Buch lesen: «Die Nydeggkirche in Bern und ihr Quartier»
Die Schweizerischen Kunstführer sind ein Produkt aus dem vielfältigen Angebot an Publikationen und Veranstaltungen der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK.
Die GSK dokumentiert, erforscht und vermittelt seit 1880 das baugeschichtliche Kulturerbe der Schweiz und trägt zu dessen langfristiger Erhaltung bei. Die Non-Profit-Organisation arbeitet in drei Landessprachen und ist Herausgeberin verschiedener Publikationen sowie einer Fachzeitschrift zu Architektur und dekorativer Kunst.
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Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK Pavillonweg 2
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Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Kirchgemeinde Nydegg und finanzieller Unterstützung von
Präsidialdirektion der Stadt Bern, Kultur Stadt Bern, Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn, Evangelisch-reformierte Gesamtkirchgemeinde Bern, Burgergemeinde Bern, Zunft zum Mohren, Gesellschaft zu Ober-Gerwern, Zunftgesellschaft zu Schmieden, Gesellschaft zu Zimmerleuten, Ursula Wirz Stiftung und der Gebäudeversicherung Bern sowie der Baugesellschaft Nydegg AG, Weiss + Kaltenrieder Architekturbüro Bern, saj Architekten AG, Berner Kantonalbank, Fritz von Fischer.
Umschlagseite vorn
Blick durch den stadtseitigen Bogen der Nydeggbrücke auf die Kirche und die ersten Häuser der Mattenenge.
Umschlagseite hinten
Das Nydeggquartier vom Aargauerstalden aus. Kolorierte Aquatinta von R. Dikenmann, um 1850.
Umschlagklappe aussen
Das nördliche Hauptportal der Kirche. Das Rundbogengewände von 1951, die Türflügel 1955 von Marcel Perincioli.
Redaktion
Markus Andrea Schneider, lic. phil., GSK
Gestaltung
Barbara Regli-Bissig, üni visuelle gestaltung, Bolligen
Pierre de Senarclens, visum design, Bern
Abonnement
Jahresabonnement
Fr. 98.– für 15 bis 20 Hefte
© Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK, Bern 2018
ISBN 978-3-03797-372-1
ISSN 2235-0632
Serie 103, Nr. 1021-1022
Jan Straub Die Nydeggkirche in Bern und ihr Quartier Kanton Bern
Einführung
Ein Quartier aus den Zeiten der Stadtgründung
Verkehrstechnisch günstig, topographisch anspruchsvoll
Die Vorgängerin der Kirche: die Burg Nydegg
Kirche und Quartier im Mittelalter
Die evangelisch-reformierte Pfarrkirche
Kirche und Quartier im Schatten eines Meisterwerks
Die radikale Lösung eines alten Problems
Die Folgen eines grandiosen Projekts
Kirche und Quartier als Sanierungsfall
Eine zeitgemässe Kirchenrenovation
Die fundamentale Erneuerung des Quartiers
Quartier und Kirche heute
Rundgang durch das Quartier
Ein Besuch der Kirche
Die Kirchgemeinde Nydegg
Würdigung
Anhang
Pläne
Blick von der Nydeggbrücke auf die Kirche und das Quartier; vorne die Mattenenge, rechts des Kirchturms die Hinterhäuser des Nydeggstaldens.
Einführung
Das Nydeggquartier gehört zweifellos zu den meistfotografierten Motiven im UNESCO-Weltkulturerbe Bern. Von der monumentalen Brücke, die zur Hauptattraktion Berns, dem Bärenpark führt, blicken Besucher aus aller Welt beeindruckt und bezaubert auf eine mittelalterliche Kirche in einem pittoresken Häusergewirr, abseits der Geschäftigkeit des heutigen Alltags gelegen – ein Sehnsuchtsbild einer heilen, überschaubaren Welt.
Den wenigsten dürfte dabei bewusst sein, dass die heute so authentisch historisch wirkende Idylle von Kirche und Quartier erst 60 Jahre alt ist: Im Wesentlichen handelt es sich um eine Neuschöpfung aus den oft belächelten Fünfzigerjahren.
Ein Quartier aus den Zeiten der Stadtgründung
Die älteste Kirche von Bern?
Der kollektiven Erinnerung war immer bewusst, dass dem Nydeggquartier im Stadtwerdungsprozess eine wichtige Rolle zukam, denn hier am einzigen Aareübergang stand die namengebende Burg aus der Gründungszeit. So wird die immer wieder gehörte Behauptung nachvollziehbar, dass die heutige Kirche am Platz der längst verschwundenen Feste die unmittelbare Nachfolgerin der Burgkapelle sei. Nun ist es höchst unwahrscheinlich, dass die nicht sehr grosse zähringische Stadtburg überhaupt eine Kapelle besessen hat: Die erste und älteste Kirche Berns war mit Sicherheit der Vorgängerbau des heutigen Münsters, und damit gehört eine direkte Kontinuität ins Reich der liebgewordenen Legenden. Dennoch besteht eine enge Beziehung zwischen Burg und Kirche.
Die hypothetische Burgkapelle (rot): Eine zeittypische Rekonstruktion von Burg und Siedlung Nydegg, geprägt von der Burgenromantik des 19. Jhs., noch unbelastet von archäologischen Erkenntnissen; nachgewiesen war damals nur das Ländtetor (blau, s. S. 36 ff.). Eduard von Rodt 1919.
Verkehrstechnisch günstig, topographisch anspruchsvoll
Burg und Siedlung Nydegg lagen an der weit und breit engsten Stelle einer Aareschleife, die sich für einen Übergang geradezu aufdrängte: Der hohe Wasserstand sicherte einen regelmässigen Fährbetrieb; gleichzeitig fanden sich ganz in der Nähe, im Bereich des heutigen Mattequartiers, ideale Landestellen für die Schifffahrt, die lange Zeit mindestens so wichtig wie der Strassenverkehr war.
Die günstige Flussquerung war für die Stadtgründung wohl mit ausschlaggebend gewesen, hatte aber einen gravierenden Nachteil – der Übergang lag ganz unten in einem tief eingeschnittenen Tal mit steilen Ufern. Somit war der Zugang sowohl von der Land-wie von der Stadtseite her ausgesprochen mühsam, denn die Neugründung wurde auf dem hoch gelegenen, verteidigungstechnisch vorteilhaften Plateau der Aarehalbinsel angelegt. Am Ostende dieser Geländeterrasse vereinigten sich die drei parallelen Gassen der neuen Stadt zu einem einzigen Strassenzug, der zuerst zum deutlich tiefer liegenden Sporn der Stadtburg absank und dann, noch steiler abfallend, in einer markanten Kurve den Burghügel umrundete und schlussendlich zum Aareübergang beim heutigen Läuferplatz führte. Dieser kurze, aber äusserst abschüssige «Stalden» (schweizerdeutsch für ein steiles Wegstück) stellte die einzige Verbindung zwischen der Flussquerung und der rund 30 Meter höher gelegenen Stadt dar und war über Jahrhunderte ein gefürchtetes Verkehrserschwernis.
Die Gründungsstadt mit ihren drei Parallelgassen auf der Aarehalbinsel; gegen rechts die abfallende Kurve des Nydeggstaldens, an der Stelle der Burg die Quartierkirche; ganz rechts die befestigte Untertorbrücke, vorne das tiefliegende Mattequartier mit der künstlichen Flussschwelle. Kupferstich von J. Plepp/M. Merian, um 1654.
Schnitt durch die Aarehalbinsel und den Flussübergang, im Verhältnis 1:2 überhöht. Steilste Partie ist der Stalden (rot) direkt hinter dem Burghügel.
Die Gründung Berns vor dem Hintergrund der hoch- und spätmittelalterlichen Stadtentstehungswelle in Europa
Die Gründung der Stadt Bern war Teil einer europaweiten Umwälzung, die das Gesicht des Kontinents zwischen 1150 und 1350 nachhaltig veränderte, entstanden doch in dieser Zeit über 4’500 Städte. Gab es um 1150 auf dem Gebiet der heutigen Schweiz erst acht Städte, so waren es um 1350 deren 150! Die meisten Städte waren zwar Neugründungen, da baulich, sozial, wirtschaftlich und rechtlich etwas Neues entstand. Meistens knüpften sie aber an bestehende Burgen, Klöster oder Dörfer an. Bern ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme, auch wenn die Stadt in eine existierende Siedlungskammer mit Köniz, Bümpliz, Bremgarten und Worblaufen platziert wurde. Die Halbinsel, auf der Bern ab 1191 entstand, war aber, das zeigen archäologische Untersuchungen deutlich, zuvor nicht besiedelt. Das gilt auch für die Stadtburg Nydegg. Sie war wie viele Stadtburgen nicht älter als die zugehörige Stadt, sondern entstand zusammen mit dieser als geplantes Element der städtischen Gründungsinfrastruktur.
Wir können nur vermuten, warum Herzog Bertold V. Bern an dieser Stelle gegründet hatte, da keine zeitgenössischen Berichte darüber bestehen. Die Zähringer bauten seit dem 12. Jahrhundert ihre Herrschaften mit Städtegründungen aus. Eine weitere Stadt sollte zwischen Freiburg, Solothurn, Burgdorf und Thun zu liegen kommen – da lag die Siedlungskammer mit den zwei Flussschleifen idealerweise in der Mitte (s. S. 6). Aber warum wählte Bertold die südliche? Dafür sprachen die naturräumlichen Voraussetzungen: Sie ist kleiner als die Engehalbinsel, durch die Natur besser geschützt und sie weist leicht zugängliche Quellen auf. Ausserdem war die südseitige Aarebucht mit den dort anlagernden Kiesbänken ideal für ein Stauwehr, an dessen Kanal Mühlen errichtet werden konnten. Herzog Bertold kannte die wirtschaftliche Bedeutung der Wasserkraft, hatten seine Vorfahren doch 1090 die Stadt Freiburg im Breisgau an einer Mühlesiedlung mit Stauwehr gegründet. Ebenfalls für die Altstadthalbinsel sprachen die herrschaftspolitischen Umstände. Die Zähringer hatten in der Region keinen eigenen Grundbesitz. Als Rektoren von Burgund waren sie lediglich die Verwalter des dortigen königlichen Besitzes. Zur Durchsetzung ihrer Autorität waren sie auf die Akzeptanz des regionalen Adels angewiesen und mussten deshalb Konflikte vermeiden. So wählten sie mit der Altstadthalbinsel nicht nur das am besten geeignete, sondern eben auch unbesiedelte und damit konfliktlos zu urbanisierende Areal der Region.
Armand Baeriswyl, Archäologischer Dienst des Kantons Bern
Das älteste Denkmal für den Stadtgründer: ein gewappneter Bär im Turnierschmuck als Brunnenstatue. Erster der Berner Figurenbrunnen, 1535 von Hans Hiltprand.
Die Vorgängerin der Kirche: die Burg Nydegg
Im 12./13. Jahrhundert entstanden in zahlreichen hochmittelalterlichen Städten Burgen als multifunktionale Stützpunkte: Für die jeweiligen Stadtherren waren sie repräsentativer Herrschaftssitz und Verwaltungszentrum, gleichzeitig sicherten und kontrollierten sie die Siedlung. Neben ihrer militärisch-strategischen Aufgabe hatten sie zudem eine wichtige machtsymbolische Bedeutung.
Die Schleifenlandschaft der Aare. Oben die grosse Engehalbinsel, wo in keltisch-römischer Zeit die Siedlung Brenodor lag; unten die Neugründung des Mittelalters. Plan von R.J. Bollin, 1809.
So auch in Bern, wo die kurz vor 1200 errichtete Burg ausser der neuen Stadt vor allen Dingen den Aareübergang mit seinem Zoll zu hüten hatte. Die Nydegg – der Name («unteres Eck») ist wohl vom tief gelegenen Burghügel abgeleitet – war allerdings keine grossartige Herrscherresidenz wie Burgdorf, sondern bloss Sitz eines Vertreters der Stadtherrschaft, der Herzöge von Zähringen. Folgerichtig handelte es sich um eine strukturell recht bescheidene Stadtburg, beschränkt auf Turm, Ringmauer und Graben. Bezeichnenderweise fand sie urkundlich kaum Erwähnung. Dennoch wies die Nydegg dank ihres herzoglichen Erbauers zwei Besonderheiten auf.
Die kleinräumige, aber massive Burganlage über dem Steilabfall zur Mattenenge um 1260; rechts der Stalden, direkt am Fluss das Ländtetor (s. S. 36 ff.). Die hölzerne Aarebrücke auf der Landseite geschützt durch den Turm des Untertors (s. S. 13). Rekonstruktionsversuch von Baeriswyl/Gutscher 2002.
Eine statusträchtige Bauform
Zum Ersten besass der Hauptbau der ansonsten nicht sehr grossen Burg durchaus beeindruckende Dimensionen. Der aktuelle Forschungsstand geht von einem rechteckigen Grundriss von etwa 22 auf 16 Metern aus, einer Mauerstärke von viereinhalb Metern im Fundamentbereich und einer Gesamthöhe von 20 bis 25 Metern. Damit entsprach der Bau annähernd den mächtigen, zeitgleichen zähringischen Burgtürmen in Thun, Breisach und Moudon, die Wohn- und Wehrfunktion in monumentaler Weise kombinierten. Dieser hochrepräsentative Bautyp, als «Donjon» bezeichnet, war im 11. Jahrhundert im Grenzbereich zwischen Normandie und Loire-Region entstanden und etablierte sich im 12. Jahrhundert als ein Statussymbol par excellence. Die Stadtburg Nydegg war nun anscheinend wichtig genug, um diesem anspruchsvollen Vorbild zu folgen, wohl als Präsenzsymbol der herzoglichen Gewalt.
Als zweite Auffälligkeit verfügte der Turm über ein kontrovers beurteiltes Detail: Die einzige erhaltene Nordwestecke war durch zwei massige, rechtwinklig angeordnete Strebepfeiler verstärkt. Ob die anderen drei Eckpositionen gleich ausgebildet waren, ist nicht bekannt. Ebenso unklar ist die Funktion der Streben. War sie gestalterischer oder doch eher statischer Natur? Schliesslich war der Baugrund dicht gepresster Schotter aus Lehm, Sand und Geröll, zwar durchaus belastbar, aber eben doch nicht gewachsener Fels.
Links: Vergleichbar mit der Nydegg ist der Donjon in Moudon VD. Erhalten blieb der völlig öffnungslose Unterbau; die einst darüber liegenden Wohnräume nur durch einen Hocheingang zugänglich. Rechts: Rekonstruktion des Burgturms zu Thun mit Ecktürmen und Hocheingang im 1. Stock; Zustand um 1200.
Die Nordwestecke des Donjons mit den zwei vorgelegten Strebepfeilern; nur in den untersten Fundamentlagen erhalten.
Neben dem wuchtigen Donjon blieb nicht viel Platz. Der Turm stand offenbar direkt über dem ursprünglich nahezu senkrechten Osthang, der Bering konnte ihn lediglich halbkreisförmig umschliessen. Dazwischen verblieb nur ein enger Hofraum, wo sich wie in Moudon verschiedene Nutz- und Wohnbauten drängten. Die schützende Ringmauer war im Fundamentbereich 1,70 Meter dick, ihre Höhe ist unbekannt. Etwas mehr weiss man über den Graben; rund 14 Meter breit und gegen 8 Meter tief, isolierte er den Burgplatz vom höher gelegenen Plateau der Stadt. Er folgte der Rundung des Berings, und sank gegen Norden und Süden im steil abfallenden Gelände bis auf die Ebene der heutigen Mattenenge ab. Unklar bleibt die Torsituation, gut dokumentiert ist dafür die Gegenmauer, welche die landseitige Grabenwand stützte (s. S. 12).
Die 1951–1962 in Eilgrabungen erfassten Reste der Burg (dunkelgrau) mit der Kirche und der heutigen Wohnbebauung. Der Burghügel in Etappen abgegraben: die Ostseite im Mittelalter und nach 1950 (grün), die Nordseite kurz vor 1960 (blau).
Der Platz für die Kirche wird frei
1218 starb der Stadtgründer, kinderlos, und neuer Stadtherr war nun der weit entfernte deutsche König; die Nydegg wurde zur Reichsburg. Diese für Bern einigermassen komfortablen Verhältnisse änderten sich drastisch mit dem Untergang der staufischen Königsherrschaft. In der Unsicherheit des darauf folgenden Interregnums (1250–1273) begab sich Bern unter den Schutz des Grafen Peter II. von Savoyen, verstand es aber nach seinem Tode, das Fehlen einer starken Zentralgewalt zielorientiert zu nutzen: Zwischen 1268 und 1274 wurde die unliebsam gewordene Burg durch die Stadt planmässig zerstört, wie es auch in anderen Städten geschah, etwa in Zürich. In Bern ging es vermutlich darum, den bisher unabhängigen Herrschaftsbezirk der Stadt zu unterstellen und sich damit den Zugriff auf Brücke und Schiffländte zu sichern.
Übrig blieb praktisch nichts. Selbst der Burghügel wurde in der Folge auf der Ostseite grossflächig abgegraben; vielleicht wollte man die darunter gelegene Mattenenge erweitern, vielleicht erwies sich die kiesdurchsetzte Steilwand als instabil – jedenfalls würde der Donjon heute zur Hälfte in der Luft stehen. Zu sehen sind im jetzigen Nydegghof nur mehr der teilrekonstruierte Sodbrunnen, einige kümmerliche, kaum lesbare Fundamentrelikte, ein Stück Ringmauer, zugänglich unter dem Boden der Kirche, sowie der rätselhafte Mauerkern, der dem Chor als Fundament dient (s. S. 10, 45).
Der Sodbrunnen reichte mit rund 20 Metern bis zum Grundwasserspiegel. Der grössere Teil ist im Schotter eingetieft und mit Sandsteinquadern ausgekleidet, die untersten 2,3 Meter sind direkt aus dem anstehenden Fels ausgehauen.
Der kostenlose Auszug ist beendet.