegeln? Der Kleine sitzt etwas verschämt am Fuß des Hietzigbrunnens, der umgeben von parkenden Autos an der Seite des Rathauses steht, und hält die Stadtwappen der beiden Partnerstädte hoch. Damit er nicht allzu allein ist, bekam er 2019 Gesellschaft: Ein weiterer Zwerg, mit einem Koffer und einer Sonnenblume ausgestattet, steht – auf Wunsch der Dresdner, die darüber abstimmen durften – eine Ecke weiter am Eingang zum Ratskeller und begrüßt dort die Gäste. Wenn das so weitergeht, ist auch Dresden in zehn Jahren von Zwergen bevölkert …

Info

Lage:

•Breslauer Partnerzwerg am Hietzigbrunnen: auf der Schulgasse zwischen Rathaus und Kreuzkirche

•Breslauer Partnerzwerg am Ratskeller: an der südlichen Ecke des Rathauses, links vom Haupteingang

Anfahrt: Zufahrt über Ringstraße/Schulgasse; Parken auf dem Parkplatz Pirnaischer Platz, Dr.-Külz-Ring oder in den Parkhäusern der Innenstadt; mit Straßenbahnlinien 7/10/11/12 oder Buslinie 62/75 Haltestelle Prager Straße oder zu Fuß über den Altmarkt, vorbei an der Kreuzkirche

Öffnungszeiten: immer

Eintritt: nichts

5 Kulturpalast

Versöhnung mit der DDR-Architektur

Lange stand der Kulturpalast verschämt an der Nordseite des Altmarkts und trennte das in neuem Glanz erstrahlende historische Zentrum um die Frauenkirche von der immer noch an die DDR-Ästhetik erinnernden Prager Straße. Sollte man ihn abreißen wie seinen Kollegen in Berlin?


1969, als der Großteil der Innenstadt noch in Trümmern lag, erbaute man den Kulturpalast als Vorzeigeprojekt des Sozialismus – genau in der Mitte der historischen Altstadt, aus modernem Beton, mit einer blitzenden Glasfront und einem Kupferdach in Form eines Napfkuchens.

Der größte Mehrzwecksaal der Stadt entwickelte sich zum neuen kulturellen Zentrum. Hier fanden Konzerte der Dresdner Philharmonie und der Sächsischen Staatskapelle statt, der Kreuzchor und das Moskauer Bolschoi-Theater gastierten, die „Brückenmännchen“-Musicals hatten Kultstatus und bei Dixieland-Festivals wippte ganz Dresden mit. Der Saal mit 2000 Plätzen, das höhenverstellbare Parkett, die drehbare Bühne und Luxusmaterialien wie Marmor und Granit zeigten den Dresdnern, dass es vorwärtsging im Sozialismus.

Nach langer Diskussion in den 1990ern entschlossen sich die Dresdner, zu ihrer jüngeren Geschichte zu stehen. Sie stellten den Kulturpalast unter Denkmalschutz und renovierten ihn gründlich. 2017 wurde er wiedereröffnet und feierte 2019 sein 50-jähriges Jubiläum.Und die Menschen waren begeistert. Der Kulturpalast ist als Heimat der Dresdner Philharmonie, des Kabaretts „Die Herkuleskeule“ und der Zentralbibliothek ein echtes Kulturzentrum und gleichzeitig ein architektonischer Gegensatz zum benachbarten Neobarockviertel. Er beherbergt einen der akustisch besten Konzertsäle der Welt, der auch architektonisch beeindruckt und von einer speziell entworfenen Orgel gekrönt wird.

Das 30 Meter lange Wandbild „Der Weg der Roten Fahne“ durfte nach langer Diskussion über seinen künstlerischen Wert an der Westfassade bleiben. Das detaillierte Bild auf 466 Betonkacheln (der rote Stern besteht dagegen aus Glas) zeigt die Geschichte der Menschheit im Verständnis des Marxismus. Die fahnenschwingende Frau in der Bildmitte erinnert an die Dame, die das französische Volk zur Revolution führen sollte – mit Absicht!

Spannend sind auch die drei Eingangstüren des Kulturpalasts. Ähnlich wie Kirchenportale bestehen sie aus Bronzereliefs, die die Geschichte der Stadt zeigen. Der Künstler Gerd Jaeger hat sich bei den Türen nicht an den Kalender gehalten, weshalb man beim Betrachten etwas verwirrt ist: Die erste Tür zeigt das Mittelalter und beginnt ganz links unten, als Dresden 1206 erstmals urkundlich erwähnt wurde, bis zum Dreißigjährigen Krieg, als 1632 die Pest kam. Die zweite Tür von links zeigt die Geschichte Dresdens im 19. und frühen 20. Jahrhundert, während die mittlere Tür den Sozialismus zeigt. Auf der rechten Seite geht es wieder rückwärts, in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und das Barockzeitalter. Eine Tür für das 21. Jahrhundert fehlt noch.


Erstrahlt neu in alter Optik: der Kulturpalast

Nun wird es aber Zeit, hineinzugehen; auch ohne Ticket für eine der vielen Veranstaltungen. Das beste am Kulturpalast ist nämlich der Blick hinaus auf den Altmarkt, Dresdens ältesten Platz. Besucher der Zentralbibliothek genießen ihn aus einem der kugelrunden „Sonic Chairs“ an den Fensterfronten des Lesesaals. Diese Kuschelsessel sind gleichzeitig akustische Inseln, die man ans Smartphone anschließen und zum Musikhören nutzen kann.

Aber auch im Foyer kann man bei einem Kaffee oder einem Glas Sekt aus dem Bistro den Blick durch die Glasfront auf den Altmarkt richten. Tagsüber herrscht dort buntes Treiben – bei einem der Frühlings- oder Herbstmärkte, beim jährlichen Striezelmarkt (der seit 1434 hier stattfindet) oder einer anderen Großveranstaltung.

Sollte das Pflaster einmal leer sein, wirkt der Altmarkt, hinter dem der 92 Meter hohe Turm der Kreuzkirche und der Rathausturm aufragen, noch eindrucksvoller. Schwer vorstellbar, dass hier 1945, nach dem Bombardement der Alliierten am 13. Februar, zwischen den Trümmern Tausende geborgene Leichen lagen. Eine in der ursprünglichen Pflasterung erhaltene Stelle markiert den Punkt, wo die Opfer der Bombennacht in den darauffolgenden Tagen verbrannt wurden. Das Mahnmal ist so unauffällig, dass die meisten Besucher achtlos darüber hinweglaufen – Ergebnis einer hitzigen Debatte darüber, wie groß eine Gedenkstätte an die Kriegsopfer in Dresden sein darf, das sich seit Jahren mit Vereinnahmungsversuchen von rechts herumschlägt.

Info

Lage:

Schlossstraße 2, 01067 Dresden, Besuchereingang Wilsdruffer Straße (Front)

Anfahrt: Parken in der Tiefgarage unter dem Altmarkt, im Haus am Zwinger, im Contipark an der Semperoper oder im Q-Park Frauenkirche; Straßenbahnlinie 1/2/4, Haltestelle Altmarkt

Eintritt: tagsüber und abends ins Gebäude und in die Zentralbibliothek frei

 

Aktivitäten:

•Ticketservice: Tel.: 0351 4866-866,

ticket@dresdnerphilharmonie.de

•Bistro: im 1. Stock, geöffnet tagsüber und bei Veranstaltungen

•Zentralbibliothek: im 1. und 2. Stock, Montag bis Samstag 10 bis 19 Uhr, bibo-dresden.de

Website: kulturpalast-dresden.de

6 Die Weiße Flotte

AUF DER ELBE WOLL‘N WIR FAHREN …

Erst mit den weißen Raddampfern, die tutend vom Terrassenufer in Richtung Pillnitz oder Bad Schandau ziehen, ist Dresdens Stadtbild komplett. Spaziergänger winken den Kaffeefahrt-Gästen auf den Promenadendecks zu und ziehen dann kreischend ihre Picknickdecken ins Trockene, wenn die Bugwellen die Elbe zur Wallung bringen und echte Brecher ans Ufer schicken.


In den vergangenen Sommern floss die Elbe, die uns Dresdner gern mit Hochwassern schreckt, leider immer niedriger dahin. Beherzte konnten sie zu Fuß durchwaten – dabei wird der Fluss von den Städtern eigentlich gern zum Schwimmen genutzt, sommers wie winters. Für die Weiße Flotte bedeutete das dasselbe wie für die Lastkähne aus Tschechien: Schifffahrtsstopp.

Wird die älteste und größte Raddampfer-Flotte der Welt das nächste prominente Opfer des Klimawandels? Insolvenz wurde bereits Anfang 2020 angemeldet, als das Corona-Virus für einen zusätzlichen Einbruch der Einnahmen sorgte.

Dabei fahren die „Gräfin Cosel“, die „Pillnitz“ und ihre Kolleginnen schon seit 1836 elbauf und elbab, gegründet von geschäftstüchtigen Dresdner Bürgern, zuerst nur mit zögerlicher Erlaubnis des Königs, der sich gegen die Modernisierung sperrte: Warum sollte man die Treidelschiffe, die man vom Ufer aus an Seilen flussaufwärts zerrte, durch Dampfschiffe ersetzen? Die arbeitslosen Treidler haben ihm sicher zugestimmt – an sie erinnern nur noch einige gemauerte Treidelpfade am Ufer.

Dampfschiffe eroberten in den nächsten Jahren die Welt, auch in Sachsen. Hier ertüftelte Mathematikprofessor Johann Andreas Schubert das erste Dresdner Dampfschiff, die „Königin Maria“. Nach der ersten Publikumsfahrt von der Marienbrücke bis nach Meißen war der Damm gebrochen: Passagiere fuhren elbabwärts bis nach Dessau und elbaufwärts bis nach Melnik, wo die Moldau in die Elbe mündet.

1901 fuhren 3,4 Millionen Fahrgäste auf den 37 Schiffen der Flotte. Ihren Namen erhielt sie erst 1928, als alle Schiffe weiß gestrichen wurden: nach dem Vorbild der „Great White Fleet“ von US-Präsident Roosevelt. Der Zweite Weltkrieg war der Dampfschifffahrt nicht förderlich; die wenigen Schiffe, die in Dresden heil geblieben waren, wurden als Reparationsleistungen von der Sowjetunion einkassiert.

Von vier einsatzfähigen Raddampfern, die die DDR-Zeit überstanden hatten, schafften es zwei in die neue Zeit: Aus „Ernst Thälmann“ wurde „August der Starke“, die „Wilhelm Pieck“ fährt heute als „Gräfin Cosel“. Die anderen beiden liegen als schwimmende Jugendherbergen im Neustädter Hafen.

Durch Restaurierungen und Neukäufe wuchs die Flotte wieder langsam bis auf neun Schiffe. Schmuck sehen sie alle aus: von den glasverkleideten, stromlinienförmigen Salonschiffen „Gräfin Cosel“ und „August der Starke“ bis zur „Diesbar“, deren Dampfmaschine seit 1841 stampft und die damit den Rekord als weltweit dienstältester Flussdampfer hält. Die Weiße Flotte ist aber auch in Sachen Digitalisierung voll dabei: Fahrgäste genießen eine automatische, GPS-gesteuerte Streckenerklärung in mehreren Sprachen, Tickets werden online verkauft.

Die Dresdner lieben Kaffeefahrten auf ihren weißen Kähnen. Zu den Dampferparaden am 1. Mai und beim Stadtfest, wenn alle neun Schiffe mit dampfenden Schornsteinen, die beim Passieren der Elbbrücken eingeklappt werden, von der Altstadt nach Pillnitz fahren, winken sich Tausende am Ufer und an Deck zu, und zum Dixieland-Festival im Sommer gehören die weißen Kähne einfach dazu.


Die „Gräfin Cosel“ dampfte schon zu DDR-Zeiten die Elbe entlang

Es gibt ja auch nichts Schöneres, als an Deck in der Sonne zu sitzen, ein „Schälchen Heeßen“ zu schlürfen und dabei wahlweise die Weinhänge des Meißner Elbtals an sich vorüberziehen zu lassen oder zuzusehen, wie die Sandsteinklippen auf der Fahrt in die Sächsische Schweiz immer höher aufragen. Der Klassiker für Ungeduldige, die keinen halben Tag Zeit haben, ist die Stadtfahrt zwischen dem Terrassenufer und dem Blauen Wunder.

Aber wenn die Passagierzahlen weiter sinken, wie der Wasserstand der Elbe? Ein neuer Investor muss dem historischen Erbe Dresdens neues Wasser unter den Kiel bringen. Ich drücke die Daumen – und bin ziemlich sicher, dass die Dampfer der Weißen Flotte weiterfahren werden. Sie gehören doch einfach zu Dresden!

Info

Lage: Anlegestelle am Terrassenufer, Höhe Augustusbrücke, vor der Brühlschen Terrasse

Anfahrt: Parken im Parkhaus QF Frauenkirche oder auf dem Parkplatz Schießgasse vor der Polizeidirektion; Bahnlinie 3/7/8/9 bis Haltestelle Synagoge oder 7/9 bis Haltestelle Neustädter Markt und zu Fuß über die Augustusbrücke laufen

Fahrzeiten: Stadtfahrten und Schlösserfahrten starten dreimal täglich am Terrassenufer und in Blasewitz

Tickets: Erwachsene zwischen 7,50 EUR für eine 20-minütige Kurzfahrt und 22 EUR für die einfache Langstrecke bis Bad Schandau bzw. Diesbar, Rückfahrt immer 7 EUR; Kinder unter 6 Jahren sind kostenfrei, Kinder von 6 bis 14 Jahren fahren in Begleitung eines zahlenden Erwachsenen auf Linienfahrten ebenfalls kostenfrei; Kaffee und Speisen müssen an Bord bezahlt werden.

Website: saechsische-dampfschiffahrt.de

7 Neue Synagoge und Stolpersteine

DRESDENS DUNKLE VERGANGENHEIT

Als 2001 in Dresden die Neue Synagoge eingeweiht wurde, überraschte das viele. Die einen standen verblüfft vor dem sandsteinfarbenen Kasten, der zwar im Material, aber nicht in der Form zur angrenzenden barocken Altstadt passte. Die anderen merkten erst bei dieser Gelegenheit, dass Dresden eine jüdische Gemeinde hat – beziehungsweise wieder hat.


Im ganzen Stadtgebiet stößt man auf die Messingsteine von Gunter Demnig, die der Künstler seit 2009 herstellt und verteilt. Wie normale Pflastersteine sind sie in den Boden eingelassen, meist vor Hauseingängen.

Stolpern kann man über sie kaum, trotzdem bringen sie zum Innehalten; und das ist ihre Funktion: Jeder Stein markiert den letzten gemeldeten Wohnort eines jüdischen Dresdners oder einer Dresdnerin. Auch Künstler und Politikerinnen, körperlich und geistig Behinderte und Zeugen Jehovas sind dabei, die politisch verfolgt und ermordet wurden.

Eingestanzt sind Name und Geburtsdatum, dann folgt das Datum, an dem diese Menschen aus ihrem Heim vertrieben wurden: abgeschoben nach Polen oder deportiert in KZs, hingerichtet oder schlicht ermordet. Nur auf wenigen steht „Flucht nach Australien“ oder „KZ überlebt“. Am traurigsten sind die mit den Namen von Kindern – etwa von Jutta und Tana Schneck, die 1942 im Alter von zwei und fünf Jahren zusammen mit ihrer Mutter nach Auschwitz deportiert und vergast wurden.

Viele Dresdner schauten damals weg – oder unterstützten die Nazis. Die waren in Dresden gründlich und feierten 1942, die Stadt wäre nun „judenrein“. Das stimmte nicht ganz; noch bis 1943 lebten etwa 300 jüdische Frauen und Männer im „Judenlager“ auf dem Hellerberg als Zwangsarbeiter in einer Rüstungsfabrik des Kameraherstellers Zeiss Ikon. Sie alle wurden im März 1943 nach Auschwitz gebracht. Ironischerweise verhinderte die Bombennacht vom 13. Februar 1945 die Deportation der letzten Juden aus Dresden; damals lebten noch 41 in der Stadt, die meisten in „Mischehe“ mit Deutschen oder deren Kinder.

Seit dem Beginn des Projekts „Es waren unsere Nachbarn“ hat Demnitz fast 70.000 Steine in über 1200 Orten in Deutschland und in 24 Ländern Europas verlegt. Die Stolpersteine gelten damit als das größte dezentrale Kunstwerk der Welt.

Im Gegensatz dazu fokussiert die architektonisch auffällige Neue Synagoge am Rathenauplatz die Aufmerksamkeit auf einen Punkt. Die jüdische Gemeinde der Stadt, schon immer klein und durch den Holocaust geschrumpft von etwa 5000 Gläubigen auf heute etwa 700, wurde kaum wahrgenommen – bis sie ihr neues Gotteshaus bekam. Das Architekturbüro Wandel + Lorch erhielt für diesen Entwurf den World Architecture Award.

Schauen Sie ruhig genau hin, wenn Sie an den Polizei-Mannschaftswagen vorbeispazieren, die zum Schutz der Gemeinde beschämenderweise wieder nötig sind: Der 24 Meter hohe, fensterlose Würfel soll an den ersten Tempel der Israeliten und die Klagemauer in Jerusalem erinnern. Seine Fassade besteht aus vielen Reihen von Bausteinen, die jeweils um sechs Zentimeter verdreht sind. So gelang ein Kompromiss mit den praktischen Gegebenheiten: Während die Grundfläche exakt in die nach Norden ausgerichteten Grenzen des Baulands passt, ist ihre Oberseite nach Osten ausgerichtet, wie es für Synagogen sein soll. Gegenüber liegt ein weiterer, nicht verdrehter Kasten, das Gemeindezentrum und das Arbeitszimmer des Rabbis, eines jungen Mannes aus New York, der zwischen Dresden und Basel pendelt.


Die Neue Synagoge wurde mit dem World Architecture Award prämiert

An die Alte Synagoge, erbaut 1840 von Gottfried Semper als größter Sakralbau Deutschlands, erinnert ein Gedenkstein in Blickweite der Neuen Synagoge. Genau 60 Jahre nach ihrer Sprengung erfolgte 1998 der erste Spatenstich für die Neue Synagoge, weitere drei Jahre später wurde sie als erste Synagoge in Ostdeutschland eingeweiht.

Der alte Davidstern, der über der Tür hängt, ist das einzige, was von der Alten Synagoge übrig blieb. Jetzt können die Juden in Dresden neue Geschichte schreiben. Seit 2020 ist Jüdische Religion Wahlpflichtfach an sächsischen Grundschulen. Und wer mag, kann dem Rabbi Weingarten auf YouTube und Instagram folgen.

Info

Lage:

Hasenberg 1, 01067 Dresden, am östlichen Ende der Brühlschen Terrasse

Anfahrt: Parken auf dem Parkplatz Schießgasse vor der Polizeidirektion; Straßenbahnlinie 3/7, Haltestelle Rathenauplatz/Synagoge

Öffnungszeiten: nur nach Anmeldung oder zu Gottesdiensten der Gemeinde

Führungen durch die Synagoge: Tel.: 0351 65 60 70

Website von Rabbi Weingarten: rabbiweingarten.com

HINWEISE:

•Die Stolpersteine findet man im ganzen Stadtgebiet von Dresden; eine Übersichtskarte gibt es unter stolpersteine-dresden.de oder auf dem Themenstadtplan der Stadt unter dresden.de.

•Die Infotafel für das Judenlager am Hellerberg, das nördlich des St. Pauli Friedhofs lag, steht am südlichen Ende des Hammerwegs.

•Die Rüstungsfabrik, in der die letzten Juden in Dresden bis 1943 arbeiten mussten, steht an der Riesaer Straße in Dresden-Pieschen und wird heute nach Sanierung teilweise als Kulturfabrik „Zentralwerk“ genutzt.

8 Kraftwerk Mitte

KULTUR IM ZENTRUM

In Dresdens barockem Zentrum tummeln sich tagsüber die Menschen. Mit dem Einbruch der Dunkelheit wird es aber sehr still in der Innenstadt – für Wein und Gesang pilgern die Dresdner lieber auf die andere Elbseite, ins Kneipenviertel Äußere Neustadt. Dort sorgen Bars und Restaurants, viele kleine Theater und Kulturstätten sowie Clubs fürs leibliche Wohl und die Unterhaltung.

Seit 2016 ist das anders – jetzt sieht man auch abends Scharen von Dresdnern in die Innenstadt pilgern. Und zwar jeden Alters! Ihr Ziel liegt zwar gleich neben dem Bahnhof Mitte, ist aber nicht das „richtige“ Stadtzentrum. Geschenkt – auf dem Gelände des ehemaligen Heizkraftwerks (alias Lichtwerk, alias Westkraftwerk), das hier seit 1895 dreckigen Kohlestrom für Dresden produzierte, ist ein Kulturmix vom Feinsten entstanden – und das in einem beeindruckenden Kulturdenkmal.

 

Energie wurde an dieser Stelle schon seit 1838 erzeugt, im Laufe der Zeit baute man immer weitere Gebäude und Anlagen auf und an. Das Ergebnis ist ein Fest für Stadthistoriker und Architekturfans, ein Querschnitt vom Historismus bis zur Sachlichkeit. Nur das alte Kesselhaus wurde leider trotz Denkmalschutzes 2006 abgerissen.

Zuerst eröffneten die Dresdner Stadtwerke, 175 Jahre nach dem ersten Aufleuchten einer Gaslaterne in Dresden, das Energiemuseum KraftWerk in einem ehemaligen Werkstattgebäude. Dann zog 2010 der Kraftwerk Club in die alten Klinkerhallen des Bahnstromwerks an der nordöstlichen Ecke des Areals ein. Seitdem wummern jedes Wochenende die Bässe, Szenegrößen wie Paul van Dyk und DJ Antoine kommen gern hierher. Kein Wunder bei einer Location, in deren Mitte ein Wasserfall rauscht!


Das Kraftwerk Mitte ist immer noch voller Energie


Ein Theater für die Jüngsten: das tjg

2014 kamen die Musikhochschule und 2016 das Heinrich Schütz Konservatorium, die Heinrich-Böll-Stiftung richtete sich in der alten Trafohalle ein, das Restaurant „Neue Sachlichkeit“ und das wunderschöne kleine Bistro „t1“ im ehemaligen Pförtnerhaus setzten dem coolen Industrie-Charme ein warmes i-Tüpfelchen auf. Als schließlich die Staatsoperette und das Kinder- und Jugendtheater „theater junge generation“ aus den Randbezirken Dresdens herzogen, war das Kulturpaket komplett – oder? Inzwischen kam noch ein Co-Working-Space für Kreative und das Programmkino „Zentralwerk“ hinzu, ein Haus der Kulturen ist geplant und man hofft, dass sich weitere Start-ups und Kunstschaffende ansiedeln werden.


tjg und Staatsoperette teilen sich ein Gebäude im Kraftwerk

Heute macht es zu jeder Tageszeit Spaß, durch das Gelände des ehemaligen Heizkraftwerks zu streifen. Hoch aufragende Backsteinwände und Stahlkonstruktionen bieten coole Hintergründe für Instagram-Sternchen (die man hier häufig beim Fotoshooting sieht), die renovierten Hallen der beiden Theater mit ihren 65-Tonnen-Kränen und Granitskulpturen bieten an jeder Ecke spannende Eindrücke. Dazwischen setzen die gemütlich von Pflanzen überwucherten Vintage-Möbel des Bistros im Hof und die wie zufällig herumstehenden Plastiken und Theaterrequisiten Akzente.


Der spektakuläre neue Saal der Staatsoperette

Selbst wenn weder Theater- noch Operetten- noch Kinoprogramm überzeugen können – ein Besuch im Kraftwerk Mitte lohnt sich auf jeden Fall, denn er zeigt eine ganz andere, ungewohnte Seite von Dresden. Genau in der Mitte.

Info

Lage:

Kraftwerk Mitte 1 am Wettiner Platz, 01067 Dresden, Zugang vom Wettiner Platz/Alfred-Althus-Straße oder (manchmal) durch eine kleine Tür in der Mauer zur Könneritzstraße

Anfahrt: Parken am besten auf dem großen Parkplatz Kraftwerk Mitte, Löbtauer Straße 21, von der Haltestelle Bahnhof Mitte (S-Bahn S1, Straßenbahnen 1, 2, 6, 10, Bus 94) sind es etwa fünf Minuten zu Fuß.

Aktivitäten:

•theater junge generation: Vorverkaufskasse Montag bis Freitag 10 bis 18 Uhr; Tel.: 0351 320 42 777, tjg-dresden.de

•Staatsoperette: Vorverkaufskasse Montag bis Freitag 10 bis 18 Uhr, Tel. 0351 32042 222, staatsoperette.de/karten

•Club Kraftwerk: Programm und Tickets unter kraftwerk-club.de

•Energiemuseum KraftWerk: Mittwoch 10 bis 17 Uhr, von Oktober bis Juni auch Samstag 13 bis 17 Uhr, Eintritt kostenfrei; Tel.: 03 51 860 41 80, kraftwerk-museum.de

Restaurants:

•Restaurant Neue Sachlichkeit: Dienstag bis Freitag 12 bis 22 Uhr, Samstag 15 bis 22 Uhr; Tel.: 0176 47306703, kraftwerk-mitte-dresden.de/einziehen/wir-sind-hier/neue-sachlichkeit.php

•Bistro t1: Montag bis Freitag 9 bis 24 Uhr, Samstag und Sonntag 11 bis 23 Uhr; Tel.: 0351 484 567 51

Website: kraftwerk-mitte-dresden.de

HINWEISE: Die Eintrittskarten für tjg und Staatsoperette gelten vier Stunden vorher und bis sechs Stunden nach der Vorstellung als Bus- und Bahn-Tickets.

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