Buch lesen: «Belon-Austern»
Jean-Pierre Kermanchec
Belon-Austern
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Epilog
Andere Kriminalromane des Autors:
Impressum neobooks
Kapitel 1
Die Sonne brannte den ganzen Tag, und Guy de Moros war froh, dass er diesen herrlichen Platz in seinem Garten zum Schreiben hatte. Unter der riesigen Kastanie hatte er sich schon vor vielen Jahren eine Sitzecke eingerichtet, mit einem herrlichen Blick über die Bucht, der Anse de Benodet. Hier unter diesem Baum waren schon zahlreiche seiner Kriminalromane entstanden, die in Frankreich reißenden Absatz fanden. Es war keine hochwertige Literatur die er zu Papier brachte, vielmehr war es leichte Unterhaltung für eine längere Zug- oder Flugreise. So war es nicht verwunderlich, dass sich seine Romane auch in den Zeitschriftenläden der Bahnhöfe oder Flughäfen fanden.
Für Guy de Moros spielte es keine Rolle, ob er sein Geld durch hochwertige Literatur oder durch leicht verdauliche Kriminalromane verdiente. Ihm kam es mehr darauf an, dass seine Geschichten authentisch waren und die Alltäglichkeiten seiner Bretagne wiederspiegelten.
Jedenfalls verkauften sich seine Bücher so gut, dass er davon ein komfortables Leben führen konnte.
Seine Frau, Marie-Julie, hätte es nicht nötig gehabt, Geld zu verdienen, aber sie war vor über zwanzig Jahren nicht davon abzubringen gewesen, ihre eigene Boutique in Quimper zu eröffnen. Er hatte ihr das Haus gegenüber den Hallen gekauft, und Marie-Julie richtete dort eine Boutique ein, die ihrem Namen, Plus Value, alle Ehre machte.
Nur die besten Marken wurden dort angeboten, und die Boutique sprach ganz schnell eine große Klientel an. Die Damen der besseren Gesellschaft kamen regelmäßig im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter, um die entsprechende Garderobe für Hochzeiten und andere Feierlichkeiten zu erstehen. Schon nach wenigen Monaten konnte sie zwei weitere Verkäuferinnen einstellen.
In Loctudy war Guy de Moros inzwischen eine bekannte Person, und wenn er durch die Straßen des Ortes ging, wurde er ständig gegrüßt.
Gegenüber seinem Haus lag Île-Tudy, eine Ortschaft von etwa 700 Einwohnern, an der Spitze einer kleinen Halbinsel. Der Tourismus hatte den Ort schon lange entdeckt, und so war er im Sommer regelrecht übervölkert.
Guy de Moros wäre unter normalen Umständen nie in den Sinn gekommen, seinen ruhigen schattigen Platz in seinem Garten mit dem Trubel von Île-Tudy einzutauschen, wenn, ja, wenn da nicht Marcel Daumas gewesen wäre.
Sein alter Schulfreund betrieb ein kleines Café an der Uferpromenade, mit Blick auf die Bucht Pouldon. Marcel war ein begnadeter Koch, der aber nie Anstalten gemacht hatte, sich mit dem Streben nach Sternen das Leben zu erschweren. Stattdessen kochte er was ihm in den Sinn kam und wie es ihm in den Sinn kam, ohne 1000 Verzierungen auf dem Teller.
Er servierte ausreichend, um jedermanns Hunger zu stillen. Für Guy de Moros waren die Austern das Beste, was sein Freund im Stande war anzubieten. So kam er nicht umhin, mindestens einmal die Woche nach Île-Tudy hinüberzufahren.
Auch wenn das Restaurant in Sichtweite seines Gartens lag, musste er doch in Kauf nehmen, die 17 Kilometer rund um die Bucht zurückzulegen.
Er brauchte mit dem Auto eine knappe halbe Stunde für die Strecke. Mit seiner Yacht, die an dem eigenen Steg vor seinem Garten lag, war die Strecke in drei Minuten zurückgelegt, aber nur bei Hochwasser.
Manchmal fuhr er auch mit der Yacht hinüber, aber nur, wenn die Flut recht spät am Nachmittag ihren Höchststand erreichte, so dass er nach dem Essen wieder zurückkommen konnte.
Er brauchte sich keinen Tisch zu reservieren, sein Freund hatte die Anweisung, an jedem Samstag einen Tisch für ihn bereitzuhalten.
Marie-Julie war den ganzen Tag über in Quimper und kam in der Regel erst gegen 20 Uhr nach Hause. Seine Tochter Martine war stundenweise in der Boutique tätig, wenn sie nicht in ihrem eigenen Laden weilte, und so war er zumeist alleine.
Seine 66 Jahre sah man ihm nicht an. Regelmäßig wurde er auf Mitte 50 geschätzt. Guy war immer sehr sportlich gewesen und hatte einen durchtrainierten Körper. Wenn er mit nackter Brust durch seinen Garten ging, konnte er so manchem Jüngeren die Schau stehlen.
Es war Samstag, und sein Tisch wartete bereits auf ihn bei Marcel Daumas. Guy verließ seinen schattigen Schreibplatz und ging ins Haus, zog sich ein T-Shirt über, nahm seinen Autoschlüssel und fuhr mit seinem Mercedes SLK nach Île-Tudy.
Die Fahrt über die Rue du Générale de Gaulle führte ihn direkt nach Pont-l´Abbé. Er folgte der Rue Victor Hugo und dann der Rue de Quimper bis zu dem Kreisverkehr vor der D785. Dort nahm er die erste Abfahrt in die Rue de Combrit und bog dann, am Ende der Straße, in die Route de l‘Île-Tudy ein. Als er bei Marcel Daumas ankam, stellte er seinen Wagen hinter dem Lokal auf dem kleinen Privatparkplatz seines Freundes ab, direkt vor dessen Auto. So war ihm immer ein Parkplatz sicher.
Île-Tudy war im Sommer ein einziger voller Parkplatz, und eine Lücke war ein echter Gewinn.
Guy kam um die Ecke und sah Marcel bereits an seinem Tisch stehen, mit dem Pastis in der Hand.
„Du hast mich wohl gesehen?“, fragte Guy und trat an den Tisch.
„Na klar, ich achte doch auf meinen Stammgast. Zum Wohl, Guy!“ Marcel reichte ihm seinen Pastis. Guy setzte sich und nahm einen Schluck. Die Sonne stand hoch, und Guy trug seinen Panamahut. Die Krempe tiefer ins Gesicht gezogen, blickte er über die Bucht Pouldon auf die kleine Insel, Île aux Rats.
„Verzeihen Sie, Monsieur, aber dürfte ich mich zu Ihnen setzten, leider sind alle anderen Tische schon belegt.“
Guy de Moros wurde regelrecht aus seinen Gedanken gerissen. Er schob seinen Hut nach hinten und blickte in das Gesicht einer sehr hübschen jungen Frau. Er schätzte ihr Alter höchstens auf Ende 20.
„Aber bitte, Mademoiselle, ich fühle mich geschmeichelt.“
„Haben Sie vielen Dank. Ich versuche schon seit einer halben Stunde, einen Platz in einem Restaurant zu finden, um eine Kleinigkeit zu essen. Aber alle Tische scheinen auf Île-Tudy, bereits besetzt zu sein.“
„Mein Tisch ist immer frei, der Chef ist mein Freund.“
In diesem Augenblick trat Marcel Daumas an den Tisch. In der Hand hielt er eine Platte Austern.
„Voilà, deine Belon Austern, mein lieber Guy! Lass sie dir schmecken. Was kann ich deiner netten Begleitung Gutes tun?“ Marcel wusste nur zu gut, dass Guy immer alleine am Tisch saß und keine Begleitung mitbrachte.
„Entschuldigen Sie, aber ich bin nicht in Begleitung des charmanten Herrn. Wenn Sie mir bitte die Speisekarte bringen würden und eine Flasche Evian.“
„Darf es auch ein Plancoët sein, Mademoiselle? Ich führe nur bretonisches Mineralwasser.“
„Aber natürlich, ein Plancoët ist auch gut.“ Nachdem Marcel gegangen war wandte sich die junge Frau an Guy.
„Verzeihen Sie, falls ich Sie in Verlegenheit gebracht haben sollte. Mein Name ist Claudine Lebrun, ich komme aus Rennes und verbringe einige Urlaubstage in dem Domaine du Dourdy, in Loctudy und wollte heute den kleinen Ort besuchen, den ich von meinem Hotelzimmer aus sehen kann. Ich wusste nicht, dass Île-Tudy so überlaufen ist!“
„Es ist die Hölle im Sommer, wenigstens für mich. Aber nur hier bekomme ich die besten Austern der Bretagne serviert. Die Belon Austern von Daumas ziehe ich allen anderen vor.
Ich heiße übrigens Guy de Moros und wohne ebenfalls in Loctudy in meinem Haus. Schauen Sie“, Guy zeigte auf ein Anwesen genau gegenüber von Île-Tudy, „dort können Sie mein Haus sehen.“
„Oh, Sie wohnen aber sehr schön. Sie sind nicht zufällig der Schriftsteller de Moros?“
„Nun, wenn Sie den Krimi-Autor meinen, dann bin ich das wohl.“ Guy fühlte sich geschmeichelt, dass eine so junge Frau seine Bücher kannte.
„Ich liebe Sie, Verzeihung, ich meine natürlich, ich liebe Ihre Bücher. Ich kenne alle ihre Romane. Ihre Bücher sind so einfühlsam und so authentisch. Man hat das Gefühl immer mit dabei zu sein, wenn Sie einen neuen Fall beschreiben. Sie werden es mir jetzt bestimmt nicht abnehmen, aber ihre Bücher haben mich dazu gebracht, nach Loctudy zu fahren und hier meinen Urlaub zu verbringen. Ich wollte die Gegend kennenlernen, in der all ihre Fälle spielen. Deshalb wohne ich auch in dem Hotel Domaine du Dourdy. Ihr vorletzter Roman spielte in dem Haus.“
„Ich kann mich gut erinnern. Ich habe einige Tage in dem Haus meines Freundes Alain Dourdy zugebracht, um alle Einzelheiten zu studieren und mir anzusehen, wie die Arbeit in einem solchen Etablissement abläuft. Alain hatte mich noch gebeten, das Haus auf keinen Fall schlecht aussehen zu lassen. Was ich auch nicht tat, da es das nicht verdient hätte. Die drei Morde, die dann dort begangen worden sind, konnten ja erfolgreich aufgeklärt werden.“
„Aber alle Fälle werden doch aufgeklärt, wenn ich ihre Romane gut in Erinnerung habe.“ Claudine Lebrun sah Guy fragend an.
„Die Speisekarte, meine Dame“, unterbrach Marcel das Gespräch der beiden. „Wenn Sie noch etwas essen möchten, dann sollten Sie mir möglichst rasch sagen was Sie wünschen, die Küche schließt in einer halben Stunde.“
Claudine Lebrun nickte und sah auf die Karte.
„Wenn ich Ihnen etwas empfehlen darf, dann sollten Sie entweder die Austern probieren oder aber seinen Saumon im Lambig-Dampf.“ Guy de Moros sah Claudine an.
„Dann nehme ich den Saumon!“, sagte sie zu Marcel.
„Sehr wohl, einen Saumon für die Dame.“ Damit verließ Marcel den Tisch und ging in seine Küche.
Sein Kellner war ernsthaft erkrankt, und Marcel musste alleine für die Küche und den Service aufkommen. Sein Restaurant hatte nur wenige Tische, und so war es durchaus möglich, einmal ein oder zwei Tage alleine zu arbeiten. In der Küche lehnte er jede Unterstützung ab.
„Wenn der Gast für meine Küche zu mir kommt, dann soll er auch bekommen, was ich zubereitet habe und nicht das, was mein Koch fabriziert hat.“ So pflegte er immer zu sagen, wenn er gefragt wurde, ob er nicht einen zweiten Koch einstellen wollte.
Marcel Daumas war, in gewisser Hinsicht, ein Unikum. Er lebte in aller Bescheidenheit, obwohl er ein Vermögen verdienen könnte, wenn er im Sommer auf seiner Terrasse, anstelle der vier Tische, vielleicht zwanzig aufstellen würde. Der Platz war vorhanden und die Nachfrage auch. Sein Restaurant war immer ausgebucht, Sommer wie Winter. Auch hätte er ohne Schwierigkeiten einen Anbau an sein Restaurant realisieren können. Das Tischangebot wäre von acht auf dreißig zu steigern gewesen. Als er diesen Vorschlag hörte winkte er nur ab.
„Mehr als Essen und Trinken und mit meinen Freunden Boule spielen will ich nicht, wofür soll ich dann soviel Geld verdienen? Mir reicht es, wenn ich so viel verdiene, dass ich für das Alter etwas zur Seite legen kann.“
Die Küche war mittags von 12 bis 14 Uhr geöffnet und am Abend von 19 bis 22 Uhr. Marcel machte keine Ausnahmen. Kam ein Gast auch nur eine Minute später, dann vertröstete er ihn auf den nächsten Tag. Wer übergewichtig war kriegte auch noch zu hören, dass es ihm bestimmt nicht schaden würde, einen Tag zu fasten. Dennoch war sein Lokal immer gefüllt. Auch so Abgewiesene ließen sich davon nicht beeinflussen und kamen am nächsten Tag etwas pünktlicher. Einen Tisch zu reservieren, war schon fast ein must, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, umsonst gekommen zu sein.
„Was machen Sie denn so den ganzen Tag in ihrem Hotel?“ Guy de Moros sah Claudine gespannt an.
“Nun, ich lese, mache Strandspaziergänge, sehe mir die kleinen Geschäfte an, was man halt so macht, wenn man sich erholen möchte.“
„Das könnte ich nicht, ich müsste immer etwas zu tun haben. Schreiben, Angeln, Schwimmen oder aufs Meer hinausfahren. Aber nur Geschäfte zu besuchen oder zu lesen, das wäre für mich nichts.“
„Nun, aufs Meer hinausfahren kann ich nicht, ich besitze kein Boot. So fällt das schon einmal flach.“
„Voilà Madame, mein Filet de Saumon, in Lambig-Dampf gegart. Dazu neue Kartoffeln in der Schale und einen gemischten Salat. Lassen Sie es sich schmecken. Und du Guy, noch einen Nachtisch, die paar Austern können einen Mann wie dich doch nicht sättigen?“
„Marcel, du solltest wissen, dass ich bei einem Nachtisch nicht nein sagen kann. Bring mir dein Tagesdessert und gleich noch einen Espresso dazu.“
Marcel ging wieder in seine Küche, und Guy schien die Gesellschaft von Claudine sehr zu schätzen. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass er diese Frau näher kennenlernen wollte. Er sah auf seine Uhr und stellte fest, dass es langsam Zeit wurde, nach Hause zu fahren. Marie-Julie würde bereits in wenigen Minuten eintreffen.
„Hätten Sie Lust, mit mir aufs Meer zu fahren, sagen wir übermorgen Vormittag?“ Guy sah Claudine an und erhoffte sich eine positive Antwort.
„Wenn ich Ihnen keine Unannehmlichkeiten mache, dann sehr gerne. Ich liebe das Wasser.“
„Dann nehmen Sie sich ihren Badeanzug mit, und seien Sie um neun Uhr vor dem Hotel. Ich hole Sie ab.“
Guy war hocherfreut, den Montag mit dieser Frau zu verbringen. Marie-Julie würde ja doch wieder in die Boutique fahren, wie an jedem Werktag, und er könnte mit Claudine einen schönen Vormittag verbringen.
Marcel brachte ihm das Dessert und den Espresso. Nachdem er fertig war, stand er auf und verabschiedete sich von seiner unerwarteten Bekanntschaft. Die Rechnung brauchte er nicht zu begleichen, das machte er einmal im Monat.
„Bis übermorgen dann, und seien Sie pünktlich!“ Damit verabschiedete sich Guy von Claudine, winkte Marcel kurz zu, als dieser aus dem Lokal kam, und fuhr vergnügt zurück nach Loctudy.
Marie-Julie hatte, wie jeden Tag, in der Boutique gearbeitet und war etwas früher als gewöhnlich nach Hause gefahren. Als sie in Loctudy eintraf und das Haus leer fand, ging sie in den Garten, zum Arbeitsplatz ihres Mannes unter der großen Kastanie. Aber auch da konnte sie ihn nicht finden. Sie trat an seinen Arbeitstisch und sah dort sein Fernglas liegen.
Sie war es gewohnt, hinter ihm herzuräumen. Ständig ließ er seine Sachen liegen. Marie-Julie nahm das Fernglas und wollte gerade damit ins Haus gehen, als ihr einfiel, dass es ja Samstag war, und dass Guy dann bei Marcel seine Austern zu essen pflegte.
Sie nahm das Fernglas vom Tisch und sah über die Bucht hinweg auf die Terrasse von Marcel. Marie-Julie entdeckte ihren Mann sofort, aber an seinem Tisch saß noch eine hübsche junge Frau. Seltsam, dachte sie sich, er ist doch sonst alleine am Tisch. Nur hin und wieder setzte sich Marcel zu ihm, und sie plauderten über ihre Jugendzeit.
Marie-Julie betrachtete die Frau genau und versuchte, sich ihr Gesicht einzuprägen. Sie hatte diese Frau noch nie gesehen, da war sie sich sicher. Weder in Loctudy, noch in der Boutique in Quimper. Sie beließ es dabei und ging ins Haus. Es dauerte über eine Stunde, bis Guy nach Hause kam und Marie-Julie mit einem Kuss begrüßte.
„Wie war dein Tag?“, fragte er sie und lächelte sie an.
„Viviane hat uns ihr libanesisches Dessert mitgebracht und eine Flasche Cidre. Sie hat heute Geburtstag, und den haben wir ein wenig gefeiert. Ansonsten hat es keine Besonderheiten gegeben. Und was hast du gemacht?“
„Ich habe an meinem neuen Roman gearbeitet, fast den ganzen Tag. Ich bin auch sehr gut vorangekommen, so dass ich morgen und übermorgen eine kleine Pause einlege und vielleicht am Montag zum Fischen fahre. Dann bin ich bei Marcel gewesen und habe meine Austern gegessen.“
„Hast du dich mit jemanden getroffen?“, fragte Marie-Julie.
Guy war etwas erstaunt über die Frage, antwortete aber sofort:
„Nein, wie kommst du darauf? Ich habe wie immer allein bei Marcel gegessen und bin nach dem Essen nach Hause gekommen. Ich habe mich nicht einmal mit ihm unterhalten können. Sein Kellner ist erkrankt und er hat alle Hände voll zu tun gehabt.“
„Ich habe nur gedacht, weil du etwas später als sonst nach Hause gekommen bist. Ich mache mir jetzt schnell etwas zu essen, dann können wir noch ein Glas Rosé im Garten trinken.“
„Gute Idee!“, meinte Guy und ging schon in den Garten und befreite die Gartenstühle von dem Staub der Kastanienblüten.
Nachdem er sich in seinen Stuhl gesetzt hatte kam ihm diese Frau wieder in den Sinn. Er wusste nicht was ihm an ihr gefiel, aber er fühlte sich sehr stark zu ihr hingezogen. Marie-Julie durfte nichts davon erfahren, er wollte ihr auf keinen Fall wehtun. Aber diese Frau einfach vergessen, das konnte er auch nicht.
Als sein Handy klingelte sah er, dass es Martine war, und er nahm das Gespräch an.
„Guten Abend, mein Kind, wie geht es dir? Mama macht sich gerade etwas zu essen, und ich sitze bereits im Garten. Wir wollen noch ein Glas trinken. Das Wetter ist so ausgesprochen schön.“
„Hast du übermorgen Zeit für mich? Ich brauche deine Hilfe, ich muss einen kleinen Schrank zusammenbauen.“
„Klar kann ich dir helfen, Martine, aber ich kann erst am späteren Nachmittag vorbeikommen. Ich habe übermorgen früh noch einen Termin.“
„Schade, morgens wäre es mir lieber gewesen. Aber dann bis Montagnachmittag.“
Damit war das Gespräch beendet, und Guy legte sein Telefon wieder auf den Tisch.
Marie-Julie war mit einem unguten Gefühl in die Küche gegangen. Warum hatte Guy sie angelogen? Sie hatte doch die junge Frau gesehen.
Als Marie-Julie in den Garten kam fragte sie ihn, mit wem er telefoniert hatte. Als er den Namen ihrer Tochter nannte fiel ihr ein, dass sie unbedingt noch mit Martine sprechen musste. Sie brauchte noch etwas für die Boutique, und Martine könnte ihr es übermorgen mitbringen.
Martine half ihrer Mutter in der Boutique, wenn sie Zeit hatte. Sie betrieb ein eigenes kleines Unternehmen in der Umgebung von Quimper, in dem sie Dekorationsartikel für die Auslagen der Geschäfte herstellte. Das Geschäft lief ganz gut, und sie beschäftigte vier Frauen, die ihr bei der Arbeit halfen. So war es selbstverständlich, dass Martine die Schaufenster der Boutique Plus Value regelmäßig neu dekorierte.
Marie-Julie setzte sich zu ihrem Mann, und er füllte die Gläser mit gut gekühltem Rosé.
Für einen kurzen Augenblick dachte sie noch an die Frau, die ihr am Tisch von Guy aufgefallen war und an seine Aussage, dass er alleine am Tisch gesessen hatte. Vielleicht war die Frau ja auch erst an den Tisch gekommen, als Guy sich schon auf den Weg machen wollte. Sie dachte nicht weiter darüber nach.
Marie-Julie nahm das Handy von Guy, das vor ihr auf dem Tisch lag und rief Martine an.
„Du hast ja nichts dagegen, wenn ich kurz dein Handy nehme?“
„Natürlich nicht!“
Marie-Julie wählte die Nummer von Martine und brachte ihr Anliegen vor.
„Kein Problem, ich bringe dir die kleinen Silberkugeln am Montag mit. Eigentlich wollte ich ja Montagmorgen meinen neuen Schrank aufbauen, aber Papa hat erst am Nachmittag Zeit. Er hat noch einen Termin am Vormittag.“
Marie-Julie ging nicht weiter darauf ein, bedankte sich bei Martine und legte auf.
Hatte Guy nicht gesagt, dass er zum Fischen gehen wollte? Das Fischen konnte er ja auch verschieben. Wieso sagte er Martine, dass er einen Termin hatte? Marie-Julie fiel die Frau erneut ein.
Sie nahm ihr Glas Wein in die Hand und wollte nicht weiter darüber nachdenken. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Guy ein Verhältnis mit einer anderen Frau hatte. Sie genossen den Wein und gingen dann zu Bett.