Der Hüter

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Aus der Reihe: Der Hüter #2
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Jasmin Jülicher

Der Hüter

Stadt der Asche

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Hüter – Stadt der Asche

© Jasmin Jülicher Annastraße 87

47638 Straelen Deutschland

Coverillustration: Hannah Böving

Lektorat & Satz + Layout: Ka & Jott, Bernau bei Berlin

Illustrationen: www.pixabay.de www.shutterstock.com www.123rf.com

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages bzw. des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14



Kapitel 1

Benommen stolperte Alexander aus der Luke des Golems, in dem Oliver, Nic und er die letzten zwei Wochen verbracht hatten. Seine Beine sackten unter ihm weg und er landete mit Händen und Knien im schwarzen Sand.

Hinter ihm kletterte Nic aus der Maschine und half Oliver heraus, der mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Hand auf die Schusswunde in seiner Schulter drückte.

Alexander ließ den schwarzen Sand durch seine Finger rieseln. Endlich wieder fester Boden unter den Füßen. Er blickte hinauf. Da war er, der Himmel. Blau, mit winzigen weißen Wolken, endlos. In Biota hatte er ihn nicht sehen können, niemals. Dort hatte es nur Wasser gegeben, Wasser überall um die Stadt herum. Und dunkel war es gewesen auf dem Grund des Meeres.

Dieser Himmel … Er bekam eine Gänsehaut. Bereits als sie mit dem Golem auf ihrer Flucht kurz aus dem Meer aufgetaucht waren, hatte er sich fast in ihm verloren. Von dem Gefühl der Unendlichkeit wurde ihm schwindelig. Er richtete seinen Blick wieder nach unten.

Erschrocken wich er zurück. Nur wenige Meter von ihm entfernt standen fünf Männer. Stumm starrten sie ihn an. Alle trugen braune Stoffhosen und ausgeblichene blaue Hemden, über denen eine braune Lederweste hing. Zwei von ihnen hatten sich einen Gürtel über die Brust geschnallt, an dem kleine metallische Gegenstände glänzten. Und sie alle zielten mit etwas auf ihn, das Alexander verdächtig an die Waffen des Golems erinnerte, der Oliver auf ihrer Flucht aus Biota verletzt hatte.

»Hallo.« Alexander richtete sich auf. »Bitte … Wo sind wir?«

»Wen haben wir denn da?«, fragte der Mann ganz links, ohne ihm zu antworten, und legte den Kopf schräg. Er war Mitte vierzig und auf seinem Kinn spross ein stoppeliger dunkelblonder Bart. Seine ebenfalls dunkelblonden Haare waren seitlich gescheitelt und makellos glatt.

Erst glaubte Alexander, der Mann benutze eine völlig andere Sprache als die, die in Biota gesprochen wurde, dann jedoch erkannte er, dass es lediglich die breite und schleppende Aussprache war, die die Worte so fremdartig wirken ließ.

»Ich weiß nich’, Jesse, frische Beute würd’ ich sag’n!« Die anderen Männer grölten vor Lachen.

Ängstlich betrachtete Alexander den Sprecher aus dem Augenwinkel. Er trug ein Halstuch und einen zerlumpten schwarzen Zylinder, der ihn kleiner wirken ließ, als er es eigentlich war. Unordentliche blonde Locken quollen darunter hervor.

Verärgert wandte sich der angesprochene Jesse ihm zu. »Ach, halt die Klappe, McCarty!« Zu den anderen sagte er mit einem Nicken hinüber: »Schnappt sie euch!«

Die drei anderen Männer, jeder von ihnen sehr viel größer und breiter als Alexander, kamen auf ihn, Nic und Oliver zu.

»Stopp!« Nic war vorgetreten und hatte die Hand gehoben. Sie schob Oliver hinter ihren Rücken. »Ich verlange, zu erfahren, wo wir sind und wo Sie uns hinbringen wollen.«

»Sie verlangt es, habt ihr das gehört?« McCarty schlug sich auf die Schenkel und lachte schrill und höhnisch.

Alexanders Augen zuckten von einem Mann zum anderen.

»Ihr solltet mir antworten!« Nics Stimme bebte geradezu vor Autorität, doch die Männer waren nicht nur unbeeindruckt, sie lachten so laut, dass ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Nur der Anführer, derjenige, der den anderen die Befehle erteilte, blieb ernst.

»Sollten wir das?«, fragte er Nic gedehnt.

»Ja.« Nic deutete auf die Wände hinter ihnen und die Hügel rundherum. »Wo sind wir?«

»Ihr seid in Narau.«

Narau. Endlich hatte ihr Ziel einen Namen.

»Und jetzt nehmt sie endlich gefangen.« Der Anführer machte einen Schlenker mit seiner Waffe und die Männer setzten sich sofort in Bewegung. McCarty griff nach Alexanders Armen, doch Alexander schlug seine Hände zur Seite.

»Finger weg!« Sein Mund war trocken und er wich nach hinten aus. »Ihr könnt uns nicht mitnehmen. Wir sind frei, wir können tun, was wir wollen.«

»Junge, du bis’ in Narau, du bis’ nich’ frei«, höhnte McCarty und griff erneut nach seinen Armen. Diesmal war Alexander zu langsam, seine Bewegungen waren zu träge von den Wochen im Inneren des Golems. McCarty schlang ein Seil um seine Handgelenke und wich den Tritten, die Alexander ihm verpassen wollte, mühelos aus. »Na, na, na, tu dir lieber nich’ weh.« Alexander wusste, dass er verloren hatte, doch er hatte nicht vor, es diesem McCarty leicht zu machen, und versuchte, ihm ruckartig das Seil aus den Händen zu reißen, doch er schürfte sich dabei nur die Handgelenke auf.

»Hey!« Nics Schrei ließ ihn herumfahren. Einer der Männer, ein grobschlächtiger Kerl von fast zwei Meter Körpergröße, wollte Oliver ebenfalls Fesseln anlegen. Der Junge schwankte, schrecklich bleich im Gesicht. Nic stieß den Mann mit beiden Händen in die Seite. »Lass ihn in Ruhe.« Ihre Augen funkelten und sie stellte sich wieder schützend vor Oliver.

»Oh, die hat ja Feuer.« McCarty kicherte.

»Er ist verletzt, sehen Sie das nicht?« Nic deutete auf Olivers Schulter. Zwar hatten sie während der Reise versucht, sie zu verarzten, doch irgendetwas stimmte nicht mit der Wunde.

»Na und?« Der riesige Mann zuckte mit den Schultern.

»Nicht unser Problem.« Wieder griff er nach Oliver, doch Nic sprang ihm in den Weg.

»Nein!«

»Na, dann nehme ich halt erst dich, mir auch egal.« Der Mann schwenkte herum und griff nun nach Nics Händen, doch sie reagierte rasch und zog sie weg, dann hastete sie nach vorn, zum Anführer. Dieser hob seine Waffe und ein gewaltiger Knall erschütterte die Felswand in ihrem Rücken, sein Echo hallte nach. Sand stob vor Nics Füßen auf.

»Einen Schritt weiter und die nächste Kugel trifft dich. Dann habt ihr beide so ein hübsches Loch.« Jesse deutete auf Oliver.

»Nur einen Schritt.«

Wie erstarrt blieb Nic stehen, doch sie dachte offenbar nicht daran, klein beizugeben. »Bitte, er braucht einen Arzt, hier gibt es doch sicher einen Arzt, richtig?«

»Du has’ es offenbar nich’ kapiert, was Mädchen?« McCarty schüttelte betont tadelnd den Kopf und sein Zylinder hüpfte hin und her. »Du has’ hier gar nix zu melden, nix zu fordern. Du kanns’ gar nix machen.«

»Wollt ihr einen kleinen Jungen sterben lassen?« Nun hatte auch Alexander genug. »Bitte, ihr könnt uns ja mitnehmen, wohin auch immer, aber bringt ihn zu einem Arzt.«

Jesse schüttelte den Kopf. »Ist mir egal, was mit ihm ist. Das soll jemand anderes entscheiden. Wir bringen euch in die Stadt. Solange ihr noch lebt, krieg ich Geld für euch. Also los.« Wieder machte seine Waffe eine wippende Bewegung, und nun gingen gleich drei der Männer auf Nic los, während McCarty sie mit hämischen Kommentaren anfeuerte. Es dauerte nicht lange und auch Nic und Oliver waren gefesselt und hingen an Leinen, die die Männer fest in der Hand hielten.

»Na endlich. Dann los.«

»Was is’n das eigentlich für ein Ding?«, nuschelte McCarty, als Jesse sich schon umgedreht hatte, und deutete auf den Golem.

»Das ist –«, setzte Alexander an, doch wurde sogleich rüde von Jesse unterbrochen.

»Ist doch völlig egal, was das ist. Darum können wir uns später kümmern, kann man sicher einschmelzen. Vielleicht zahlt Wesson uns dafür ja was.«

Noch immer fiel es Alexander schwer, aus dem schleppenden Tonfall der Männer die einzelnen Wörter herauszuhören, aber er hatte langsam das Gefühl, sich daran zu gewöhnen.

 

»Was haben Sie jetzt genau mit uns vor?«, ertönte Nics Stimme hinter seinem Rücken.

»He, Jesse, die hier will genauer wissen, was wir mit ihr vorhab’n. Wills’ du es ihr sag’n?« Lachend stieß McCarty Alexander in die Seite.

»Das sieht sie noch früh genug«, erwiderte Jesse gelangweilt.

»Beweg dich mal lieber. Will wieder zurück in die Stadt, die geben sicher ein hübsches Sümmchen.«

Redeten die etwa davon, sie zu verkaufen? Mit weit aufgerissenen Augen sah Alexander von einem zum anderen. »Moment mal, Sie können doch nicht …« Keiner der Männer hörte ihm zu.

»Schau doch mal, wie hübsch die hier ist. Na ja, wieder sein wird. Die braucht erstma’ ein ordentliches Bad.«

Jesse ging gemächlich auf Nic zu und packte sie am Kinn. Wütend starrte sie ihm ins Gesicht und versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, doch er war zu fest.

»Oh ja«, sagte Jesse langsam. »Die hat wirklich richtig Feuer, und das will hier schon was heißen.« Er lachte lauthals über seinen eigenen Witz, und nach wenigen Augenblicken stimmten auch die anderen Männer mit ein.

»Bin sicher, der alte Grady würde sie gern in die Finger bekommen, meinst du nich’ auch, Johnson?« Beifall heischend blickte McCarty zu dem Mann hinüber, der Nic am Seil hinter sich herführte.

Der zuckte nur mit den Schultern. »Kann schon sein«, murmelte er leise.

»So, dann lasst uns mal einen Zahn zulegen, ich will noch in den ›Old Hat‹«, verkündete Jesse und erhöhte sein Tempo.

»Willste deine hart verdiente Kohle gleich wie’er verlier’n?« McCarty betrachtete ihn feixend.

Jesse sah zurück, rollte nur mit den Augen und winkte den anderen über die Schulter zu, damit diese ihm folgten.

Alexander begriff nicht, worüber die Männer sprachen. Es lag nicht nur an der Art und Weise, wie sie alles aussprachen, es lag auch an den Wörtern, die sie benutzten.

»Deine Spielerei wird dich noch mal in die Hölle bringen!« Brüllendes Lachen war der Dank für diese Bemerkung.

»Da bin ich doch schon längst, sonst wäre ich nicht mit eurer Gesellschaft gestraft worden«, antwortete Jesse ebenfalls grinsend.

Alexander folgte ihrem Wortwechsel ratlos. Die »Hölle«? Was mochte das sein? Eine Art Gefängnis vielleicht?

»Also, das hier ist Narau, habt ihr gesagt?« Alexander deutete mit seinen zusammengebundenen Händen in die Richtung, in die sie gingen.

»Ja, Trottel.« McCarty gab ihm einen Stoß in den Rücken und er stolperte vorwärts.

Narau … auf den Karten, die sie zur Navigation benutzt hatten, war kein Name eingezeichnet gewesen. Der einzige Hinweis auf einen Vulkan war ein unförmiger kleiner Berg gewesen, der unter den Inseln von Hawaii eingezeichnet war. Sie hatten ihn aus purer Verzweiflung angesteuert, als ihnen die Möglichkeiten ausgegangen waren, wo die in einem Vulkan verborgene Stadt noch liegen konnte. Alle anderen Vulkane waren unbewohnt und lebensgefährlich gewesen, einige wenige sogar unauffindbar.

Überhaupt hatten sie nur von dieser Stadt erfahren, weil sie in Biota – verbotenerweise – mit den Dunklen gesprochen hatten, Menschen, deren Gedächtnis im Gegensatz zu ihrem noch intakt war und die von den Oberen deshalb eingesperrt worden waren. Sie hatten sich an eine andere bewohnte Stadt als Biota erinnern können und einen Vulkan im Pazifik als einzigen Hinweis genannt.

Zu gerne würde er sich auch an etwas erinnern, an etwas außerhalb von Biota. Doch bei ihm hatte die Anpassung an die Stadt funktioniert, sein Gedächtnis war von den Wissenschaftlern schon vor Jahren gelöscht und manipuliert worden. Alles, was er jemals außerhalb von Biota gesehen hatte, war unwiederbringlich fort.

In Gedanken versunken stolperte Alexander erneut. Auf dem groben Weg fiel er hart auf die Knie und rang nach Luft. Er war so müde.

Ungeduldig zerrte McCarty an dem Seil, das er um Alexanders Hände geschlungen hatte.

»Mach schon. Keine Lust, hier hint’n festzusitz’n, nur weil du nich’ richtig lauf’n kanns’!«

Mühsam rappelte Alexander sich wieder auf. Seine Knie schmerzten, doch noch schlimmer war der Durst, der ihn seit Tagen quälte. Zwar hatten sie im Golem Süßwasser aus dem Meerwasser gewinnen können, das sie von allen Seiten umgab, doch während der letzten Tage ihrer Reise hatte der Mechanismus nach und nach den Geist aufgegeben. Wenige Stunden, bevor sie Narau erreicht hatten, war das Wasser genauso salzig gewesen, als hätten sie es direkt aus dem Ozean getrunken. Alexander verdrängte den Gedanken an ein kühles Getränk. Er hatte nicht vor, diese Männer um Wasser anzubetteln. Wenigstens hatten sie die Stadt erreicht, die Dunklen hatten also nicht gelogen. Sie existierte tatsächlich!

Nur den Empfang hatte er sich anders vorgestellt.

Gequält verzog Alexander das Gesicht, als der Mann vor ihm am Seil riss und sich die groben Fasern schmerzhaft in seine Handgelenke gruben.

»Ich mache, so schnell ich kann«, krächzte er und eilte McCarty hinterher.

Von Oliver und Nic war den ganzen Weg über kaum etwas zu hören, nur ab und zu ein Stöhnen von Oliver und gemurmelte Worte von Nic. Das änderte sich jedoch, als sie den Gipfel des kleinen Hügels erreichten, der, wie sich jetzt herausstellte, das Innere des Vulkans war, das zu den Seiten sanft anstieg.

»Unglaublich«, flüsterte Nic hinter ihm und auch von Oliver kamen bewundernde Laute. Gesprochen hatte der Junge seit zwei Tagen nicht mehr. Die Schussverletzung an seiner Schulter verheilte kaum und es ging ihm zusehends schlechter. Von Zeit zu Zeit hatten Alexander Gewissensbisse geplagt. Vielleicht wäre es Oliver besser ergangen, wenn sie ihn in Biota zurückgelassen hätten. Doch diese Gedanken hatte er immer schnell wieder verdrängt. Hätten sie ihn bei den Dunklen gelassen, wäre er vermutlich von ihnen ermordet worden. Dann war eine Schusswunde auf der Flucht aus der Stadt doch die bessere Wahl.

Hinter dem vermeintlichen Hügel war der Rest von Narau sichtbar geworden. Eine Stadt inmitten eines Vulkankraters. Die Wände des Kraters ragten so hoch in die Luft, dass sie sich in dem Dunst verloren, der wie ein Schleier über der Stadt hing. Sie waren schwarz und zerklüftet, spitz und massiv. Vor ihrer kleinen Gruppe erstreckte sich ein langer Weg aus schwarzen Steinquadern, der zu der eigentlichen Stadt aus unwirklich schwarzen und rotbraunen Häusern führte. Obwohl die Sonne schien, konnte sie den seltsamen Nebel, der die Stadt einhüllte, kaum durchdringen. Wie scheußlich es hier roch! Nach faulen Eiern und Kohlefeuern ohne Lüftung. Krampfhaft holte Alexander Luft, sein Hals kratzte und seine Augen tränten, doch er sah sich weiter um.

Auf der linken Seite der Stadt erhob sich eine etwa fünfzig Meter hohe Konstruktion aus Metall, von der aus ein breiter Steg in der Höhe einmal quer über den Krater führte.

»Was ist das?« Nic war neben ihn getreten und sah auf die Konstruktion in schwindelerregender Höhe.

»Nich’ dein Problem, würd ich sag’n.« McCarty kicherte hämisch.

»Das ist der Steg.« Im Gegensatz zu McCarty schien Jesse kein Problem damit zu haben, ihnen etwas über Narau zu erzählen. »Da oben gibt es Fabriken und all so was. Alles, was viel Dreck macht, und viel Rauch absondert.«

»Interessant.« Nic beobachtete den Steg, wo sich offenbar Menschen tummelten, denn Alexander nahm vage Bewegungen im Nebel wahr.

Die Häuser der Stadt schienen wie die Jahresringe eines Baumes nach einer Art Ringsystem angelegt zu sein: Kreise aus Gebäuden, die immer enger wurden. Flachere Häuser standen im äußeren Ring, es folgten höhere Häuser, dann Häuser mit zahlreichen Schildern und Beschriftungen und schließlich – direkt in der Mitte der Stadt – riesenhafte Villen, mit großen Gärten und Säulen neben dem Eingang.

Ganz Narau war eingehüllt von einer brütenden Hitze, die Alexander den Schweiß auf die Stirn trieb. Da seine Hände gefesselt waren, liefen die Schweißtropfen ungehindert über sein Gesicht und rannen ihm in die Augen. Hektisch blinzelnd tappte er seinem Begleiter hinterher und trat ihm versehentlich in die Hacken.

Wütend wirbelte McCarty herum und gab Alexander einen Schubs. Gleichzeitig zog er aus einer Ledertasche an der Seite seines Gürtels eine Waffe. Das dünne, silbern glänzende Metallrohr war direkt auf Alexander gerichtet, der braune Griff schmiegte sich perfekt in die Hand des Mannes. Verängstigt starrte Alexander darauf. Diese Dinger waren der Grund für den Großen Krieg gewesen. Wussten die Menschen hier denn nicht, wie gefährlich sie waren?

McCarty lachte angesichts Alexanders ängstlichen Gesichtsausdrucks. »So ist’s brav«, knurrte er und steckte die Waffe wieder ein.

Sie folgten dem Weg weiter in die Stadt. Einige Minuten herrschte Schweigen, und Alexander fiel auf, wie porös die Steine waren, auf denen sie liefen. Jeder Einzelne von ihnen bestand aus unterschiedlich großen Blasen und hatte eine etwas andere Form als der nächste neben ihm. Rechts entdeckte er eine große Wiese, die fast ein Viertel des Kraters einnahm und sich bis zu seinem Rand hinzog. Mehrere Menschen und metallene Maschinen waren darauf mit ihrer Arbeit beschäftigt. Dichte Rauchschwaden schwebten über ihren Köpfen, und Alexander hätte zu gern gewusst, was sie dort taten, doch McCarty zog ihn unerbittlich weiter.

Nach wenigen Minuten passierten sie den ersten Ring aus heruntergekommenen Häusern. Sie erinnerten Alexander an die Stadt der Dunklen in Biota. Viele der schwarzen Steine, aus denen die Hauswände bestanden, waren zerbrochen, die Türen aus Holz waren gesplittert und Unrat säumte die Straße, die einmal im Kreis um den Häuserring herumlief. Vor den Häusern spielten Kinder auf der Straße. Sie waren so dünn, dass Alexander problemlos ihre Rippen zählen konnte. Ihre Gesichter waren eingefallen und schmutzig. Die wenigen Erwachsenen, die er sah, trugen dicke Metallringe um den Hals und starrten mit leerem Blick vor sich hin. Neugierig betrachtete Alexander die Menschen, deren Aussehen er nicht einordnen konnte. Sie hatten eine dunklere Haut als er selbst, ein flacheres Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer scharf geschnittenen Nase. Ihre tiefbraunen Augen folgten der kleinen Gruppe, bis sie durch eine Gasse in den nächsten Häuserring eintauchten.

Staunend betrachtete Alexander die Häuser in diesem Ring. Sie waren höher als in der Reihe zuvor, er schätzte sie auf zehn Meter, zwei Stockwerke mit einer kleinen Veranda auf der Vorderseite. Die Fassaden waren von dunkelbrauner Farbe, hatten eckige und ovale Fenster und wirkten gepflegt. In den Fenstern der meisten Gebäude standen Pflanzen, viele mit Stacheln, aber alle ohne Blüten. Auch hier befanden sich Menschen auf den Straßen, nur ähnelten sie denen aus dem ersten Ring nicht im Geringsten. Wie er selbst waren sie weiß und keiner von ihnen trug einen Metallreif um den Hals. Die Frauen trugen entweder Kleider aus Leinen oder Baumwolle, mit Rüschen und ohne, oder lange braune Hosen, die Männer braune Hosen und blaue Hemden. Alle, Frauen und Männer, trugen diese metallischen Waffen bei sich, die auch ihre Bewacher hatten, entweder auf dem Rücken oder in einer Ledertasche an der Hüfte. Alexander hätte nur zu gerne gewusst, wozu sie dienten und wie sie funktionierten. Denn darüber hatten die Oberen ihnen leider nichts erzählt. Er verrenkte sich fast den Hals, als er versuchte, die länglichen Waffen auf dem Rücken einer Frau näher zu betrachten, bis sein Entführer ihn mit einem harten Ruck weiterzog.

»Ich verlange, dass Sie uns endlich zu einem Arzt bringen.« Mit verschränkten Armen war Nic stehengeblieben. »Er kann nicht mehr weiter. Bitte, ich mache mir wirklich Sorgen.« Auf Olivers Stirn standen Schweißperlen. Seine Augenlider waren halb herabgesunken und er hielt sich eher dadurch aufrecht, dass er am Seil ihrer Bewacher hing, als dass er aus eigener Kraft stand.

»Jetzt hör mir mal zu.« Jesse trat so dicht vor Nic, dass seine Nase fast ihre berührte. »Ihr gehört nicht hierher. Ihr habt nichts zu melden. Ihr habt kein Geld, keine Macht, keine Waffen. Nichts, was uns auch nur irgendwie interessieren könnte. Das einzige, das mich an euch interessiert, ist das Geld, das ihr mir einbringen werdet. Sonst nichts, verstanden?«

Für ein paar Momente war es absolut still. Alexander sah, wie es hinter Nics Stirn arbeitete. Er wusste, dass sie nicht nachgeben wollte, doch er hoffte, dass sie es tat. Ein Streit würde ihnen nichts außer Probleme bringen. »Wenn wir in Biota wären …«, zischte Nic, dann trat sie einen Schritt zurück.

 

»Geht doch.« Jesse winkte den anderen und sie zogen weiter. Im nächsten Viertel wurde die Straße ebener und silberne Laternen, in denen kleine Flammen brannten, standen in gleichmäßigen Abständen am Rand. Der seltsame Nebel war hier weniger dicht, doch noch immer atmete Alexander keuchend und konnte alles nur durch einen Schleier erkennen. Die Häuser im dritten Ring hatten verschiedene Formen, nicht wie in den Ringen zuvor, wo jedes Haus dem nächsten glich. Eins von ihnen hatte sogar eine riesige Schere auf dem Dach montiert. »Dan’s Schleiferei«, entzifferte Alexander mit zusammengekniffenen Augen.

Ein anderes hatte ein abgeflachtes Dach, auf dem ein riesiger metallischer Golem mit rot glühenden Augen stand. In seinen ausgestreckten Händen hielt er eine große Waffe, die aus zwei Metallrohren bestand. Es sah beinahe so aus, als ziele er auf die Besucher, die den Laden betreten wollten. Auf dem Metallschild, das schief an der Häuserecke angebracht war, stand

»Smith & Wesson«.

»Verdammt!« McCarty deutete genervt zum Himmel. »Jetzt hat Wesson schon wieder mit der Schmelze begonn’n. Von dem Geld für den Schrotthaufen könn’ wir uns schon ma’ verabschied’n.«