Helden und andere Probleme

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Dahn war Nationalist, Bismarck-Verehrer der vorletzten Stunde (und stolz darauf, dieser Verehrung erst nach Bismarcks Zwangspensionierung öffentlichen Ausdruck gegeben zu haben), er nannte sich in seiner Autobiographie »großdeutsch, aber gerichtet gegen die Ultramontanen und blauweißen Particularisten, wie gegen die Gothaer«.[22]

Daß Dahns Germanenstudien und -romane etwas mit dem Versuch der Unterfütterung des deutschen Nationalismus mit völkischer Ideologie zu tun gehabt habe, wie der zitierte Mosse meint, ist ein – von heute aus möglicherweise naheliegender – Irrtum. Dahn ist keineswegs völkisch gesinnt. Für ihn ist nicht das ethnisch reine Volksganze, sondern der Staat – ob ethnisch homogen oder nicht – die Organisationsform der Spezies Mensch, auf die die Geschichte zusteuert. Allein der Staat kann den Zusammenklang von Recht und Frieden (nach innen wie nach außen) herbeiführen, und es ist gerade die Unfähigkeit zu staatlicher Organisation, die seinen Roman-Germanen (neben genereller Disziplinlosigkeit und habituellem Alkoholismus) immer wieder zu schaffen machen wird.

Dahns beinahe manisch zu nennende Beschäftigung mit dem europäischen Frühmittelalter hat mit völkischer Schwärmerei wenig zu tun. Einmal hat sie eine individuellen, biographischen Ursprung. Dahn hatte eine träumerische Kindheit:

wir sahen ja schon den Zwölfjährigen in den Ritterspielen […] schwärmen,[23]

schreibt er über die Quelle seiner Gesinnungen, und als er über die Bedeutung des Kriegsausbruchs von 1870 für seine geistige Verfassung berichtet – er macht eine Phase schwerster Depression durch, aus der er sich in Kriegsbegeisterung rettet –, heißt es:

War doch jetzt eine Saite in mir angeschlagen, die unter Allen von dem Ritterspiel des Knaben an bis heute am Mächtigsten ertönt: die deutsch=nationale, die »heldenhafte«: wie viel stärker noch ist sie in mir als der Eifer für Recht, Philosophie, Poesie und selbst für Geschichte. Alles Andre in mir – Alles ohne Ausnahme! – ward zurückgedrängt durch die Begeisterung, durch das Bangen und Hoffen für diesen Kampf.[24]

Wie es mit dem dann aussehen wird, werden wir noch sehen – hier kann man festhalten, wie sehr Dahn die Wonnen der Unterkomplexität, die ja den Helden ausmachen, zu genießen versteht: Sie machen den Grüblerisch-Depressiven manisch genesen.

Aber sehen wir von diesem Motiv der psychischen Selbsterregung vorläufig ab, denn die kann sich ja, gerade weil sie der Kindheit entstammt, als Infantilität mit allen möglichen Ideologemen verbinden. Es gibt einen anderen, ganz andersartigen, einen systematisch-intellektuellen Grund für Dahns Völkerwanderungsinteresse. Dahn rechnete sich dem modernen Flügel der historischen Rechtsschule zu, deren bekanntester Vertreter Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) war. Er teilte die Ablehnung der Naturrechtslehre, war ein Kritiker des Rechtspositivismus und war gleichfalls inspiriert von der Polemik gegen ein am französischen Vorbild des Code Napoleon orientiertes Recht:

Kein Volk und keine Zeit kann die Tyrannisierung seines Denkens ertragen, welche darin läge, sich […] diese Fragen von einer anderen Nation oder Zeit beantworten zu lassen, so daß hier auch nur eine »Reception« des von anderen Gedachten vorläge.[25]

Gleichwohl waren für ihn »das Volk« und seine Rechtsbräuche nur eine Quelle des Rechts, nicht deren permanenter Rechtsgrund;[26] entsprechend war für ihn – anders als für Savigny – das Gewohnheitsrecht zwar die »älteste Form aller Rechtsbildung«, mit seiner Lieblingsmetapher: »kristallisierte Sitte«,[27] aber erst der Staat (einschließlich einer eigenen Gilde der Fachleute, der professionellen Juristen) und seine Rechtskodifizierung nebst der von ihm repräsentierten »Sicherheit der Vollstreckung«[28] bilden »die Voraussetzung für sichere, reichliche und volle Realisierung der Rechtsidee«:[29]

Das Normale […] ist das im Stat erwachsene, vom Stat geschützte und durchgeführte Recht.[30]

Will man Dahn richtig verstehen, muß man ihn als Vertreter des sich im 19. Jahrhundert herausbildenden, aber erst in jüngster Zeit philosophisch wirklich respektierten philosophischen Pragmatismus verstehen. Seine Polemik gegen die Idee eines Naturrechts und gegen überzeitliche Menschenrechte ruht auf demselben Argument, das heutzutage Richard Rorty gegen diese Idee ins Feld führt. Dahn argumentiert wie Rorty entschieden anti-essentialistisch:

Es gibt keine objektive Natur der Sache: vielmehr ist jedes Rechtsideal ein relatives – man lege Vertretern verschiedener Rechtstraditionen ein Problem vor und sie werden alle eine verschiedene »Natur der Sache« in sich spiegeln: d. h. sie werden die gleichen objectiven Verhältnisse verschieden auffassen, und vermöge der Verschiedenheit ihrer durch den verschiedenen Nationalcharakter bedingten Rechtsideale, zu verschiedenen Ergebnissen gelangen.[31]

Diese Bindung aufheben zu wollen, ist nach Dahn vergeblich, denn jeder Versuch, diesen Relativismus zu überwinden, sei seinerseits an Ort und Zeit des Versuchs gebunden.

Recht ist etwas historisch Vorgefundenes, und bei aller Bedeutung, die Dahn dem seiner Ansicht nach auf nichts zurückführbaren »Nationalcharakter« und lokalen Ursprung des jeweiligen Rechtsdenkens beimißt, ist doch letztlich der Kern seiner Auffassung der, daß alles Recht historisch-kontingent ist und mithin kein Rechtsdenken per se anderem vorzuziehen sei. Zwar dürfe einem Volk kein fremdes Recht oktroyiert werden, aber ebensowenig könne es sich mit dem begnügen, was historisch einmal gewachsen sei. Selbstverständlich sei der Prozeß der Rechtsbildung nie abgeschlossen. Es bedürfe darum der Rechtsphilosophie, um Kritik und Fortentwicklung des bestehenden Rechts zu leisten, die aus der Auslegung des positiven Rechts ja nicht erwachsen könne – nur die Methode der Fortbildung des Rechts liege nicht in der abstrakten Spekulation:

Absolutes vermag auch die Philosophie in diesen Fragen nicht zu erreichen: auch ihre Erfassung der Idee des Rechts ist stets eine individuell, national, zeitlich bestimmte: aber klarer, ruhiger, objectiver wird das Ergebniß sich immer gestalten als die Auffassungen der Parteileidenschaft oder der reflexionslosen Weiterbildung des Überkommenen.[32]

Um dies zu leisten, müsse die »Rechtsphilosophie« empirisch »vergleichende Rechtsgeschichte«[33] werden, und diese Rechtsgeschichte muß nach Dahn »universell« sein, das heißt, dürfe sich weder auf »die drei großen arischen Culturvölker Europas: Hellenen, Römer, Germanen (welchem etwa angefügt werden mag, was von Slavischem und Keltischem bekannt ist)«, noch auf den um die »reichst entwickelten orientalischen Reiche« erweiterten Kulturkreis beschränken. »In Wahrheit müssen die Rechtsbildungen aller uns bekannten Stämme beigezogen werden, auch der minder reich angelegten, auch der in der Stufe der Vorcultur beharrenden, auch der sogenannten ›Naturvölker‹ oder der ›Wilden‹.« Erst dann könne von einer »Geschichte der Menschheit« gesprochen werden.[34] – Dahns Konzept einer historisch-empirischen Basis der Rechtstheorie läuft letztlich auf die Vorstellung von nationalen Rechtskonzepten als historisch gewachsenen Problemlösungsstrategien hinaus, die mit der Veränderung der historischen Rahmenbedingungen veralten können und weiterentwickelt werden müssen. Diese Weiterentwicklung soll durch transhistorischen und transnationalen Vergleich mit anderen Rechtskonzepten geschehen.

Dahn will nun mit seiner rechtshistorischen Beschäftigung mit der Völkerwanderungszeit seinen Beitrag zur (Rechts-)Geschichte der Menschheit leisten, indem er den kulturellen Zusammenstoß von römischer und germanischer Tradition beschreibt, dokumentiert, analysiert. Es ist dabei nur konsequent, daß er nicht nur Rechtsgeschichte betreibt, sondern die Fragen der Rechtsentstehung seinerseits historisch kontextualisiert. Ob dieses überzeugend geschehen ist, kann hier unerörtert bleiben. Jedenfalls geht es Dahn nicht darum, die Überlegenheit einer Volks-Tradition über die andere zu erweisen, sondern den konfliktreichen Prozeß der Verbindung beider Traditionen zu rekonstruieren.

Die Zeit des Uebergangs der Antike in das Mittelalter ist anziehend, inhaltvoll und wichtig, wie nicht leicht eine andere Periode. Arbeitet doch die ganze Geschichte Europa’s seit anderthalb Jahrtausenden an der Aufnahme, Durchdringung, Verbindung und Auseinandersetzung der Ueberlieferungen der alten Welt gegenüber den Kräften, welche die neuen Völker und Völker=Mischungen seit dem Verfall des römischen Reiches mitbrachten und erzeugten. In allen Gebieten des menschlichen Geisteslebens vollzog und vollzieht sich noch heute der Prozeß der Anziehung, Vermischung und Ausscheidung zwischen den Elementen der Antike und denjenigen Bildungen, welche die nördlichen Völker theils rein aus sich, theils in Folge der Berührung mit der Antike geschaffen haben […] Ungefähr fünf Jahrhunderte […] begränzen die Ausdehnung dieses Vor=Mittelalters, in welchem die Grundlinien unserer ganzen Kultur gezogen wurden […] Damals wurden die Faktoren bestimmt, mit welchen die Weltgeschichte siebenhundert Jahre zu rechnen hatte […] Mich aber hat, wie ich zuerst an eine quellenmäßige Erforschung der Geschichte des deutschen Staatslebens und Staatsrechts herantrat, die Ueberzeugung ergriffen, daß ohne eine erschöpfende Kenntniß ihres Anfangs eine richtige Beurtheilung ihres Verlaufs unmöglich ist. Ihr Anfang aber liegt offenbar in dem Zusammentreffen der einfachen, noch wenig entwickelten rein=germanischen Verfassung mit der römischen Staatsidee […].[35]

 

Wenn wir uns nun auf Dahns diesbezügliche Romanproduktion beziehen, so sieht sein Panorama der Völkerwanderung, in der an der beschriebenen Zeit orientierten Titelfolge, so aus: Die Bataver gemeint ist der den letzten Abschnitt von Tacitus’ Historien bildende Bataver-Aufstand im Jahre 69; Julian der Abtrünnige, spielend in den Jahren 337–363, eine sehr differenzierte, und zwar von Sympathie getragene, aber doch das Don-Quijoteske der Figur treffend zeichnende Romanbiographie; Bissula, 378, über den Kampf der Alamannen gegen Rom; Stilicho, 406 ff., über Sieg und Niederlage des germanischen Feldherrn im Dienste des Römischen Reiches; Attila, 453, Beschreibung eines historischen Störfalls; Felicitas, 476, eine Episode der zerfallenden Römerherrschaft an der Donau; Chlodovech, 481–511, über den Begründer der Dynastie der Merowinger; Gelimer, 534, der Untergang des Vandalenreiches in Nordafrika, an Prokops Vandalenkrieg entlang erzählt; Ein Kampf um Rom, 526–549, der Untergang des Gotenreichs, wie erwähnt ebenfalls aus der Quelle Prokop geschöpft; Vom Chiemgau, 596; Fredegundis, das Leben der berüchtigten Merowingerkönigin; und schließlich Ebroin über das wechselvolle Schicksal eines der letzten Hausmeier der Merowinger.

Die Romane sind von unterschiedlicher Qualität; es ist nicht ungerecht, daß nur der Kampf um Rom überlebt hat, jenes, wie Marcel Reich-Ranicki zu Recht sagte, »mit Kontrasteffekten glänzend operierende Riesenfresko«, allenfalls den Julian sollte man im Kontext der Jahrhunderte umspannenden literarischen Behandlung dieser Figur zur Kenntnis nehmen, und wer sich speziell für Dahns Interpretation der Völkerwanderung als einer verpaßten historischen Chance interessiert, kann noch den Stilicho hinzunehmen. Ich wünschte, ich könnte hier, nach der Lektüre von rund viertausend Seiten, andere Auskunft geben. Ich erwähne das auch bloß deshalb, weil mir während der Lektüre der unheimliche Gedanke gekommen ist, ich könnte der letzte sein, der das gemacht hat, und ich könnte es denen, die künftig da fehlen, nicht übelnehmen, denn weiterempfehlen kann ich die Romane eben nur mit zu großen Abstrichen. Allerdings muß man gerecht sein. Dahn ist kein bloßer Vielschreiber, und er ist technisch gesehen alles andere als ein Dilettant. Er weiß mit sicherem Griff das am Stoff zu packen, was dramatisch reizvoll ist, und das ihm hinzuzufügen, was der Steigerung der Dramatik dient, bzw. abzuschneiden, was man nicht braucht. Dahn ist von Anfang an konstruktiv handwerklich erstaunlich sicher, seine Konstruktionen stimmen und sind solider als die ungleich berühmterer (und aus anderen Gründen berühmterer) Kollegen.

Bei aller Zuneigung zu seinen Protagonisten gelingen Dahn sehr differenzierte Charakterschilderungen, allen voran die des Julian Apostata. Hier setzt Dahn die Romanform und die mit ihr gegebene Lizenz, dort phantasierend zu gestalten, wo die historischen Quellen nur lückenhafte Bilder malen, produktiv ein. Soll heißen: Er steht nicht in der Tradition von Schillers Johanna, wo der Autor eine Figur zum dramatischen Anlaß nimmt, um etwas zu formulieren, was mit ihrer historischen Dimension nicht mehr besonders viel zu tun hat, sondern von dessen Wallenstein oder Maria Stuart, wo neben der Präsentation eines Kunstwerkes aus eigenem Recht auch noch der Versuch gemacht wird, eine Antwort auf Fragen zu geben, die aus dem Quellenmaterial nicht beantwortet werden können, die also spekulativ zu beantworten auch dem Historiker erlaubt ist – wie auch modernste Historiographie und historischer Roman sich berühren, zeigt der Beginn von Christian Meiers großer Cäsar-Biographie –, solange diese spekulative Antwort nicht in Konflikt mit den historischen Fakten gerät. Daß er seine diesbezügliche Lizenz ähnlich weitherzig auslegt wie Schiller, wollen wir ihm nachsehen – ein Roman und ein Theaterstück haben zunächst die Erfordernisse der eigenen Form zu erfüllen, dann alles weitere. Die Frage ist nur, ob die in den jeweiligen literarischen Werken formulierten Überlegungen für den Historiker interessant sein können – daß die diesbezügliche Antwort immer negativ ausfallen muß, sollte man nicht einfach voraussetzen.

Eine eventuelle positive Antwort wird sich allerdings auf das Detail, auf bestimmte Momente der Handlungsführung und Charakterzeichnung beziehen müssen, nicht auf das geschichtstheoretische Konzept, das der Romanserie zugrunde liegt. Dahns Völkerwanderungsromane durchzieht ein Thema in vielerlei Variation: die mißlingende Fusion von Volk und Staat. Roms Ende ist schon lange überfällig, Roms Macht erhält sich aber, weil es als Staat funktioniert, selbst als es ihm an einem fähigen Trägervolk mangelt, denn es weiß sich die Germanen zu verpflichten; den Germanen gelingt der Sieg nicht, weil sie sich zur Staatsbildung unfähig erweisen. In seinem Stilicho läßt Dahn eine Verhandlung zwischen dem Titelhelden und Alarich stattfinden, in der der römische Heerführer germanischer Abstammung den Goten von einer gemeinsamen Zukunft in einem gemeinsamen römisch-germanischen Reich zu überzeugen versucht. Alarich wendet sich dort gegen die Idee eines »Mischvolks«, in dem »[u]nsere Eigenart, unser Recht, unsere Freiheit, ja am Ende gar unsere Sprache« untergehen sollen: »alles dahin: um jenes Mischbreis willen?« Und Dahn läßt seinen Stilicho erwidern:

»[…] um der Germanen selbst wie um der Römer willen: so, verschmolzen, können beide fortleben: in ihrem Kampfe gehen beide unter.« – »Untergehn? So sei’s«, rief der Gote aufspringend.

Es scheint ein für Goten unwiderstehliches Wort zu sein.

»Glückauf zu solchem Untergang […] lieber untergehn als verrömert werden.«[36]

Es muß darauf hingewiesen werden, daß Dahns Sympathie nicht bei dem trutzigen Goten liegt, sondern bei Stilicho. Nur eben: Stilicho wird ein Konzept zugeschrieben, das die Geschichte nicht verwirklichen kann. Stilicho sieht sich am Ende von Rom verraten, und der Leser des Ploetz weiß, daß Alarich Rom plündern wird. Im Grunde gelingt, so Dahn, eine Fusion erst unter Karl dem Großen, und auch die gerät für seinen Geschmack – wegen der blutigen Unterwerfung der Sachsen, vor allem aber wegen Karls Katholizismus – nicht, wie sie sollte. Die Staatsfeindlichkeit des Katholizismus ist eines von Dahns Lieblingsthemen, es zieht sich durch die Romane, er widmet ihm ein Theaterstück, er kommt in seiner Autobiographie immer wieder darauf zurück. Augustin als Verfasser des Gottesstaates ist der große intellektuelle Antagonist, und wäre Justinian (und vor allem seine schlimme Frau Theodora) nicht so katholisch verhetzt gewesen, vielleicht, nicht wahr, wäre unter Totila wirklich geworden, was Stilicho geträumt … Katholisch aber wurde das Abendland endgültig, als der skrupellose Chlodovech Paris eine Messe wert erachtete und dem guten alten Heidenglauben abschwor. So suggestiv muß Dahns diesbezügliche Parteinahme gewesen sein, daß man ihn katholischerseits verdächtigte, er wolle den Germanenglauben neu beleben. Das aber war Unfug. Zwar hatte Dahn eine tiefe Abneigung gegen die Konkurrenz, die die katholische Kirche der Staatsautorität machte. Aber seine Germanen hatten für die Gegenwart keine Bedeutung. Dahn war, noch einmal, staats-, nicht völkisch orientiert, und ihn interessierte etwas, was sich vielleicht mit de Gaulle als »Europa der Vaterländer« hätte bezeichnen lassen.

Wie ist es nun mit dem beschrieenen »historischen Nihilismus«, mit der Freude an Tod und Untergang? Mit jener Lust am krachenden Die-Tür-ins-Schloß-Schlagen, mit dem man auch die größte historische Pleite zum Triumph aufmöbeln, die unbedeutendste Marginalie zur heroischen Tragödie promovieren kann und die somit vielleicht jene Bande schon immer im emotionalen Gepäck trug, die insgeheim vielleicht wußte, daß es zum Dritten Reich nur ein paar Jahre lang und am Ende zu nichts als zu Ruin und Ruinen – und zum Massenmord – reichen würde?

Tragisch, heroisch ist meine Weltanschauung, weil sie die Entsagung lehrt, weil sie weiß, daß das Glück der Menschen weder auf Erden noch in einem erträumten Himmel »Weltzweck« ist, sondern der »Weltzweck« (vielmehr Wesen der Welt) ist die nothwendige Verwirklichung des Weltgesetzes, für welches das Glück der Menschen so gleichgültig ist wie das der Thiere oder der Pflanzen: heroisch, weil sie trotzdem Lebensfreude und Pflichterfüllung fordert, ohne jene elende Rechnung auf Belohnung oder jene erbärmliche Furcht vor Strafe im jenseits […]: heroisch, weil sie in dem Heldenthum (dem geistigen, sittlichen wie kriegerischen) für das Volk höchste Ehre, höchste Pflicht und höchste Beglückung findet.[37]

Könnte dergleichen auch im Bunker unter der Reichskanzlei gesprochen worden sein? Teilweise sicherlich; aber das heißt wenig. Menschen reden viel, wenn der Tag lang ist, und manche Tage ziehen sich, bevor sie zu Ende gehen. Es gibt ein Atheistenpathos, das, ob es nun bei Dahn, bei Freud oder bei Camus sich findet, auch an Orten, an denen es einst noch frischer wirkte als heute, schon deplaziert war. Mir ist alles, was auch nur von ferne an Wehrdienst des Geistes gemahnt, zuwider, und strammstehen sollte man auch nicht vor sich selber. Daß das menschliche Glück im Schöpfungsplan nicht vorgesehen sei, wollen wir mit Freud annehmen, ohne darum uns wie Heroen vorzukommen, wenn wir tatsächlich nicht glücklich sind. Wenn wir die möglichen Momente des Glücks verpassen, haben wir ja nicht heldenhaft auf sie verzichtet – zu rühmen gibt es da nichts. Kurz loben will ich die Zivilität des Felix Krull im Speisewagen nach Lissabon, der, als die Rede auf die Endlichkeit alles Lebens kommt, nichts weiter zu sagen hat als: »Das nimmt mich ein für dasselbe«, und der auf die Mitteilung, daß »Sein nicht Wohlsein« sei, nicht die Hacken zusammennimmt. Das also alles nicht. Gleichwohl läuft Selbstheroisierung angesichts der eigenen Seinshinfälligkeit noch nicht darauf hinaus, nun auch gleich die Welt in Trümmer legen zu wollen, nicht einmal notwendigerweise in der Phantasie.

Zwar: Dahns Völkerwanderungsromane gehen nie gut aus. Die Bataver – der nach ihnen benannte Roman ist pikanterweise »Otto dem Großen / dem Fürsten Bismarck« zugeeignet – und ihr heldenhafter und kluger Anführer unterliegen, ihre rätselhafte Prophetin Weleda (deren Name heute eine anthroposophische Pflegeserie ziert) endet im Selbstmord, um die Schande, in römischem Triumphzug mitgeführt zu werden, zu vermeiden, und früh hatte sie schon die Frage nach Sieg oder Untergang mit einem »Unnütz!« beschieden:

Weil ihr doch thun müßt, wie ihr thatet, thut, thun werdet, auch wenn’s euch vorherbestimmt ist, darüber unterzugehen.[38]

Julian stirbt im persischen Wüstensand, wie es die Überlieferung befiehlt; Stilicho hatten wir erwähnt; des Alamannenmädchens Bissula Bräutigam stirbt den Heldentod; Attila stirbt unheroisch von Hand eines germanischen Weibes, aber sein Sohn heldenhaft, um dieses zu retten; Gelimer beschreibt Niederlage und Ende des letzten Vandalenkönigs in einem sonderbaren Gemisch von Dekadenz, phantasierter und tatsächlicher Schuld; die Romane Chlodovech und Fredegundis schwelgen in den Erfolgen Unwürdiger, auch Ebroin, eigentlich zu den scheiternden Helden gehörig, changiert doch arg, wie es sich für einen Franken gehört, nur Felicitas (von Dahn mehr geschätzt als die andern) schildert uns inmitten der Aufgeregtheit zerfallender Römerherrschaft eine Kampf und Tod abgetrotzte Idylle. Nur, was soll man machen, will man Helden schildern? Entweder muß man es anstellen wie Theodor Mommsen, der seine Römische Geschichte vor dem Ende Cäsars einfach aufhören läßt, also den Moment des Triumphs festhält, als gäbe es kein Morgen – oder wir erzählen die Geschichten zu Ende, und am Ende steht der Tod, und bei Helden ist es nie der Pensionärstod. Daher ja der Stoßseufzer Arno Schmidts, es sei schade, daß große Helden so selten in der Wiege erdrosselt würden. Selten geht es einigermaßen manierlich zu wie bei Dietrich von Bern, der per Pferd entrückt wird. Kommen Helden allein ums Leben, zieht ihr Tod meist Verderben nach sich, wie der Siegfrieds – seine Witwe einer- wie die Eigner seines Schwerts und Schatzes andererseits können sich aus der Welt nicht verabschieden, ohne ihr einen gehörigen Bevölkerungsschwund zu verordnen –, und der Veteran Odysseus kann bis zum Ende das Töten nicht lassen. Wie weise war die Wahl von St. Helena – keine Tränen bitte: Er hätte auf Elba Ruhe geben können. Aber lassen wir die Wirklichkeit. Wer über Helden schreiben will, ist durchs Genre gezwungen, mit Triumph oder Tragödie zu enden, wählt er einen anderen Schluß, spielt er schon mit der Gattung und dekonstruiert den Helden. Solche Absichten waren Dahn fern, möchte man meinen – ein leises Zweifeln an der allzu passablen Glätte dieses Satzes erlauben Sie mir jetzt schon.

 

Aber wie dem auch sei – an der »tragisch-heroischen Weltanschauung« ist insofern nicht zu zweifeln, als er sie sich selber zuschreibt und den Kampf um Rom als deren Ausdruck versteht.[39] Ob die nun allerdings ein so reines Produkt des sich auf sein Ende in den Schützengräben von 1914 /18 hinträumenden 19. Jahrhunderts ist und vom Expressionismus der »Menschheitsdämmerung« an entsprechend Apokalypsetaugliches liefert (Trakls »Vor Feuerschlünden aufgestellt«, das dann nicht zuletzt Franz Fühmann noch faszinierte) – daran kann gezweifelt werden, hat Dahn sie doch aus der Quelle zu sich genommen: Diese Weltsicht ist originaler Prokopius von Cäsarea. Es ziehen sich durch dessen Werk, von Dahn sehr wohl bemerkt und eingehend gewürdigt, Aperçus über die Willkür des Schicksals – antike Resistenz gegen den Augustinischen Heilsplan, die Dahn schätzt, ja wohl schon vor Herausbildung einer eigenen Hausphilosophie adoptiert hat:

Nachdem er bemerkt, daß des Helden Totila trauriges Ende nicht seinen früheren Thaten und seinem früheren Glück entsprochen habe, fährt er fort: »Aber auch in diesem Fall spielte das Schicksal augenscheinlich, spottete alles Menschlichen und bewährte das Unlogische, das ihm eigen ist und das Unberechenbare seiner Beschlüsse, indem es dem Totila zuerst auf lange Zeit das Glück ohne Grund willkürlich zuwarf, zuletzt aber dem Mann mit launischem Uebermuth gegen Gebühr ein so klägliches Ende bereitete.«

Stärker und bestimmter als in dieser Stelle konnte nicht gesagt werden, worin der specifische Begriff des Schicksals liegt: eben in dem Unlogischen und Unconsequenten, in dem Unvernünftigen und Unbegreiflichen, in dem ohne Grund Wechselnden, welches dem Menschen als Laune, Willkür, ja als Hohn und Grausamkeit erscheint.[40]

Diese Vorstellung von der Hure Glück muß man nur mit der Vorstellung, daß die Weltgeschichte irgendeinen Gang gehe (und sich nicht bloß ereigne), kombinieren, dann ergibt sich ebenjene »tragisch-heroische Weltanschauung« gewissermaßen von selbst: Dann hat alles irgendeinen Sinn, nur nicht für einen selbst – Dahn wählt ein Diktum Emanuel Geibels zum Motto des Kampf um Rom, trotz der ungrammatischen und die Kopula heideggerisierenden Zeichensetzung und des bloß durch ungeschickte Wortstellung erzwungenen Metrums:

Wenn etwas ist, gewalt’ger als das Schicksal, / So ist’s der Mut, der’s unerschüttert trägt.

Prokopius war übrigens von Haus aus Jurist, wie Dahn. Und noch einen Juristen gibt es unter den Geschichtsschreibern der Antike: Tacitus. Der kommt natürlich in den Batavern als künftiger Berichterstatter dieses Aufstands vor – vor allem aber als Prophet: Gleich zu Anfang werden ihm die Beckettschen Worte »Es geht zu Ende« in den Mund gelegt. Dann:

Die Geschicke des Reichs drängen zum Abgrund […] Wir wurden alt, so mein’ ich manchmal: das Blut der Wölfin hält nicht mehr vor. Andere junge Völker blühen auf: Parther, Daker, Germanen![41]

Und weiter heißt es von ihm, er sei »ein Freund der Geschichte – mehr als Recht und Weltweisheit zieht sie ihn an«.[42] So schafft sich der Autor die eigene Existenz zur Wiedergängerei um. Tacitus befragt am Ende die gefangene Weleda und beschließt, ein Buch über die Germanen zu schreiben.

Vor dem Hintergrund der Untergangsprophetien des Tacitus wird übrigens noch einmal jener Cethegus, der im Finale des Kampf um Rom im Kampf mit Teja fällt, zu dessen Parallelexistenz. Die Ehre des Heroismus im Untergang wird diesem ebenso zuteil wie jenem:

der Herrlichste, der Gewaltigste von Allen: der schwarze Teja, der Held des Gedankens und des Schwertes, der Träger meiner liebsten und stolzesten Ideen, ist der eine, der andere, der, großartig und frevelhaft zugleich, dämonisch, wie das ganze antike Rom, erscheinen mußte.[43]

Cethegus, der Präfekt, ist natürlich für jedes Gemüt jenseits der zwölf ungleich interessanter geraten, und die Szene, in der er Rom nicht mehr anders zu verteidigen weiß als dadurch, daß er den die Mauer stürmenden Goten die Statuen der Götter der Stadt auf die Köpfe wirft, hat mich nachhaltig beeindruckt.

Man kann Dahns Liebe zu heroischer Düsternis biographisch herleiten – er selbst tut es, und es ist durchaus überzeugend (und bewegend), wie er es tut. Das soll hier nicht referiert werden. Ich möchte aber auf etwas aufmerksam machen, das einem bei der Lektüre der Romane leicht entgehen kann und bei der zusätzlichen Lektüre der biographischen Bekenntnisse beinahe entgehen muß, wenn man nicht andere Texte hinzunimmt. An mehreren Stellen wird Teja zu der Identifikationsfigur schlechthin, immer wieder ist von »meinem Teja« die Rede, der für Dahn gewissermaßen die Symbolisierung der eigenen Schwermut darstellt, der

angeborne[n] Neigung zur unheilahnenden Traurigkeit – tief und hoffnungslos melancholisch, ja zum Sterben, zum Verzweifeln traurig: […] habe ich die Gestalt des schwarzen Teja geschaffen – oder vielmehr: sie tauchte in mir auf wie mit Schicksalsnothwendigkeit.[44]

Dieser Teja und mit ihm die gesamte Untergangsmystik werden aber auf merkwürdigste Weise desavouiert. Dahn, der Knabe der Ritterspiele, auf die er immer wieder erinnernd zurückkommt, wächst in das Leben eines intellektuellen Zivilisten hinein, und diese Existenzweise ist es, die die Transposition des melancholisch-heroischen Knabentraums ins erwachsen Kriegerische auf merkwürdigste Weise unterminiert. – Ich muß etwas ausholen.

Daß Dahn seine Romane mit seinem rechtshistorischen Wissen spickte, ist bekannt. Daß er zudem noch ein – nennen wir es vorläufig so – Steckenpferd ritt, hat man, soweit ich sehen kann, nicht weiter bemerkt. Der erwähnte Roman über den Bataver-Krieg hat ein nicht zu übersehendes Nebenthema. Der Sieg Roms über die aufständischen Germanen und Gallier wird errungen um den Preis gravierender Verstöße gegen das Kriegsrecht. Das ist Dahns Zutat zum Bericht des Tacitus; er legt diese Ansicht Vespasian in den Mund:

»Durch welche Mittel hast du die Stadt der Lingonen gewonnen? Durch welche Mittel Weleda gefangen und Civilis in den Rhein gestürzt?« – »Durch Kriegslist, Imperator! Erinnre dich, ich fragte dich: in vier Monaten – um jeden Preis? Und du nicktest mir zu.« – »Aber nicht um den Preis der Ehre Roms!« donnerte Vespasianus. »Nicht durch niederträchtigen Treubruch, durch Meineid und Verrat! Elender! Ich überlegte lang, ob ich dich nicht den schändlich Getäuschten ausliefern solle.«[45]

Das ist nun nicht etwa bloß hohles Pathos, sondern eine präzise Information. Das Institut der Auslieferung an den Gegner gab es im römischen Recht als Möglichkeit der Ahndung von Verstößen gegen das ius gentium durch römische Offiziere. Es ist auch ein Fall überliefert, wo diese – zweifellos extreme – Maßnahme durchgeführt worden ist. Berühmt geworden ist dieses Rechtsinstitut dadurch, daß es den Versuch gab, es gegen Cäsar einzusetzen. Cäsar hatte die – friedliche und von den lokalen Gallierstämmen geduldete – Einwanderung zweier germanischer Stämme, der Usipeter und Tencterer, zunächst durch Androhung militärischer Gewalt gestoppt, dann unter eklatantem Bruch des Kriegsrechts die Verhandlungsführer der Germanen festgesetzt und schließlich die nichtsahnenden und unvorbereiteten Stämme überfallen und – Bewaffnete wie Unbewaffnete, Männer, Frauen und Kinder – bei kaum nennenswerten eigenen Verlusten vollständig niedergemacht. Eine Fußnote zum Thema der transkulturellen Kriege. Cäsar kaschiert sein Vorgehen in den Commentarii kaum, rechtfertigt es nur durch allgemeine Kriegsnotwendigkeit (er habe die Ruhe in Gallien aufrechterhalten müssen) und die Behauptung, er habe den Friedenswünschen der Germanen nicht trauen können.

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