SCHWARZE KITTEL - Katastrophen-Medizin

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SCHWARZE KITTEL - Katastrophen-Medizin
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Katastrophen-Medizin
Flug nach Haiti

Dr. Jasmin Wagner, 52, Anästhesistin des Städtischen Krankenhauses Lörrach, stand in Frankfurt in der großen Flughafenhalle von Terminal 1 und wartete am Lufthansa-Schalter darauf, an der Gepäckaufgabe von ihrem großen Trekking-Rucksack erlöst zu werden. Jasmin hatte bereits eine vierstündige Zugfahrt nach Frankfurt hinter sich und ihr graute vor dem sechzehnstündigen Flug nach Port-au-Prince. Die Reise war ein ganz spontaner Entschluss gewesen. Vor nicht mal zwei Tagen, am 12. Januar 2010, hatte ein Erdbeben der Stärke 7,2 große Teile von Port-au-Prince, der Hauptstadt von Haiti, wie auch unzählige andere Städte und Dörfer der Insel innerhalb einer Minute zerstört. In einem der ärmsten Länder der Erde wurde Hilfe von außen noch dringender benötigt als es in anderen Ländern bei ähnlichen Katastrophen der Fall war. Jasmin war schon mehrmals mit „Ärzte ohne Grenzen“ zu Einsätzen im Ausland unterwegs, wofür sie zwei Drittel ihres Jahresurlaubs einsetzte. Dieses Mal war sie auf eigene Faust unterwegs. Nachdem sie die ersten Berichte von dem Unglück gesehen hatte, war ihr klar, dass in Haiti ärztlicherseits für die Katastrophenmedizin schnellstmöglich Chirurgen, Anästhesisten und Notfallmediziner gebraucht wurden. Viele der Verschütteten brauchten intensivmedizinische Betreuung oder mussten operiert werden. Für große Eingriffe wie die leider nach Erdbeben häufig nötigen Amputationen von zerquetschten Gliedmaßen bei meist insgesamt instabilem Gesundheitsstatus erhöhte ein erfahrener Anästhesist die Überlebenschancen erheblich. Für Jasmin hatten gerade drei freie Wochen begonnen, ihr Resturlaub plus Überstundenausgleich für die Dienste an den Festtagen nach vier anstrengenden Wochen, die sie weitgehend durchgearbeitet hatte, da die meisten Kollegen mit Kindern Weihnachten oder anschließend Urlaub genommen hatten. Sie hatte kurz entschlossen auf eigene Kosten in der Krankenhausapotheke 100 Kanülen, 50 Infusionssysteme und 30 Beutel mit verschiedenen Infusionslösungen sowie zwei Liter Desinfektionslösung und allein für 800 € Breitbandantibiotika gekauft. Das schleppte sie alles in ihrem großen Rucksack auf dem Rücken, zusammen mit einer dicken Isomatte und einem Schlafsack, die an den Rucksack geschnallt waren. In dem kleineren schwarzen Handgepäck-Rucksack befanden sich vor allem ihre Toilettenartikel, eine Jeans und ein T-Shirt zum Wechseln, Unterwäsche, Stethoskop, Blutdruckmanschette und der weiße Kittel, der sie zusammen mit dem Ärzteausweis vor Ort legitimieren sollte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie in Haiti hin wollte und was sie genau erwartete, aber sie war überzeugt, dass dort jede helfende Hand gebraucht wurde. Auch ihre Reisekosten trug Jasmin selbst. Aus ihrer Erfahrung wusste sie, dass es noch tagelang dauern würde, bis die Teams verschiedener Hilfsorganisationen zusammengestellt waren sowie das Briefing und die Formalitäten überstanden waren, wenn sie sich ganz regulär bei einer Organisation als Helferin anmeldete. Jasmin hasste die Verzögerungen durch die organisatorischen Probleme, fühlte sich eingeschränkt durch zig Vorschriften. Im Vergleich zu anderen Krisengebieten rechnete sie in Haiti auch nicht mit einer persönlichen Bedrohung, dass sie den Schutz von Polizei oder Soldaten für ihre Arbeit in Anspruch nehmen zu müssen glaubte. Sie hoffte, dass der schnelle Einsatz die Verantwortlichen am Zoll etc. mehr interessierte als irgendwelche Formulare über ihren gültigen Pass hinaus.

Endlich stand sie vorne am Check in-Schalter. Dreimal hatte sie zu Hause ihr Gepäck umpacken müssen, bis der große Rucksack gerade 400 g unter dem Gewichtslimit von 30 kg lag; Schwere, für Handgepäck erlaubte Dinge hatte Jasmin in den kleinen Rucksack gestopft, der jetzt auch stolze 11 kg wog. Sie tat sich immer noch schwer damit, dass sie Scheren, Messer, Flüssigkeiten wie ihre Infusionsbeutel nicht mehr direkt im Handgepäck mit sich führen durfte seit den verschärften Sicherheitsbestimmungen. Als Anästhesistin kam Jasmin sich ohne ihr „Handwerkszeug“ aufgeschmissen vor. Wer wusste schon, wann und ob überhaupt sie nach der Landung an ihre teuren Mitbringsel kam? Vielleicht fand ihr Reisegepäck auch schon beim Entladen des Frachtraums Abnehmer, die damit Familie und Freunde versorgen wollten. Sie hoffte, dass der altgediente Trekking-Rucksack mit Isomatte und Schlafsack trotz des enormen Gewichts eher als Studentengepäck mit Büchern denn als wertvolle Ladung betrachtet würde.

„Guten Morgen! Fenster oder Gang?“ Flugerfahrung in der Economy Class ließ Jasmin auf eine evtl. schöne Sicht vor der Landung in Port-au-Prince bei einem Fensterplatz verzichten. Sie wählte einen Gangplatz, auf dem man nicht stundenlang still sitzen musste, eingepfercht zwischen kühler Bordwand und einem Sitznachbarn, der manchmal durch Überbreite oder unbewusst im Schlaf auch noch einen Teil ihres Sitzes beanspruchte. Am Gang hatte sie weniger klaustrophobische Probleme, konnte ihre Beine strecken und auch mal ein paar Schritte gehen, ohne dass sie zuvor alle Mitreisenden ihrer Reihe stören musste. Die Angestellte fragte freundlich: „Möchten Sie einen Platz am Notausstieg? Dort ist auch immer etwas mehr Raum.“ Jasmin lehnte lächelnd ab: „Danke nein, lieber etwas weiter vorne, wenn das geht.“ Sie wusste, dass der „freie“ Raum am Notausstieg die Ausweichstelle war für alle, die im Gang nicht aneinander vorbei kamen. Dort bekam man gar keine Ruhe. Mit ihrer Bordkarte und dem Reisepass in der Hand brachte sie den Zollschalter hinter sich. Lange Schlangen beim Sicherheitscheck, da aus unerfindlichen Gründen nur zwei der fünf Abfertigungsplätze besetzt waren. Vorsorglich hatte Jasmin auf Kleidung mit Metallanteilen verzichtet, trotzdem kam sie nicht unbeanstandet durch, sondern musste auch noch ihre Trekking-Schuhe ausziehen und auf das Durchleuchtungsband legen. Am hinteren Ende konnte sie gar nicht so schnell alles an sich nehmen und wieder anziehen: Kapuzenpulli, Windjacke, Bauchbeutel, Tagesrucksack und dann im Stehen ihre Wanderschuhe wieder anziehen, sodass um sie herum Gedränge durch die Nachkommenden entstand. Jasmin war kräftig gebaut, kämpfte immer gegen das Übergewicht. In ihrer Jugend und noch im Studium hatte sie zig Sportarten betrieben, aber neben ihrem langen Arbeitstag und zig Nachtdiensten blieb einfach nicht genügend Zeit für ein ernsthaftes Hobby. Mit Nordic Walking und Trimmrad fahren hielt sie ihr Gewicht um die 70 kg. Ihre schwarzen Haare bekamen zwar zunehmend grau-weiße Strähnen, aber sie war nicht eitel. Färben kam für sie nicht in Frage. Der kurze Haarschnitt, den sie bevorzugte, weil er praktischer für die OP-Kappe war, ihre glatte Haut, ein lebhaftes Temperament und eine unglaubliche Energie ließen sie mindestens 5 Jahre jünger als ihr biologisches Alter erscheinen.

Noch ca. 40 min bis zum Boarding. Erschöpft sank Jasmin in einen der unbequemen Banksitze im Warteareal, etwas abseits, um ihre Ruhe zu haben. Sie hatte seit rund 32 h nicht geschlafen, da ihr Aufbruch recht überstürzt war und sie gestern noch viel zu erledigen hatte für ihre Reise. Im Zug nach Frankfurt hatte sie gedöst, aber ständig kreisten ihre Gedanken darum, ob sie etwas Wichtiges vergessen hatte. Erst jetzt entspannte sie ein wenig, da nun nichts mehr zu ändern oder zu regeln war. Während weitere Passagiere in die Wartezone kamen, einige an den großen Fenstern bei untergehender Sonne dem Starten und Landen der eisernen Vögel auf den von hier einsehbaren Landebahnen zusahen oder durch die Duty-Free-Shops zogen, nickte Jasmin ein. Sie verließ sich darauf, dass ihr Unterbewusstsein, trainiert durch jahrelange Sitzwachen und Nachtdienste, jede Änderung der Umgebungsgeräusche registrieren und sie alarmieren würde. Sobald sich die Geräuschkulisse verschob, weil die Reisenden zum Boarding Schalter strömten, schreckte sie hoch. Sie sah noch eine Weile zu, wie die Mitreisenden anstanden, entdeckte bei einigen Fluggästen alkoholische Flaschen aus den zollfreien Läden und wunderte sich. Erst vor zwei oder drei Wochen hatte sie im Fernsehen einen Bericht gesehen, wie einfach man mit allein 200-500 ml hochprozentigen Alkohols eine kleine Explosion oder ein Feuer an Bord auslösen konnte, aber noch immer durften diese Flüssigkeiten mit in die Passagierkabine genommen werden. Bei der langen Flugzeit wartete die 1,72 m große Ärztin möglichst lange, bis sie selbst an Bord der 747 ging. Die Gepäckfächer in ihrer Umgebung waren dann auch prompt bereits voll gestopft mit Taschen, Aktenkoffern und Jacken. Eine ungewöhnlich kleine Stewardess nahm ihren gerade noch in den erlaubten Maßen liegenden Handgepäck-Rucksack mit nach vorne, wo neben der Küchenkabine Stauraum für weiteres Gepäck war. Normalerweise hatte Jasmin ihre Tasche gerne bei sich, um zu lesen, Rätsel oder Sudokus zu lösen, aber dieses Mal wollte sie noch möglichst viel schlafen vor den bevorstehenden Strapazen und behielt nur den Bauchgurt mit Papieren, Geld und Kamera bei sich. Überrascht stellte sie fest, dass die Maschine ausgebucht war, obwohl vor knapp 20 h noch viele Plätze buchbar gewesen waren. Lauter Kurzentschlossene! Der weitaus größte Anteil der Flugpassagiere waren Männer im Alter zwischen 25 und 45 Jahren. Jasmin überlegte, ob es sich nur um Journalisten, Reporter und Kameraleute handelte oder ob auch schon Mitglieder von Hilfsorganisationen an Bord waren, was nur rund 40 h nach dem Erdbeben extrem schnell gewesen wäre. Noch während der Vorführungen zu den Notfallmaßnahmen und dem Ablegen von dem langen Flugsteg schloss Jasmin die Augen und versuchte ihre Umgebung auszublenden. Im Halbschlaf spürte sie den Start, hörte die Stewardessen später mit den üblichen Angeboten mehrmals an den Reihen vorbeigehen, aber Jasmins Körper nutzte die Entspannung, um Kraft zu tanken.

Jasmin setzte sich auf, als das Geklapper mit dem Essenswagen die Ausgabe der Abendmahlzeit begleitete. Sie hatte kein Mittagessen gehabt und war jetzt richtig hungrig. Wie oft passierte es ihr, dass es keine Menüwahl mehr gab, bis die Stewardessen bei Jasmin ankamen, dann verzichtete sie meist lieber, denn sie hasste Fisch. Heute hatte sie Glück und wählte Reis mit Putengeschnetzeltem, erfreulicherweise noch gut warm und lecker. Satt war Jasmin auch nach Dessert und zwei zusätzlichen Brötchen nicht, aber ihre Lebensgeister kehrten zurück. Nun erst warf sie ein paar neugierige Blicke auf die Sitznachbarn: Rechts vom Gang drei junge Männer, die offensichtlich als Fernsehteam unterwegs waren und bereits Pläne machten, wo sie überall drehen wollten. Links von ihr saß ein Mittvierziger, der nach der Mahlzeit die Ohrstöpsel seines MP3-Players in die Ohren stopfte und die Augen schloss. Leise hörte Jasmin klassische Musik herüber klingen, ein nicht so bekanntes Stück, aber sie hatte mit der Geige im Orchester Scriabins 1. Sinfonie gespielt und erkannte die fetzigen Melodien sofort wieder, allerdings war es ihr schleierhaft, wie man bei so mitreißenden Klängen schlafen konnte. Sie orientierte sich am nächstgelegenen Monitor, wie lang die voraussichtliche verbliebene Flugzeit war: Noch mehr als 12 h – inklusive Zwischenlandung, aber da sie nicht umsteigen musste, würde sie auf ihrem Platz bleiben. Jasmin versuchte eine bequeme Position einzunehmen, war froh, dass sie immer wieder ihre Beine mal in den Gang strecken konnte. Sie zog ihre Kapuze vom Fleece-Pulli runter bis über die Augen, da sie den Spielfilm an den Monitoren mit Jim Carrey bereits kannte und im Moment nicht in der Stimmung für Klamauk war.

 

Was erwartete sie alle wohl in Haiti? Es war nicht ihr erster Einsatz in einem Katastrophengebiet und sie hoffte, dass es weniger lebensbedrohlich für die Helfer war als bei Einsätzen in Kriegsgebieten. Das menschliche Leid bei einer solchen Naturkatastrophe, bei der Hunderttausende betroffen waren, hatte allein zahlenmäßig andere Dimensionen. Jasmin hatte noch keinen Plan, was sie genau auf Haiti tun wollte. Ob sie sich in Port-au-Prince beim von „Ärzte ohne Grenzen“ betriebenen Krankenhaus melden sollte und dort als Fachanästhesistin Narkosen bei den Operationen leiten würde? Intensivmedizinische Betreuung ergänzen würde und sich einem bestehenden Team anschließen sollte? Oder ob sie mit einem Notfallrucksack mit Bergungstruppen in der zerstörten Stadt Erstversorgung von Überlebenden auf Trümmern und auf der Straße leisten sollte? Es gab unzählige Möglichkeiten! Jasmin arbeitete gerne selbstverantwortlich und erwog auch, irgendwie weiter nach Südwesten in die Orte, die dichter am Epizentrum lagen, zu trampen, um dort zu helfen, wo organisierte Hilfe wahrscheinlich noch tagelang nicht ankam. Sie würde spontan entscheiden nach den lokalen Gegebenheiten. Jasmin holte die dünne Decke hervor, die in einer Plastikhülle eingeschweißt unter dem Sitz lag, und wickelte sich ein. Sie atmete bewusst tief ein und aus und dämmerte bald ein, blendete das Gerenne im Gang aus und setzte sich erst wieder auf, als sie nach mehreren Stunden zur Zwischenlandung ansetzten. Wechsel zwischen Schlafzeiten und Wachphasen mit Essen und einigen Szenen aus anderen Filmen, die an Bord gezeigt wurden, verkürzten die Flugzeit. Trotz prophylaktischer Heparin-Spritze zur Blutverdünnung sorgte sich die Anästhesistin wegen einer möglichen Beinvenenthrombose oder Lungenembolie. Die vielfältigen Gesundheitsrisiken bei solchen Flugreisen wurden allgemein unterschätzt. Als sie ihren Strahlenschutzkurs für die Intensivstation absolvierte, hatten sie mit dem Dozenten die Strahlendosen für verschiedene Flugdistanzen berechnet. Es war erschütternd, welche Strahlendosis man auf einem Langstreckenflug ab bekam! Da zeterten besorgte Patienten bei jedem Röntgenbild, das wäre krebserregend, setzten sich aber ahnungslos Strahlung auf ihrer Urlaubsreise aus! Der Flieger war nach dem ca. einstündigen Aufenthalt noch immer voll besetzt. Es fiel Jasmin auch kein Passagierwechsel auf. Das Mittagessen war leider wie so oft nur noch lauwarm, so ließ sie die Hälfte stehen und schlief erneut, bis 3 h später ein Snack gereicht wurde. Sie nahm sich mehrere der abgepackten Kuchenstücke – wer wusste schon, wann sie wieder etwas zu essen bekämen – steckte eine Dose Cola in die Vordertasche ihrer Jacke und trank viel Wasser, um sich auf den zu erwartenden Flüssigkeitsverlust vorzubereiten. Sie hatte Vorstellungen von hübschen farbigen Frauen mit Blumenkränzen, die die Touristen mit „Aloha“ begrüßten. Oder war das in Hawaii? Gestern hatte die Ärztin rasch eine halbe Stunde im Web Informationen zu Haiti gegoogelt: Haiti, eine mittelamerikanische Republik, die das westliche Drittel der bereits von Kolumbus 1492 entdeckten Antilleninsel Hispanola bedeckte, während die anderen zwei Drittel zur Dominikanischen Republik gehörten. Knapp 100 km bis Kuba, ca. 180 km nach Jamaika, ungefähr 7700 km entfernt von Frankfurt. Beliebter Stopp bei Karibik-Kreuzfahrten. Ende des 17. Jahrhunderts unter französische Herrschaft gekommen, rund 100 Jahre später unabhängig, mal vereint, mal getrennt mit dem spanischen Teil der Insel, 1915-34 unter dem Protektorat der USA, seit 1964 als Republik Haiti selbständig … Viel mehr als die geschichtlichen Daten hatte sie sich für das Leben auf Haiti interessiert. Da angeblich drei Viertel der Haitianer von der Landwirtschaft lebten, war zu hoffen, dass das Land sich rasch wieder selbst versorgen konnte. Bei einer Analphabeten- und Arbeitslosenquote von rund 50% lebten ein bis zwei Drittel der haitianischen Bevölkerung schon vor dem Erdbeben am Existenzminimum. Unterernährung, AIDS und Seuchen rafften viele Menschen hinweg. Junge, ausgebildete Haitianer verließen die Insel zu Hunderttausenden. Ohne deren Geldsendungen an die Familien und den Tourismus wäre Haiti finanziell ruiniert, wo sollte da eigenes Geld für den Wiederaufbau herkommen? Der Export von Textilien als weitere Wirtschaftsstütze würde wahrscheinlich auch einige Zeit brauchen, bis die Produktion wieder lief.

Durch das Fenster erhaschte sie einen Blick auf das weite Meer, das in der untergehenden Sonne wie eine glitzernde Folie da lag. Trotz so vieler Flüge bereitete das Fliegen über dem Wasser ihr noch immer leichtes Unbehagen, wider alle Ratio, denn bei einem Absturz hatte man bei Wasser vielleicht eher eine Chance, eine Notlandung zu überleben als irgendwo im Gebirge, trotzdem gab es ihr ein Gefühl der Sicherheit, wenn sie über Land flogen.

„Harald Wehnert, Journalist für GEO“, sprach sie der linke Sitznachbar an. „Für wen werden Sie auf Haiti tätig werden?“ Jasmin antwortete allgemein: „Ich bin Ärztin.“ „Mit welcher Organisation arbeiten Sie zusammen?“ Jasmin fand diese Fragerei lästig. „Ich bin allein unterwegs.“ Harald Wehnert musterte sie überrascht. „Waren Sie schon mal auf Haiti? Kennen Sie sich dort aus?“ „Nein.“ „Wo werden Sie arbeiten?“ „ Das weiß ich noch nicht.“ Pause. Jasmin drehte den Kopf nach rechts, um das unangenehme Gespräch zu beenden. Laut Anzeige noch gut 2 h Flug, also beschloss sie noch etwas zu dösen, fing Gesprächsfetzen um sich auf: Die anderen hatten Aufträge zu erfüllen; Sie selbst wusste nicht einmal, wo sie die erste Nacht verbringen sollte.

Suchtrupp

Ein Rettungsteam bestehend aus vier Männern und zwei Hunden begann am späteren Vormittag des 14.1.2010 mit der Suche von Verschütteten in den Trümmern der Stadt Léogâne. Die Retter trugen weite, dunkelblaue Overalls ohne Abzeichen, schwarze, unifarbene Baseball-Mützen und schwere, schwarze Militärstiefel. Die Gesichter der Männer verschwanden größtenteils hinter einfachen Gesichtsmasken aus Papier, die mit zwei Gummischlaufen um die Ohren befestigt waren. Alle trugen große, orangefarbene Rucksäcke auf dem Rücken, die ihnen den Nimbus von Rettern verliehen und ihnen ohne Widerspruch Zugang zu den eingestürzten Gebäuden verschafften. Zwei von ihnen wurden von offensichtlich ausgebildeten Suchhunden begleitet, einem kleinen weißen Terrier mit einigen orange-braunen Fellflecken und einem schwarz-weißen Border Collie mit einem weißen Kopf und schwarzen Ringen um die Augen sowie einem schwarzen Ohr, wodurch er lustig aussah und an einen Pierrot erinnerte. Ein Hundeführer rechts, einer links schickten sie die Rettungshunde auf die Trümmerberge, trieben sie immer wieder an. Der Größere der beiden rief dem noch weniger erfahrenen Terrier-Mix seine Aufforderung:„Such Mensch! Such Mensch!“ zu und zeigte mit ausgestrecktem Arm, wo der Hund suchen sollte, während die Border Collie-Hündin „Wonder“ weitgehend selbständig die zerstörten Gebäude absuchte und sich mit ruhigem Bellen meldete, wenn sie einen menschlichen Körper aufgespürt hatte. Die Männer des ausländischen Rettungsteams blieben in der Regel am Fuße der Stein-Holz-Haufen, suchten nach Hohlräumen, leuchteten mit großen Taschenlampen in Zwischenräume. Selbst für die Hunde war die Arbeit auf den unebenen Trümmern mühsam. Sie waren gut ausgebildet und achteten darauf, nicht auf loses Geröll oder wippende Holzplanken zu treten, aber für die Pfoten der Tiere waren spitze Steine, Scherben und Metallstücke gefährlich. Eine kleine Verletzung am Fußballen oder in den weicheren Teilen zwischen den Zehen würde den Ausfall des Suchhundes bedeuten. Wonder war bereits 8 Jahre alt und hatte schon verschiedenste Einsätze nach Lawinen oder Erdrutschen hinter sich. Sie suchte systematischer und mit ihrer trainierten Nase viel schneller als die fünfjährige „Trixie“, die erst ihren zweiten Ernstfall erlebte und durch die vielen Menschen, die auch in den Trümmern rumkletterten, den Lärm und die unterschiedlichen Gerüche sich leichter ablenken ließ. Ihr Herrchen blieb in ihrer Nähe, rief sie zu sich, um ihr nochmals ein Suchgebiet zuzuweisen, das sie vergessen zu haben schien, lobte sie mit Worten und Klopfen der Flanken. Der Hundeführer selbst war schon knapp 50 Jahre alt, dies war bereits sein dritter Suchhund, so glich seine Ruhe und Erfahrung die Schwächen der jungen Hündin z.T. aus. Er hatte einen guten Blick dafür, wo sich in den übereinander liegenden Stein-Metall-Holz-Bergen Hohlräume befinden konnten, wo Menschen eine kleine Überlebenschance hatten.

Wonder hatte bereits drei Verschüttete gefunden: Einen ca. fünfjährigen Knaben, der kaum verletzt von den Einheimischen ausgegraben werden konnte, und eine junge Mutter mit einem ungefähr zweijährigen Kind, das nur noch tot geborgen werden konnte. Die junge Frau ließ regungslos die Untersuchung von einem der blau Gekleideten über sich ergehen. Sie schien keine Frakturen aufzuweisen, aber der Schock des Verschüttetseins und/oder über den Tod ihres Kindes hatte sie in einen nahezu katatonen Zustand versetzt. Sie bräuchte psychische Hilfe, aber dazu war jetzt keine Zeit, wenn man noch ein paar Überlebende aus den Trümmern retten wollte. Wonder suchte eifrig Gebäude um Gebäude, Trümmerberg um Trümmerberg, Straße für Straße ab. Ein so riesiges Gebiet konnte man eigentlich nicht mit zwei Hunden absuchen, schon gar nicht gründlich wie im Kurs vermittelt, aber die Border Collie-Hündin suchte Schächte und Zwischenräume, schnüffelte nach menschlichem Geruch und gab Laut, wenn sie was roch. Sie fing weder an zu graben, noch versuchte sie sich in Hohlräume zu zwängen. Wonder hatte ihre Aufgabe perfekt begriffen und überließ den Helfern die Buddelarbeit, während sie schon weiter suchte. Die deutschen Männer ohne Hunde begutachteten die Geretteten kurz, dann suchten sie zügig weiter um die Schuttberge herum nach Anzeichen für Verschüttete. Die Zeit drängte, da die Opfer inzwischen seit ca. 40 h irgendwo abgeschottet von Essen und Trinken oder gar verletzt eingeklemmt harrten. 2-3 Tage ohne Flüssigkeit waren in der Regel die Grenze, wie lange Menschen ohne Nahrungsaufnahme überlebten. In 1-2 Tagen war nicht mehr damit zu rechnen, Opfer lebend zu bergen. Die Bewohner, die überlebt hatten, konnte man in zwei Gruppen unterteilen: Die, die noch unter Schock standen und apathisch zwischen ihren kaputten Hütten und Häusern auf dem Boden hockten, und die, die wild entschlossen waren, nach vermissten Angehörigen, Freunden und Nachbarn zu suchen und beim Rumklettern in den ungesicherten Ruinen ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten. Die Mauerreste eingestürzter Gebäude konnten durch Erschütterungen nachgeben, Steine ins Rutschen kommen und nur zum Teil eingebrochene Dächer zusammenfallen. Die Helfer riskierten nicht nur ihr Leben, sondern auch das anderer Helfer und eventuell Verschütteter, die durch weitere Gerölllawinen erdrückt würden. Mit Metallstangen klopfte man rhythmisch gegen vibrierende Teile und lauschte auf Antwort. In den ersten 24 h nach dem Erdbeben hatte man noch viele, oft nur zum Teil mit Trümmern bedeckte Bewohner gerettet, aber die Quote der Lebendrettungen sank immer weiter. Plötzlich hörte man aufgeregtes Gekläff. Fremde und einheimische Helfer eilten zu einem hohen Steinhaufen vor einem ehemals dreistöckigen Gebäude. Der Terrier stand Schwanz wedelnd im hinteren Bereich in ca. zwei Drittel Höhe des Trümmerberges und bellte noch immer freudig. Sein Herrchen suchte sich noch einen sicheren Weg zur Fundstelle, als bereits einige junge Männer quer über die Steine kraxelten und begannen, die oben liegenden Hindernisse nach hinten zu werfen. „Trixie, komm!“, rief der Rettungshundeführer von der rechten Seite. „Arrêtez! Danger! Non!“, versuchte er, die Haitianer zu bremsen, die keinen Blick für die Statik der Ruine aufwandten. Man hörte gedämpftes Schreien und wollte rasch helfen, dabei vernachlässigten die Laienhelfer die Eigensicherung, die professionellen Rettern mühsam antrainiert wird. „Non! Laissez! Attention les murs!“, warnte die ausländische Stimme. Vergeblich! Trixies Besitzer schnappte seine Hündin und trug sie eilends auf den Armen nach rechts zur Seite, tätschelte sie lobend und sah verzweifelt zu, wie die Einheimischen einen seitlichen Zugang in den Haufen freizulegen versuchten. Statt vorsichtig Stein für Stein zu entfernen und überlegt irgendwo abzulegen, wurden die Trümmer wahllos hinter den Schuttberg geworfen, da vorne an der Straße immer mehr Menschen sich versammelten und der Bergungsaktion zusahen. Fassungslos musste Trixies Herrchen mit ansehen, wie die Erschütterungen oder ein unglücklich geflogener Steinbrocken die hintere restliche Wand zum Einsturz brachten und wie beim Dominoeffekt innerhalb von Sekunden die rechte Stützmauer nach außen kippte, wodurch mit einem lauten Schlag die erhalten gebliebenen Decken- und Dachreste herunter krachten und die Helfer unter sich begruben. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Staubwolke die Sicht auf den nun fast doppelt so hohen Trümmerberg wieder freigab. Entsetzen bei den Umstehenden. Keiner glaubte, dass irgendjemand diesen Einsturz überlebt hatte, trotzdem begannen einzelne, die Trümmer zu erklimmen, suchten nach den Körpern der Verunglückten. Trixie versuchte aus den Armen des Besitzers frei zu kommen. Sie sah es offensichtlich als ihre Aufgabe an, mit zu suchen. Am liebsten hätte der Hundeführer sie nur an sich gedrückt, froh, dass sie beide dem Einsturz entgangen waren, doch die Hündin entwand sich dem Griff und machte sich eifrig an ihre Arbeit. Wahrscheinlich hätte sie auf einen scharfen Befehl gehorcht und wäre zurück gekommen, aber der Hundeführer riss sich zusammen. Das Gebäude war zerstört, von da drohte keine Gefahr mehr und vielleicht half Trixie bei dem Auffinden der unglücklichen Retter. Vorsichtig stieg er selbst von vorne, wo das Geröll größtenteils schon tagelang gelegen hatte und hoffentlich stabiler war, ein Stück die Schutthalde hinauf. Er war noch nicht weit gekommen, als das Gebell seines Hundes einen Fund meldete. Sobald die einheimischen Helfer begannen, den Verschütteten frei zu legen, schickte der Rettungshundeführer seine Terrier-Hündin wieder auf die Suche. Von den rund zwölf unter dem zweiten Einsturz Begrabenen spürte Trixie fünf auf, die von anderen Helfern zur Straße hinab transportiert wurden, wo inzwischen ein zweiter Helfer im Blaumann die leblosen Körper untersuchte. Ein Mann war schwerverletzt, aber das Herz schlug noch, obwohl er wahrscheinlich nicht nur zahlreiche Knochenbrüche, sondern auch innere Blutungen hatte. Er hatte kaum eine Überlebenschance, trotzdem bauten der Untersuchende und Trixies Hundeführer eine leichte Trage aus dem Gestänge an ihren Rucksäcken zusammen und trugen den Verletzten weg. Die Bewohner von Léogâne suchten noch bis zum Einbruch der Dunkelheit nach den Leichen, aber ohne schweres Gerät blieben sowohl die rufende Person, die mittags gerettet werden sollte, wie auch mindestens fünf der Hilfe leisten Wollenden unter der tonnenschweren Last begraben.

 

Wonder hatte insgesamt elfmal angeschlagen, eine Superleistung, denn es ist für die Hunde Schwerstarbeit, physisch und psychisch unter diesen Umständen so viele Stunden zu arbeiten. Jede Stunde bekam Wonder aus einer Trinkflasche frisches Wasser und eine Handvoll spezielles Trockenfutter mit raschen Energielieferanten. Vier Tote wurden bei der Suche aufgestöbert, aber die sieben Überlebenden, zum Teil in einem erfreulich guten Zustand, waren die eigentlichen Siege für den Besitzer des Border Collies. Der andere Kollege im Overall war Arzt und untersuchte die Gefundenen, gab Anweisungen und trug einige der Verwundeten mit rekrutierten Einheimischen zum Stadtrand, wo ein großer ehemaliger Militärhubschrauber auf das Suchteam wartete. Vier Schwerverletzte wurden so gut es ging versorgt, dann im Helikopter abtransportiert mit zwei der blau gekleideten Retter zur medizinischen Betreuung. Die beiden Hundeführer suchten sich in der Nähe des Landeplatzes ein Nachtlager im Freien, wo sie in Schlafsäcken neben ihre treuen Begleiter ausgestreckt schliefen und darauf warteten, am nächsten Morgen zu einem weiteren Einsatz in einem anderen Ort vom Hubschrauber abgeholt zu werden.