Helden und andere Probleme

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Ich gebe jetzt meinen Gedanken über Helden(-Geschichten) eine etwas andere Wendung und greife das Stichwort des Narzißmus auf, das oben im Zusammenhang mit Wilhelm Tell und Achill gefallen ist.[10] Narzißmus ist nicht das, was der Alltagsgebrauch des Wortes will, Kennzeichnung enervierender Selbstverliebtheit oder (bei Machtmenschen) nicht ungefährlicher Selbstbezogenheit. Narzißmus ist, zunächst, eine Selbstbezogenheit, ohne die Menschen nicht überleben. Er ist, zum zweiten, die Triebkraft, Besonderes zu leisten, sich, wie man sagt, »hervorzutun«. Keine kulturellen Leistungen ohne den Narzißmus ihrer Urheber. Die Kultur des sogenannten »alten Griechenland« war eine, die den Narzißmus extrem belohnte. Das Lebensmotto der adligen Krieger in der Ilias (nicht nur Achills) war: »Sich hervortun und die anderen übertreffen«, bei den olympischen Spielen galt nur der Sieger etwas, ein Motto wie »Dabeisein ist alles« hätte man mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen.

Narzißmus gehört zur menschlichen Ausstattung, manche Kulturen – Kriegerkulturen – pflegen ihn und belohnen extreme Ausformungen, aber dann sprechen wir nicht mehr von einem, wenn man so will, basalen Narzißmus, der zum Überleben schlechthin gehört, sondern von einem, der sich auf diesen gleichsam draufsetzt. Mit ihm erkennt das Kind, daß es etwas Besonderes ist, und weil es in einer Phase ist, in der es entdeckt, was es alles kann, wähnt es, schlechthin alles zu können. Man nennt das »Omnipotenzgefühle«. Diese Omnipotenzgefühle werden durch die Umgebung des Heranwachsenden unterschiedlich aufgenommen und an die Realitäten angepaßt. In narzißmuspflegenden Kulturen, wie, um nicht immer die Griechen zu nennen, den Indianerkulturen Nordamerikas, bleibt ein Stück Omnipotenzgehabe auch beim Erwachsenen erhalten, jedenfalls wenn es einhergeht mit anerkannten Leistungen: Großsprecherei wird zur Tugend (wenn etwas dahinter ist, aber dann vermag der Stamm stundenlang den Gesang-Erzählungen von Kriegstaten zu lauschen). In solchen Gesellschaften haben Heldengeschichten ihren sozialen Sinn – das heißt, wenn sich solche Gesellschaften gewissermaßen als Fortsetzung jener »alten Zeiten« empfinden bzw. das, wovon erzählt wird, gar nicht als »alte Zeit«, sondern als jüngstvergangene Gegenwart empfunden wird (in gebührender Unklarheit der Distanzen wie bei Thomas Manns Joseph, wenn der etwa von Abraham und Elieser hört).

Gesellschaften, die sich institutionell mehr gefestigt haben, geben Alleingängen (zumal auf Kosten anderer) weniger Raum, hier wird, wenn nötig, der Narzißmus im Dienste individueller Grandiosität des Besserseins umgelenkt in Dienste an der Allgemeinheit, aber Heldentum ist das dann nicht mehr. Zu diesem Umbau des Belohnungssystems der Gesellschaft gehört die Frustration des Grandiositätsbegehrens, in das sich das infantile Omnipotenzgefühl gewandelt hat. Die sich grandios fühlenden Adoleszenten oder Postadoleszenten müssen, wenn sie keinen Erfolgsort in der Gesellschaft haben, gestutzt und angepaßt werden. Darum sind die Heldengeschichten am Ende immer so traurig. Helden haben keinen Platz mehr, wenn ihr Ort, das phantasierte »Früher« oder »Dort-draußen«, vergangen ist. Eine Pensionärsparkbank ist für sie, wie gesagt, nicht vorgesehen, und eine Frau kriegen sie nicht, ihre Taten mögen erzählt werden, aber kennenlernen möchte man sie nicht, man wendet sich – Dietrichs mißlungene Brautwerbung – von ihnen ab. Vielleicht ist die Melancholie der Heldengeschichten etwas wie ein Trost. Deine narzißtischen Wünsche werden nicht erfüllt, das ist traurig, aber wenn du heiratest, ist alles vorbei.

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Weibliche Helden – Heldinnen – gibt es nicht. Nicht in der Bedeutung des Wortes, um die es hier geht. Gesellschaften, die Kriegerideale pflegen, für die Heldengeschichten Seelenfutter, wenn auch unrealistisches, sein konnten, Soziotope, die Selbstberauschung an Brutalität und Großsprecherei züchteten, waren extrem machistische Gesellschaften. Die Belohnung kindlichen Omnipotenzgehabes mit anerkennend-amüsierten Blicken wird auch bei uns männlichen Kindern länger zuteil als weiblichen. Der rüpelhafte Schulhofnarzißmus ist eine männliche Angelegenheit, wie wir wissen und wie sich nicht zuletzt aus den neulich bekanntgewordenen Äußerungen eines Lehrers einer anerkannten Schule hören ließ, der das Quälen von Mitschülern als übliche Rangwettstreite seiner »jungen Löwen« bezeichnete. Wieviel von den unterschiedlichen Wegen, Aggressionen sozial zu leben, die Jungen oder Mädchen einschlagen, auf die Kultur, soziales Umfeld, Gewohnheiten, kulturunabhängige oder -übergreifende Modi geschlechtsspezifischen Heranwachsens zurückzuführen ist, kann hier getrost undiskutiert bleiben. Jedenfalls: Es gibt keine weiblichen Helden. Pippi Langstrumpf ist kein Held, vor allem ist sie genau betrachtet auch nicht weiblich.[11] Nicht, weil sie nicht ist wie Annika (ein aus Kontrastgründen etwas zu weibliches Kind), sondern weil ein so überstarkes Mädchen, um literarisch zu befriedigen, doch etwas anders wäre als ein überstarker, aber freundlicher Junge, der aussieht wie ein Mädchen. Pippi Langstrumpf ist ein Freak, mit dem wir uns, anders als mit dem Hulk, wohlfühlen können. Jeanne d’Arc mag man »Heldin« nennen, aber sie ist keine. Sie ist eine religiös verwirrte Kriegerin, dann eine Märtyrerin (oder Hexe, je nachdem). Sie gehört nicht dem Personal an, aus dem die Helden gemacht sind. Daß man aus Frauen keine Helden in dem Sinne, um den es mir hier geht, machen kann, sieht man peinlich genau an dem Versuch, mit »Wonderwoman« eine zu erfinden. Der Mythen- und Geschichtseintopf, der in diesem Film serviert wurde, zeigt die schiere Verzweiflung der Drehbuch- und Regieteams vor dieser übermenschlichen Aufgabe.[12]

Es bleibt dabei: Heldengeschichten sind Jungsgeschichten mit dem eingebauten schalen Trost: Aus der Sache mit den Helden wird nichts, aber vielleicht wird aus euch was, und mit dem Heldengetue kriegt ihr auf Dauer doch keine Frau. (Und an die Seitenblicke, die ihr abkriegt, wenn ihr wieder mal mit halb leuchtenden, halb weinenden Augen aus einem Western kommt oder eurer Geliebten erzählt, wie es euch zumute war, als ihr von Dietrichs mißlungener Brautwerbung last, habt ihr euch doch längst gewöhnt, nicht wahr?)

Untergang
Eine Fußnote zu Felix Dahns Ein Kampf um Rom

Am 27. April 1945 ließ Adolf Hitler den Schwager seiner Lebensgefährtin Eva Braun, wenig später verheiratete Eva Hitler, erschießen. Dieser Schwager hieß Hermann Fegelein und war ein Vertrauter Heinrich Himmlers gewesen, hatte im Sommer 1944 Eva Brauns Schwester Margarete geheiratet und war zum Generalleutnant der Waffen-SS befördert worden. Er gehörte zur engeren Umgebung Hitlers, hatte aber am 26. April den Bunker unter der Reichskanzlei verlassen und war in seine Wohnung in der Bleibtreustraße gefahren. Er hatte erklärt, er habe »entschieden nicht die Absicht, in Berlin zu sterben«. Von seiner Wohnung aus rief er – sturzbetrunken – Eva Braun an: »Eva, du mußt den Führer verlassen. Sei nicht so dumm, jetzt geht es um Leben und Tod.« Fegelein wurde abgeholt, ein sofort einberufenes Standgericht mußte »wegen anhaltender Volltrunkenheit« des Angeklagten abgebrochen werden. Fegelein wurde ausgenüchtert, »scharf verhört« und dann, auf Befehl Hitlers, der die Bitten Eva Brauns ignorierte, ohne weitere Verhandlungen erschossen. Daraufhin heiratete Hitler Eva Braun, machte sein Testament, und beide begingen Selbstmord. Die Leichen wurden oberirdisch verbrannt. Zu seinem Nachfolger hatte Hitler den Großadmiral Dönitz ernannt und ihm den Auftrag erteilt, den Kampf über seinen Tod hinaus bis zum Untergang fortzuführen.

Den Versuch, das Ende dieses verbrecherischen Regimes zum tragischen Opfertod zu stilisieren, hat niemand gemacht. Daß, wie die letzten Radiomeldungen es wollten, Hitler in Berlin kämpfend gefallen sei, haben wohl wenige geglaubt, aber weit wichtiger: Es hat niemanden gegeben, der es den Leuten hätte einreden können. Niemand war nach dem Ende des Regimes da, der es hätte verklären können oder dürfen. Die in Frage gekommen wären, waren tot, versteckt oder in Haft. – Als das Regime noch an der Macht gewesen war, hatte es versucht, die Katastrophen, die dem gesamten Reichsbankrott bereits vorleuchteten, mythisch aufzupulvern. Göring bemühte den Untergang der Nibelungen in Etzels ausgebrannter Halle, um Stalingrad mit dem nötigen Pathos zu versehen. Ein Minimum an Plausibilität war insofern da, als der Kriegsschauplatz im Osten lag, es gegen eine Übermacht gegangen war, und der Untergang hatte sich hingezogen. Vor allem: Der Stoff war den Lesern und Radiohörern präsent, aus Kinderbuch und Schullektüre, schließlich auch aus Fritz Langs Nibelungenfilm. Ohnehin war der Nibelungenstoff der deutsche Stoff schlechthin und über die Zeiten mit unterschiedlichen Identifikationsgehalten gehandelt worden: die reine, betrogene Kriemhild, der nur durch Verrat besiegbare Held Siegfried, dessen Name ja das Weltkriegs-Kriegsziel »Siegfrieden« geadelt hatte, wenn er auch das Ende durch Speer- bzw. Dolchstoß hinterrücks bereits ahnen ließ, und schließlich Hagen, der im Untergang Unbeugsame.

Joachim Fest, dessen Schilderung des Untergangs im Bunker ich eben gefolgt bin,[1] meint, daß ungeachtet der Tatsache, daß niemand ihn nachträglich hat mythisch verklären können, das ihn begleitende Gefühl des Untergehens durchaus nicht ohne Pathos gewesen sein mag.

Daß die NS-Rhetorik stark nekrophil war und nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selbst gerichtete Destruktionsbegehren hatte, weiß man, und schon 1939 erging Hitlers Aufforderung an die Soldaten, »bis zum letzten« ihre Pflicht zu erfüllen.[2] Am Ende stand dann auch Goebbels’ zweifellos aufrichtiges Bedauern, nicht mehr »kaputtgeschlagen« zu haben,[3] eine etwas profanisierende Wiederaufnahme von Hitlers Phantasie aus den frühen 30er Jahren über den kommenden Krieg als Untergang, in dem »wir selbst untergehend die halbe Welt mit uns in den Untergang reißen« werden.[4] Kurz, das Potential war da, und Joachim Fest meint, daß es, wenigstens bei den Truppen des »inneren Verteidigungsbereichs« durchaus aktualisiert worden sei: Man könne »ziemlich sicher sein, daß nicht wenige von ihnen sich im Schlachtgewühl der letzten Tage auf seltsam verworrene Weise entschädigt fühlten. Was dem Widerstand in ihren Augen über jede Vernunft hinaus zur Rechtfertigung verhalf, war nicht nur die tiefverankerte Vorstellung, daß alles wirklich Große in der Welt erst durch Tod und Untergang beglaubigt werde. Vielmehr fühlten sie sich auch zu handelnden Figuren im Schlußakt einer welthistorischen Tragödie berufen oder gar erhoben, und Tragödien solchen Ausmaßes, hatten sie gelernt, verleihen selbst dem sinnlos Scheinenden einen höheren Sinn. Das Vernarrtsein in ausweglose Lagen gehörte lange schon zu den charakteristischen Zügen zumindest einer Spur des deutschen Denkens.«[5]

 

Denn es gebe eine »lange philosophische Tradition«, die den »›heroischen Pessimismus‹ als Erbteil zumal der germanischen Völker ausgemacht« habe.[6] Dieser Hinweis Fests zielt auf einen, vielleicht den berühmtesten (= populärsten) Vertreter dieser Haltung, und es ist derjenige, der den nach dem Nibelungen-Tod wohl berühmtesten deutschen Untergang als Dichtung gestaltet hat: Felix Dahn nämlich in seinem Roman Ein Kampf um Rom, dem Roman über das Ende des Gotenreiches in Italien. Er galt als einer der prominentesten Vertreter des »heroischen Pessimismus« sowie als ein Prediger germanischer Traditionen. Daß es heißt, Hitler habe den Kampf um Rom, gar eine Dahn-Werkausgabe, in seinem Bücherschrank gehabt, ist zwar als on dit überliefert, aber nicht erwiesen. In Hitlers Äußerungen spielt Dahn, anders als Wagners Rienzi, auch so eine Untergangs-Dichtung,[7] keine Rolle, um es gleich vorweg zu sagen. Allerdings wurden Auszüge aus dem Roman »im ›Reichslesebuch‹ veröffentlicht und von der NS-Kulturgemeinde publiziert«.[8] Die deutsche Rückzugslinie in Italien hieß offiziell die »Gotenlinie«, und wer wußte, was damit gemeint war, hat es zuerst von Felix Dahn und dann aus dem Geschichtsbuch gelernt.

Ich gehöre zu einer Generation, bei deren männlichen Vertretern der Kampf um Rom sich noch mit einer gewissen Verläßlichkeit spätestens zur Konfirmation einfand und für die die spätere Information aus der Blechtrommel, die Mitglieder einer Jugendbande hätten Namen wie »Totila« oder »Teja« getragen, ebensowenig befremdlich ist wie die Schmidtsche Charakterisierung eines martialischen Altphilologen als »’n Kerl wie der Schwarze Teja, […], nischt wie BüfflHaut & EisnBlech«.[9] Dahn, so der Editor einer neuen Ausgabe des Kampf um Rom, die durch Datum und Erscheinungsbild ins Kielwasser der Neuübersetzung von Gibbons Untergang des römischen Reiches gesetzt ist, habe zum literarischen Establishment der Gründerzeit des neuen Reiches nach 1871 gehört und sei einer ihrer repräsentativen Autoren gewesen: »Seine herausragende Stellung belegen nicht nur die stupenden Verkaufszahlen seiner zahlreichen und wahrlich nicht billigen Bücher – deren populärstes, eben ›Ein Kampf um Rom‹, es bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges in zwei verschiedenen Ausgaben auf insgesamt 126 (!) Auflagen gebracht hatte. Gleiches bestätigen Stichproben aus dem Bereich einer für die faktische Breitenwirkung noch wichtigeren Institution, den Leihbibliotheken.«[10]

Ein Kampf um Rom also – zunächst die historischen Fakten: Der Ostgote Theoderich, als adlige Geisel am byzantinischen Hof erzogen, hatte als magister militum in byzantinischem Auftrag den germanischen Heerführer Odowakar, der in Italien von meuternden germanischen Söldnern zum König ausgerufen worden war, in drei Schlachten besiegt und auf eigene Rechnung während der Friedensverhandlungen ermordet. Theoderich gründete das Ostgotenreich in Italien, das 60 Jahre lang Bestand haben sollte, und versuchte, ein germanisches Bündnis gegen Byzanz instand zu setzen, was aber vor allem deshalb mißlang, weil sich das Frankenreich unter Chlodowech als unzuverlässiger Partner herausstellte. Das Ostgotenreich beruhte auf einer Apartheitspolitik, Ehen zwischen Germanen und Italienern waren verboten, die Goten bildeten die Militärverwaltung und überließen die Zivilverwaltung den Römern. Neben der Politik ethnischer Trennung spaltete der religiöse Gegensatz zwischen den arianischen Goten und athanasischen (katholischen) Römern das Reich, das nach Theoderichs Tod (526) unter seinen Nachfolgern rasch zugrunde ging. Diesem Untergang des Gotenreichs ist Dahns Roman gewidmet. In sieben Büchern behandelt er die letzten Tage Theoderichs, seine Nachfolge unter seinem frühermordeten Enkel Athalarich, seiner bald ermordeten Tochter Amalaswintha, dem unwürdigen, schurkischen und dann abgesetzten Theodahad, schließlich in je einem Buch den Kampf der letzten drei Gotenkönige Witichis, Totila und Teja gegen Byzanz – unter Witichis bereits beinahe bis zu Niederlage, unter Totila aber siegreich gegen den heldischen, aber ein wenig buffohaften Feldherrn Belisar, unter Teja dem Kriegstechnokraten Narses und seiner Übermacht in wenigen Monaten unterliegend. Tejas und der Goten letztes Gefecht am Fuße des Mons lactantius, eines Berges in der Nähe der Hänge des Vesuv, bildet den Schluß des Romans, und es soll laut Auskunft Dahns ebendieser Kampf gewesen sein, der das seit Jugendtagen gehegte Motiv zur Abfassung des Tausendseiters geliefert habe. Das Herzstück dieses Kampfes vermag auch Harro Müller, der Verfasser des Artikels »Historische Romane« aus dem sechsten Band von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, dem Leser nicht vorzuenthalten. »In dem noch heute gelesenen, umfangreichen und ereignisstarken historischen Roman ›Ein Kampf um Rom‹«, schreibt er, habe sich vermutlich die folgende Textstelle besonders intensiv in das Gedächtnis ihrer Leser eingegraben:

»Und nun verteidigte Teja, den Engpaß mit seinem Leib und seinem Schilde deckend, geraume, sehr geraume Zeit, ganz allein, sein Gotenvolk […] Alle schleuderten und stießen auf ihn die Lanzen: er aber fing die Lanzen sämtlich auf mit seinem Schild: und er tötete in plötzlichem Ansprung einen nach dem andern. Unzählige. Und wenn der Schild so schwer von Geschossen starrte, daß er ihn nicht mehr halten konnte, winkte er dem Schildträger, der ihm einen neuen reichte: so stand er, nicht sich wendend und etwa auf den Rücken den Schild werfend und weichend: sondern fest, wie in die Erde gemauert, stand er: dem Feinde mit der Rechten Tod bereitend, mit der Linken von sich den Tod abwehrend und immer dem Waffenträger nach neuen Schilden und neuen Speeren rufend […] Da fuhr Cethegus aus seiner langen Betäubung auf. ›Syphax, einen frischen Speer! Halt‹, rief er, ›steht, ihr Römer! Roma. Roma eterna!‹ Und hoch sich aufrichtend schritt er gegen Teja heran […] Aber auch Teja hatte diese Stimme erkannt. Von zwölf Lanzen starrte sein Schild: – er konnte ihn nicht mehr halten: aber da er den Heranschreitenden erkannte, dachte er nicht mehr des Schildwechsels. ›Keinen Schild! Mein Schlachtbeil! Rasch!‹ rief er. Und Wachis reichte ihm die Lieblingswaffe. Da ließ König Teja den Schild fallen und sprang, das Schlachtbeil schwingend, aus dem Engpaß auf Cetehegus. ›Stirb, Römer!‹ rief er. Scharf bohrten die beiden großen Feinde noch einmal Aug’ in Auge. Dann sausten Speer und Beil durch die Luft: – denn keiner dachte mehr an Abwehr. Und beide fielen.«[11]

Für Müller ist diese Textstelle die Stelle schlechthin, die die Begeisterung der Leserschaft an historischen Romanen überhaupt zu erklären vermag, zugleich aber kann man an ihr die Arbeitsweise Dahns verdeutlichen. Die Quelle Dahns ist die unter dem lakonischen Titel Das Buch über die Kriege von Prokopios von Caesarea verfaßte Geschichte der Feldzüge gegen die Perser, Vandalen und Goten unter Belisar, als dessen juristischer Berater Prokop an diesen militärischen Unternehmungen teilnahm. Es heißt dort im letzten Kapitel des achten Buchs, er wolle nun eine bemerkenswerte Schlacht schildern und die Rolle eines Mannes darin, die er nicht für geringer erachte als die irgendeines der Heroen der überkommenen Sagen, die des Teja. Und nun schildert er, was auch Dahn beschreibt: wie Teja mit nur wenigen Getreuen an der Spitze seiner Krieger den Engpaß verteidigt, bewaffnet mit Speer und Schild, die Speere mit dem Schild auffängt und in kurzen Ausfällen seine Gegner tötet. Ist der Schild mit steckengebliebenen Speeren überladen, tauscht er ihn gegen einen neuen aus, dabei weiterkämpfend, nie sich in Sicherheit bringend (hier geht der Bericht Dahns in eine beinahe wörtliche Übersetzung des Prokopischen Originals über), bis er schließlich einmal doch beim Schildwechsel einen Teil seiner Brust unglücklich entblößt und tödlich getroffen wird. Der Kampf hat, laut Prokop, ohne Unterbrechung vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag gedauert.[12] Das also ist die Quelle. »Völlig frei erfunden ist die Gestalt des römischen Helden der Erzählung, des Cethegus Cäsarius«, des anderen großen Toten im, ebenfalls frei erfundenen, finalen Zweikampf, wie Dahn im Vorwort ausdrücklich betont.[13] Dieser Cethegus, auf den ich noch zurückkommen werde, ist in mehrfacher Hinsicht als Gegenfigur zu Teja aufgebaut, mit ihm endet Rom – das eigentliche, römische Rom – ebenso wie das Gotenreich mit Teja, und es triumphiert das moderne, politische, intrigenreiche, katholische, bigotte und bürokratische Byzanz.

Teja ist durch das ganze Buch mit zwei Attributen versehen, der Harfe und dem Schlachtbeil; die Harfe muß er ablegen, das bei Prokop unerwähnte Beil zum endlichen Show-down zur Hand nehmen. Quellentreue also einer-, dramatische Steigerung andererseits. Dahn ist es um etwas wie historische Wahrheit zu tun, aber er verschmäht keineswegs kompositorische und stilistische Mittel, die der Erregungssteigerung dienlich sind.

Der Krieg, den Byzanz gegen das italische Gotenreich führte, war, was man einen »transkulturellen Krieg« nennen könnte – in Dahns Optik und auch den historischen Tatsachen gemäß. Ob man nun das kurzlebige Gotenreich nur als eines jener lebensunfähigen Gebilde, die im Zuge der Völkerwanderung entstanden und vergingen, ansehen oder, der besonderen Gestalt Theoderichs wegen, als Ausnahmeerscheinung bewerten will, die etwas wie eine immanente Chance gehabt hätte, wäre sie nicht durch Krieg zunichte gemacht worden – jedenfalls war dort ein eigenständiges kulturelles Gebilde entstanden, nicht bloße Verfallsform des römischen Italien, nicht bloßes Heerlager durch Europa vagabundierender Stämme, und der Krieg gegen das Gotenreich wurde, ähnlich wie zuvor der gegen das Vandalenreich in Nordafrika, mit einer wütenden Vehemenz geführt, die jenseits politischer Flurbereinigung steht. Es ging nicht nur um die Beseitigung von Machtfaktoren im Territorium des ehemaligen Westrom, sondern um das Ziel kultureller Homogenisierung, die kriegsförmig genozidalen Charakter annahm, wie die heutige Geschichtsschreibung feststellt. Dieses besondere Element zumindest ethnischer Säuberung, das speziell die letzte Phase des Gotenkriegs auszeichnet, wird von Felix Dahn in seinem Roman ausdrücklich betont, und zwar unter Einsatz des zu seiner Zeit keineswegs geläufigen Begriffs des Völkermords (»Mordkampf der Völker«). Diese Charakterisierung stammt von Dahn, nicht von Prokop, den er auf sie hin extrapoliert. Ähnlich, wie er die zitierte Schlußszene dramatisiert, dramatisiert er das Ende der Goten überhaupt, allerdings, wie man heute meint, in dieser Hinsicht historisch durchaus angemessen. Damit aber wird der Untergang der Goten zu einem Untergang schlechthin, zur Adaptionsvorlage für Endzeitkatastrophen brauchbar. Und sonderbar: Der glühende Nationalist Dahn schreibt einen Germanenroman voll Blut und Untergang, obwohl er doch der Reichsgründung entgegenhofft; und als das so gegründete Reich, das sich zuvor mit allem Germanenzubehör ausstaffiert hatte, in Blut und Schutt untergeht, ist es zugleich das Ende eines völkermörderischen Krieges, der eben von jenem Reich, das sich als Erbe unter anderem der untergegangenen Goten stilisiert hatte, ausgegangen war. Eine sonderbare Trias von Geschichtszahlen: 522 – 1859 /76 (Entstehungszeit des Romans) – 1945. Eine ebenso Zeiten wie Kulturen übergreifende Konstellation. Untergang also – aber es geht mir um einen anderen Untergang. Ich muß weit ausholen, ich bitte um Geduld.

 

Zunächst: Wer war dieser Felix Dahn? Will man dem Krönerschen Lexikon der Weltliteratur folgen, so war er der Verfasser von »Professorenromane[n] aufgrund umfangreicher hist. Kenntnisse ohne künstler. Werte und von rein stoffl. Interesse. Völk. Pathos und gelehrtes kulturgeschichtl. Detail ohne seel. Vertiefung, hohle Menschengestaltung u. tendenziöse Schwarzweißzeichnung mit theatral. Spannungsmomenten.«[14]

Professorenroman: also einer, der mit historischer Gelehrsamkeit gefüllt, aber von einem unkünstlerischen, ästhetisch inkompetenten Menschen geschrieben ist, einem Schriftstellerimitator sozusagen. Vom Vorsatzblatt seines Ein Kampf um Rom blickt uns tatsächlich der deutsche Professor des 19. Jahrhunderts an: gelichtete, aber noch vorzeigbare weiße Haare, Brille mit leicht ovalen Gläsern und dünnem Stahlrand, die Kragen- und obere Reverspartie von Hemd, Weste und Anzugjacke von einem langen, weißen, nicht sehr dichten und also an den Rändern flusig ausgreifenden Bart verdeckt. Auf der Straße wird er einen breitkrempigen Hut tragen, vermutete ich und hatte recht: Den trägt er auf einem anderen Bild – die fliegenden Schöße des Gehrocks muß man sich dazudenken.

George L. Mosse schreibt in seiner Studie über »die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus«, betitelt Die völkische Revolution, über Dahn dieses:

Dahn, ein Professor für Geschichte in Königsberg, hatte die frühe deutsche Geschichte zu seinem Spezialgebiet gemacht. Von der Idee des Volkes inspiriert, beschrieb er lebhaft die frühen Versuche und Leistungen des deutschen Volkes […] Durch seinen Bericht von dem Kampf um die Vorherrschaft zwischen den Goten und den Römern versuchte er jenen gefeierten nationalen Mut darzustellen, der den Goten – dieser Begriff konnte gegen Germanen ausgetauscht werden – zum Sieg verholfen hatte. Im Hinblick auf die germanische Eroberung Italiens im frühen Mittelalter war der Protagonist des Romans die ganze gotische Nation. Ihr blondes, männliches Aussehen spiegelte eine Reinheit der Seele wider, die allein schon ausreichenden Grund für den Sieg darstellte. (Symbolisch ist hierfür im Roman, daß die »italienisierte« Tochter König Theodorichs von den römischen Ausschweifungen verführt wurde und schließlich in einem römischen Bade ertrank.) In der Reinheit der Rasse waren auch jene Elemente von Aufrichtigkeit und Mut enthalten, die im Kampf gegen die Vernunft und die berechnende Schläue des Präfekten Gethegus zur Niederlage des Römers führten.[15]

Und so weiter. So kann es einem gehen, wenn man das bloß Wahrscheinliche ohne weitere Prüfung für das Wirkliche hält. Man kann nicht alles kennen, man muß Felix Dahn nicht kennen, gewiß nicht, aber man muß sich doch auf seine Informanten verlassen können. Mosse muß falsch informiert worden sein, denn weder behandelt der Roman den Sieg der Goten über Rom (sondern ihre Niederlage gegen Byzanz) noch ihren Sieg über Cethegus (der stirbt, wie wir lasen, zusammen mit dem letzten Gotenkönig), noch ist der letzte König der Goten blond, sondern er ist schwarzhaarig, außerdem huldigen jedenfalls Dahns Goten nicht dem Ideal der Rassereinheit, sondern ihr vorletzter König heiratet eine Römerin und protegiert, dem Beispiel Alexanders in Persien folgend, Mischehen. Theoderichs Tochter Amalaswintha stirbt nicht vom Luxus entnervt im Bade, sondern wird nachts unter einem Vorwand in ein Badehaus gelockt und dort ermordet. Und Dahn war kein Professor für Geschichte, sondern Jurist.

Felix Dahn wurde am 9. Februar 1834 in Hamburg als Sohn des Schauspielers und Theaterregisseurs Friedrich Dahn und der Schauspielerin Marie Dahn-Hausmann geboren. Er studierte Jura und Philosophie in München und Berlin, war dort Mitglied des Schriftstellerzirkels »Tunnel über die Spree«, dem auch Fontane angehörte. In München wurde er Privatdozent für Deutsches Recht, Rechtsphilosophie, Handelsrecht und Staatsrecht; dort schloß er sich dem literarischen Zirkel »Das Krokodil« an. 1863 wurde er Professor in Würzburg, 1872 in Königsberg, 1888 in Breslau. Am Ende war er Dr. jur., phil. et med. h. c. In zweiter Ehe war er mit Therese Dahn, der Nichte von Annette von Droste-Hülshoff, verheiratet. Die beiden Gedichtbände der Gesammelten Werke sind von beiden gemeinsam verfaßt, die Nacherzählungen der germanischen Göttersagen von ihr geschrieben, von ihm eingeleitet. Dahn starb am 3. Januar 1912 in Breslau.

Dahn war von stupendem Fleiß. Sein Werkverzeichnis im Deutschen Literaturlexikon umfaßt beinahe drei komplette Spalten, darunter juristische Werke, historische Abhandlungen, Gedichte verschiedener Genres, Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Opernlibretti.

Ich habe

schrieb er, und man kann es glauben,

vom vierzehnten Jahr an täglich meist mehr als zwölf, sehr oft mehr als vierzehn Stunden gearbeitet, richtiger gesagt mit Ausnahme von sieben Stunden Schlaf und sehr knapper Essenszeit […] in Wahrheit den ganzen Tag.[16]

Seine juristischen, rechtshistorischen, historischen und politischen Werke sind vielfältig[17] und unterschiedlich umfangreich. Ein Buch über die Varus-Schlacht hat keine 50, die Urgeschichte der germanischen Völker und die Könige der Germanen zusammen über 5.000 Seiten. – Es kommen dazu: fünf Bände Memoiren und das schriftstellerische Werk im engeren Sinne:

– diverse Gedichtbände (von der Lyrik bis zur Ballade, vom Widmungs- bis zum Weihegedicht, eine Verserzählung Rolandin)

– Opern: Armin, Der Fremdling, Theano, Der Schmidt von Gretna-Green

– Theaterstücke: Deutsche Treue. Ein vaterländisches Schauspiel, König Roderich. Ein Trauerspiel, Die Staatskunst der Frau’n. Ein Lustspiel, Sühne, Skaldenkunst, Der Kurier nach Paris. Lustspiel, Fünfzig Jahre. Festspiel

– Romane und Erzählungen aus Mittelalter und Neuzeit: Kämpfende Herzen (3 Erz.); nordisch: Sind Götter?, Die Halfred-Sigskaldsaga, Odhins Trost, Friggas Ja, Skirni, Odhins Rache, Sigwald und Sigridh, Die Finnin; allgemein: Die Kreuzfahrer (2 Erz.), Bis zum Tode getreu. Erzählung aus der Zeit Karls des Großen, Welt-Untergang, Herzog Ernst von Schwaben, Meine wälschen Ahnen. Kleine Erzählungen, Was ist Liebe?

– Romane und Erzählungen aus der Völkerwanderungszeit:[18] Ein Kampf um Rom (4 Bände), Kleine Romane aus der Völkerwanderung (13 Bände: Felicitas, Bissula, Gelimer, Die schlimmen Nonnen von Poitiers, Fredigundis, Attila, Die Bataver, Chlodovech, Vom Chiemgau, Ebroin, Am Hof Herrn Karls (4 Erz.), Stilicho, Der Vater und die Söhne), Julian der Abtrünnige (3 Bände)

Aber bevor wir zum Verfasser des Kampf um Rom zurückkommen, wäre zu fragen, wie ernst zu nehmen der Jurist und Historiker Dahn eigentlich war. Daß wir heute keinen Bezug mehr zum Zivilrechtler Dahn haben, liegt schlicht daran, daß seine Arbeiten vor das Inkrafttreten des BGB fallen und insofern von keinem dogmatischen Interesse mehr sind. Als Historiker ist Dahn heute überholt, als Rechtshistoriker wohl zu Unrecht aus dem Blick geraten.[19] Hervorheben muß man auf jeden Fall seine Studie über Prokopios von Caesarea,[20] in der er durch akribische Untersuchungen zu Stileigentümlichkeiten und Worthäufigkeiten den Nachweis führt, daß der Verfasser der Kriege und der Bauten auch der Verfasser der Anekdota, eines geheimen Skandalbuchs über die Herrschaft des Justinian, gewesen ist – eine Ansicht, die zu seiner Zeit noch äußerst umstritten war, heute aber, wohl auf Grund von Dahns Schrift und dem Umstand, daß es ihm gelungen war, den zunächst zweifelnden Theodor Mommsen zu überzeugen, wissenschaftlicher Konsens – wenn man auch vergessen zu haben scheint, wem man ihn verdankt.[21]