Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 685»
Impressum
© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-96688-099-2
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Jan J. Moreno
Mann über Bord
Verzweifelt kämpft er ums Überleben
Ein Feuersturm tobte über die Decks der „Seawind“, angefacht von der auffrischenden Brise, die die letzten glimmenden Segelfetzen von den Rahen zerrte. Zugleich riß der dunkle Qualm auf, der wie ein Leichentuch zwischen den Schiffen hing, und ließ die Umrisse der angreifenden Galeone in all ihren erschreckenden Einzelheiten deutlich werden. Unglaublich schnell hatten die Spanier ihre Geschütze nachgeladen und ausgerannt, und schon brach ein weiterer vernichtender Eisenhagel über die „Seawind“ herein. Die grellen Blitze der Pulverexplosionen schienen mit den lodernden Flammen zu verschmelzen, und das Dröhnen der spanischen Breitseite wurde eins mit dem gräßlichen Splittern, Bersten und Krachen, als der Rumpf der englischen Galeone von vorn bis achtern aufgerissen wurde. Inmitten des Chaos suchte Clinton Wingfield verzweifelt nach Schutz. Mit seinen zehn Jahren war er viel zu jung zum Sterben …
Die Hauptpersonen des Romans:
Clinton Wingfield – der Moses der Arwenacks wird von einer Riesenwelle außenbords gerissen und verschwindet spurlos.
Cynthia Elizabeth Mayfield – erweist sich als Samariterin und hat keine Angst vor Stürmen.
Dragha – befehligt als Kapitän eine Pattamar sowie eine Horde von Halsabschneidern.
Dan O’Flynn – seinen scharfen Augen haben es die Arwenacks zu verdanken, daß sie nicht in eine böse Falle tappen.
Edwin Carberry – findet die richtige Methode, um mit einem Schock fertig zu werden.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
1.
Zitternd und schweißgebadet schreckte ich hoch. Das dumpfe Wummern der Kanonen und das Ächzen und Stöhnen hämmerte mein Herz gegen die Rippen, in den Schläfen pochte das Blut, mein Atem ging kurz und keuchend.
Der ersten Regung nachgebend, sprang ich auf, um mich über Bord zu stürzen, denn die See erschien mir in dem Moment weitaus freundlicher als die vom Feuer heimgesuchten Decks, doch eine eiserne Faust hielt mich zurück. Jemand redete beschwörend auf mich ein. Er sagte Dinge, die ich nicht verstand, aber immerhin begriff ich, daß die Wirklichkeit anders aussah.
Ich hatte schlecht geträumt. Die Schreie, die ich zu hören glaubte und die mich aufgeschreckt hatten, waren meine eigenen gewesen.
Wahrscheinlich würde ich nie vergessen können …
„He, Clint, träumst du immer noch?“ Der Mann mit dem mächtigen grauen Bartgestrüpp, der sich über mich gebeugt hatte, umfaßte meine Schultern und schüttelte mich. Mein Versuch einer Gegenwehr fiel kläglich aus. Ich stammelte wirres Zeug von Feuer an Bord, Spaniern und schweren Breitseiten.
„Wenn Clinton ein paar Jahre älter wäre und ich nicht genau wüßte, daß er keinen Tropfen Rum angefaßt hat, würde ich behaupten, er hat mächtig einen geladen.“ Ein zweiter Mann schob sich in mein Blickfeld, ein kräftiger blonder Riese, zweifellos ein harter Kämpfer, doch seine hellen Augen strahlten Ruhe und Gelassenheit aus.
„Er segelt gegen die Spanier“, sagte der Bärtige und hörte endlich auf, mich durchzuwalken. „Dabei schreit er wie am Spieß.“
„Das sind die üblichen Alpdrücke“, erwiderte der andere. „Irgendwann hatte die jeder von uns, der eine eher, der andere eben später.“
Das Gespräch flutete an mir vorbei wie Brecher an einem Molenkopf. Erst allmählich wurden mir beide Gesichter vertrauter. Ich begriff, daß die letzte Fahrt der „Seawind“ vor eineinhalb Jahren im Feuer der Spanier geendet war und ich mittlerweile zu den Korsaren des Seewolfs gehörte, wenn auch als jüngstes Mitglied und damit Moses seiner Crew.
Aber schon die Tatsache, unter dem Kommando von Philip Hasard Killigrew zu segeln, war eine unsagbare Ehre für mich. Den Tag, an dem ich auf der „Respectable“ einfach über Bord sprang und mich den Arwenacks anschloß, werde ich mein Leben lang nicht vergessen.
„Alles wieder in Ordnung, Junge?“ fragte der Graubärtige, der frühere Schmied von Arwenack und darüber hinaus ein ausgezeichneter Langbogenschütze. Sein Blick drückte Besorgnis aus, und das hatte ich auf den Schiffen, auf denen ich zuvor gewesen war, nie erlebt. Dort war ein Schiffsjunge der letzte Dreck, gerade gut genug, um an ihm allen Ärger auszulassen.
„Ich habe schlecht geträumt, Sir, Mister Shane“, erwiderte ich. „Nichts von Bedeutung.“
„Geschrien hast du wie am Spieß“, sagte der Blonde. Er hieß Stenmark und war Schwede. „Blaß bist du außerdem, als wäre dir der leibhaftige Gottseibeiuns über den Weg gelaufen.“
Ich atmete tief ein und hielt die Luft an, um wieder Farbe zu kriegen. Nach einer Weile atmete ich prustend aus.
„Alles halb so schlimm, Mister Stenmark“, versicherte ich.
Er grinste. „Jetzt bist du rot wie ein frisch gerupfter Puter, Clint. Schade, daß du dich nicht sehen kannst.“
„Der Junge braucht frische Luft und Bewegung“, sagte Big Old Shane. „Kein Wunder, daß er bei dem Mief unter Deck schwermütig wird.“
So schlecht fand ich die Luft im Vorschiff der Schebecke zwar nicht, und verglichen mit dem Gestank auf der „Respectable“ waren selbst die Ausdünstungen in der Büge noch der reinste Wohlgeruch, aber Mister Shane verfolgte wohl eine Absicht, wenn er so redete. Prompt nahm er mich am Arm und führte mich nach oben.
„Der Morgen graut bereits“, sagte er, „und eine Mütze voll Schlaf hast du ohnehin erwischt, Mister Wingfield.“
Wahrscheinlich um mich aufzumuntern, nannte er mich „Mister“. Vor ihm hatte das noch niemand getan. Wozu auch? Ein zwölfjähriges Bürschchen, blond, mit Haarwirbeln, Stupsnase und grauen Augen verdiente keinen Respekt. In dem Alter war man gerade gut genug für das Prügeldasein eines Pulveraffen und Läufers.
Aber irgendwann, das hatte ich mir während der Zeit auf der „Respectable“ geschworen, würde ich aller Welt beweisen, daß ein Clinton Wingfield mehr konnte – „Kapitän Wingfield“ klang gut, „Admiral Wingfield“ noch besser, und ein „Sir“ vor dem Namen war sicher erstrebenswert. Wer ohne Adelstitel geboren wurde, mußte ihn sich eben erkämpfen.
„Hörst du überhaupt zu?“ fragte Shane plötzlich. Ich hatte ihn zwar reden hören, konnte seine Worte aber nicht wiedergeben. Selbst wenn er mir zwanzig Stockhiebe versetzt hätte, ich wußte es nicht.
„Natürlich, Mister Shane“, log ich.
Er schaute mich an und schüttelte den Kopf. „Den Eindruck hatte ich nicht, mein Junge. Aber dann los, auf was wartest du noch?“
„Äh, Sir, ich …“
Nimm deinen Mut zusammen! dachte ich. Den Kopf wird er dir schon nicht abreißen.
In dem Moment sagte der graubärtige Riese: „Genügend Farbe findest du in der Vorpiek, den Bootsmannsstuhl kannst du allein abfieren. Und wo die Achterdecksverschanzung ist, weißt du.“
„Aye, aye, Sir!“ Ich war ihm dankbar für die Hilfestellung, und dementsprechend beeilte ich mich, meine Verpflichtungen zu erfüllen.
Sir Hasard Killigrew und seine Crew waren eine verschworene Gemeinschaft, in deren Nähe ich mich wohl fühlte. Seit rund sechs Wochen befand ich mich auf der Schebecke und hatte mich – soweit ich das selbst beurteilen konnte – gut eingelebt.
Die Strahlen der aufgehenden Sonne färbten die östliche Kimm, als ich mich, mit Farbkübel und Pinsel bewaffnet, beim Wachgänger auf dem Achterdeck meldete. Mit Roger Brighton, dem Takelmeister, verband mich von Anfang an ein besonderes Verhältnis – wie auch mit den vier anderen Arwenacks, die ebenfalls zum Dienst auf die „Respectable“ gepreßt worden waren.
Unwillkürlich versteifte sich meine Haltung.
„Clint Wingfield meldet sich für Arbeit außenbords!“
Erst als der Takelmeister belustigt die Brauen hochzog, entsann ich mich, daß derlei militärisches Gehabe auf der Schebecke verpönt war. Aber so ist das eben. Wenn man alles besonders gut hinkriegen will, dann zäumt man das Pferd beim Schwanz auf.
„Ein neuer Anstrich schadet bestimmt nicht“, sagte der Takelmeister. „Das Schanzkleid ist an gut einem Dutzend Stellen ausgebessert.“
Er half mir, das Brett des Bootsmannsstuhls in die beiden Stroppen einzuhängen und abzufieren. Bei ruhiger See war die Arbeit ein Kinderspiel, und ich hatte schon Schlimmeres erlebt.
Vor einer mäßigen Brise aus leicht wechselnden südlichen Richtungen segelte die Schebecke unter Vollzeug auf Nordkurs. Der Himmel war von tiefem Blau, das Meer ebenfalls, eine sanfte Dünung strebte dem Festland entgegen.
Gestern hatten wir die Palkstraße hinter uns gelassen. Zur Zeit befanden wir uns ungefähr auf der Höhe von Nagapattinam, jedoch außer Sichtweite der Küste. Ich schätzte die Entfernung auf etwa fünfzehn bis zwanzig Seemeilen.
Zufällig hatte ich aufgeschnappt, daß die Hafenstadt Karikal, nur wenig nördlich von Nagapattinam gelegen, unter portugiesischer Herrschaft stand. Dan O’Flynn schien das aus den Karten herausgelesen zu haben. Es wunderte mich nicht, daß der Seewolf jede neuerliche Feindberührung vermeiden und statt dessen möglichst schnell Madras anlaufen wollte, um unsere wertvolle Ladung zu löschen. In Mannar auf Ceylon hatten wir wieder mal erfahren, daß wir nicht umsichtig genug sein konnten. Dabei scheuten die Arwenacks gewiß keine Auseinandersetzungen, gleichgültig, ob sie mit Fäusten oder mit Schiffsgeschützen ausgetragen wurden.
Soviel ich inzwischen wußte, hatte Philip Hasard Killigrew dem Maharadscha von Bombay sein Wort gegeben, eine Fracht von insgesamt elf Tonnen Gold und Silber sicher dem indischen Mogulkaiser Akbar zu überstellen. Der Sultan von Golkonda würde die Ladung in Madras übernehmen und weiterleiten, die Gegenleistung des Maharadschas bestand in Handelskonzessionen für die englische Krone.
Schon früh am Morgen brannte die Sonne heiß vom nahezu wolkenlosen Himmel herab. Obwohl ich nur ein leichtes Leinenhemd und eine unterhalb der Knie abgeschnittene Hose trug, schwitzte ich.
Ich begann am Steuerbordschanzkleid mit der Arbeit und fierte mich langsam weiter ab. Gegen neun Uhr erhielten die Stückpforten des Hauptdecks einen neuen Anstrich. Die See war inzwischen noch ruhiger geworden und lag fast spiegelglatt vor uns.
„Segel Steuerbord voraus!“ hallte Dan O’Flynns Ausruf über Deck. Er stand in der Tonne am Großmast und hielt Ausguck. „Es ist eine Galeone auf Parallelkurs!“
Mir schossen Tränen in die Augen, als ich in die angegebene Richtung spähte, denn die Sonne blendete. Flüchtig fragte ich mich, wie der Navigator in dem Gleißen und Flimmern überhaupt etwas erkennen konnte.
„Das sind Portugiesen“, hörte ich den Seewolf sagen. Er stand gemeinsam mit Don Juan de Alcazar auf der Höhe des Besanmastes.
Der Spanier erwiderte: „Vermutlich haben sie uns noch nicht entdeckt. Ihr Ziel dürfte Karikal sein.“
„Entfernung acht bis neun Meilen!“ meldete Dan O’Flynn. Augenblicke später fügte er hinzu: „Das Schiff dreht ab, ich sehe es kaum noch.“
Ich widmete mich wieder meiner Arbeit. Die Farbe trocknete sofort auf den Planken. Drei Yards über mir führten der Seewolf und Señor Alcazar ihre Unterhaltung weiter. Sie sprachen über die Portugiesen, über das Gold des Maharadschas und schließlich auch über das Wetter.
Die Luft war mittlerweile zum Schneiden, im Südosten aufziehende Düsternis verhieß ein nahendes Gewitter, und tatsächlich war bald darauf ein fernes Grollen zu vernehmen.
Nach einer Weile wurde das Geräusch lauter. Aber das war kein Donnern, sondern eher ein dumpfes, anhaltendes Rumoren, das von überallher zu erklingen schien, sogar aus dem Wasser. Die Schwingungen übertrugen sich auf den Bootsmannsstuhl und ließen ihn ohne mein Zutun gegen den Schiffsrumpf stoßen, ja sogar die Schebecke zitterte plötzlich. Auf dem Wasser bildeten sich konzentrische Wellen, als hätte jemand einen Stein hineingeworfen. Aber das war natürlich Unsinn, denn ein solcher Stein hätte riesig sein müssen.
Ich hörte einige Arwenacks diskutieren. Sie sprachen von einem verheerenden Gewitter, das sich hinter der Kimm austobte. Schwül genug war es ja.
Während der Wind böig auffrischte, schleppte ich meinen zweiten Farbkübel an Deck. Vorübergehend entstand Schaum auf den Wellen, doch das Meer blieb weiterhin ungewöhnlich ruhig.
Die Gewitterwolke stand nahezu unverändert in Südost. Ich war überzeugt davon, daß sich dort über dem Indischen Ozean ein verheerendes Unwetter zusammenbraute.
Niemand warnte mich davor, das monotone Streichen außenbords fortzusetzen. Aber schließlich konnte keiner der Männer wissen, was das dumpfe Rumoren wirklich bedeutete, das wenig später abermals anhob.
Diesmal drang das Grollen aus der Tiefe des Meeres herauf. Die Dünung brach schlagartig zusammen und wich kabbeliger See.
Auf dem schwankenden Bootsmannsstuhl hatte ich Mühe, den Farbkübel festzuhalten. Fasziniert und entsetzt zugleich, starrte ich nach achtern, unfähig zu begreifen, was sich in Gedankenschnelle abspielte.
Wenige Meilen hinter der Schebecke schäumte und brodelte die See von einem Augenblick zum anderen – wie in einem Kochtopf, in dem das Wasser zu sieden beginnt. Oder noch besser: wie die Fontänen, die schlecht gezielte Kanonenkugeln aus der See stanzen.
Eine unheimliche Wasserwand baute sich auf – gigantisch, furchterregend, tödlich.
Turmhoch wuchs die Mauer hoch, das Grollen steigerte sich zum infernalischen Lärm.
Ich hörte den Seewolf Befehle brüllen, aber ich war unfähig, aufzuentern. Ich konnte den Blick nicht von der riesigen Welle lösen, die sich schäumend und tosend heranwälzte.
Der Kaventsmann war mächtig genug, um selbst ein Schiff wie die Schebecke zu zerschmettern.
„Clinton!“ Jemand brüllte aus Leibeskräften meinen Namen. Vielleicht war es der Profos, möglicherweise aber auch Mister Shane. Mehr verstand ich nicht.
Die Riesenwelle löste in mir ähnliche Empfindungen aus wie der starre Blick einer Schlange beim Kaninchen, das sich danach bereitwillig verschlingen läßt. Ich hatte von solchen extremen Einzelseen gehört, ihr Auftreten jedoch stets in das Reich überschäumender Phantasie verwiesen. Schließlich gab es viele Seeleute, die nur dann glücklich waren, wenn sie den Schiffsjungen gehörig Angst einjagen konnten.
Auf der Schebecke wurde Ruder gelegt. Die Arwenacks versuchten, dem Kaventsmann auszuweichen. Ich registrierte das aber nur am Rande.
Das dumpfe Grollen schien nicht mehr enden zu wollen. Selbst die Luft zitterte. Das Zentrum des Seebebens – der Begriff entstand ohne mein Zutun in meinen Gedanken – lag offenbar nur wenige Meilen hinter uns. Falls sich jetzt ein feuerspeiender Schlund auftat, war es um die Schebecke ohnehin geschehen.
Jäh wurde das Schiff nach Backbord gedrückt, danach neigte es sich ebenso rasend schnell zur anderen Seite. Der Bootsmannsstuhl pendelte frei über dem Wasser, ich verlor den Farbkübel, dessen Inhalt ich teilweise über mich ergoß, ließ den Pinsel fallen und klammerte mich an den Tauen fest.
Während die Schebecke von den Randwirbeln eines trichterförmigen Sogs gebeutelt wurde, der sich gurgelnd und schmatzend wie ein Tor zur Hölle öffnete, donnerte unaufhaltsam von achtern die gut zehn Yards hohe Wasserwand heran, schäumend und tosend und alles unter sich begrabend wie eine gewaltige Lawine.
Was mir an jenem verhängnisvollen Morgen im Oktober 1599 wie eine kleine Ewigkeit anmutete, währte in Wirklichkeit nur wenige Minuten. Ich empfand mehr Angst und Entsetzen als jemals zuvor. Heute sehe ich das alles mit anderen Augen und würde sicher auch anders reagieren, doch kann ich es mir keineswegs verübeln, daß ich mich hilfesuchend an ein Tau klammerte, statt aufzuentern, solange das noch möglich war.
Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel und gleich darauf, als die Riesenwelle weder abdrehte noch in sich zusammensank, ein zweites.
Mir erschien es, als wachse die See bis in den Himmel. Sie riß ein gigantisches, geiferndes Maul auf, um die Schebecke zu verschlingen. Schaum und Gischt erweckten tatsächlich den Eindruck riesiger Fangzähne, die sich alles zerstörend in die Planken des Schiffes bohren würden.
Viel zu langsam liefen die Arwenacks nach Backbord ab. Der Strudel unter dem Heck weitete sich aus und war erfüllt von lichtloser Schwärze, die meinen Blick wie magisch anzog.
Spring! hämmerte es verhängnisvoll in meinem Kopf. Laß dich einfach fallen! Nur in der Tiefe ist Sicherheit.
Schon hing ich nur mehr mit einem Arm am Stropp, der Bootsmannsstuhl neigte sich gefährlich weit über, als wolle er sich aufbäumen und mich abschütteln. Wild pochte das Herz gegen meine Rippen, ich spürte Übelkeit, die mir alles gleichgültig erscheinen ließ, und war mir dennoch irgendwie bewußt, daß ich dem nicht nachgeben durfte.
Heute glaube ich, daß ich trotz aller widersprüchlichen Empfindungen aus Leibeskräften schrie – bis der Kaventsmann die Schebecke einholte und wie ein welkes Blatt im Herbstwind herumwarf. Gischt und Schaum und gleich darauf eine erstickende Wasserflut schlugen über mir zusammen.
Ich verlor den Halt, krachte gegen die Planken des Schiffsrumpfs, schluckte Wasser, als mir der stechende Schmerz schier die Besinnung raubte, und hatte das Gefühl, rasend schnell in eine endlose Tiefe zu stürzen.
Das Salzwasser brannte in meinen Augen, in Mund und Nase. Wie durch einen dichter werdenden Schleier hindurch sah ich etwas Großes, Dunkles vorüberhuschen. Das mußte die Schebecke gewesen sein. Ich wurde abgetrieben, von der Woge mitgerissen, aber trotz aller Gleichgültigkeit, die mich umfing, wollte ich weiterleben. Ich durfte nicht aufgeben, nicht nach allem, was ich in den vergangenen Jahren schon durchgestanden hatte.
Das Gesicht meines Vaters – bärtig, wie ich es in Erinnerung bewahrt hatte – erschien vor meinem inneren Auge.
„Clinton“, glaubte ich, ihn sagen zu hören, „leben heißt immerfort kämpfen. Trotzdem darfst du nie müde werden, diesen Kampf durchzustehen, denn wer einmal resigniert, geht sang- und klanglos unter.“
Nie hatte ich den tieferen Sinn, der in seinen Worten verborgen lag, so deutlich verstanden.
Die Luft wurde mir knapp. Mit Armen und Beinen rudernd, kämpfte ich gegen den Sog an, der mich in die Tiefe zerrte. Und ich überwand den Zwang, einfach einzuatmen.
„Du schaffst es, Clinton Wingfield – laß dich nicht unterkriegen.“
Wo war oben, wo unten? Ich hatte jede Orientierung verloren und wußte nur, daß mich eine gigantische Flutwelle gefangen hielt, die der fernen Küste entgegenstrebte.
Mein Strampeln half wenig, ich schaffte es nicht bis an die Oberfläche.
Die Atemnot drohte meinen Brustkorb zu zersprengen, Schmiedehämmer dröhnten in meinem Schädel.
Danach endeten alle Wahrnehmungen in einer wohltuenden, gnädigen Ohnmacht.
2.
Auf den Decks der Schebecke herrschte Wuhling. Obwohl die Riesenwelle das Schiff nur gestreift hatte, stand das Wasser knapp zwei Fuß hoch. Es floß denkbar schlecht ab, da die Speigatten mit weggeschwemmten Tauen, zerfetzten Persennings und Unmengen von Seegras verstopft wurden.
Gefährlich weit hatte sich der Dreimaster vor der tobenden See übergelegt, und es grenzte an ein Wunder, daß sich die Ladung nicht verschoben hatte. Eine schwere Schlagseite oder gar ein Kentern wäre die Folge gewesen.
Die über das Schiff hinwegflutende Woge hatte sogar den Seewolf von den Beinen gerissen und bis an die Backbordverschanzung gespült. Vor Nässe triefend, hastete er nach vorn zur Querbalustrade.
„Schadensmeldung! Sorgt dafür, daß das Wasser schneller abläuft!“
Er mußte brüllen, um das Knattern der Segel zu übertönen. Die Schebecke drohte querzuschlagen, weil der Wind weiter aufbriste und ein landwärts gerichteter Wellengang das Schiff von der Seite traf.
Die Arwenacks hatten alle Hände voll zu tun. Sie mußten Fock und Großsegel herumholen und neu trimmen, das Besansegel ins Gei hängen sowie die Speigatten säubern.
Über die Niedergänge und die ungeschützte Kuhlgräting war viel Wasser in die unteren Räume gedrungen. Es galt, kräftig zu lenzen.
„Ausfälle?“
„Nicht der Rede wert, Sir!“ meldete Ben Brighton, der Erste Offizier. „Einige Männer haben Prellungen und Abschürfungen erlitten, aber keine ernsthaften Verletzungen.“
„Wir hatten unverschämtes Glück“, sagte der Profos. „Wenn uns das Seebeben voll erwischt hätte …“
Hasard blickte sich um. Bis zur Kimm lag das Meer fast wieder so ruhig wie zuvor. Keine zweite Riesenwelle baute sich auf.
Lediglich im Südosten verdunkelte sich der Himmel weiter. Dort zog tatsächlich ein heftiges Gewitter heran.
„Ist Clinton an Bord?“
Niemand hatte in der Hektik auf den Schiffsjungen geachtet. Big Old Shanes Frage wurde von Deck zu Deck weitergegeben. Wenig später stand fest, daß Wingfield verschwunden war. Auch der Bootsmannsstuhl war fort, lediglich die Stroppen hingen noch außenbords.
Der Seewolf ließ beidrehen.
Es stellte sich heraus, daß niemand wußte, wo der Junge abgeblieben war.
„Wahrscheinlich wurde er von dem Kaventsmann überrascht“, sagte Shane bedrückt. „In dem Fall hat ihn die See mitgerissen.“
„Er ist kein schlechter Schwimmer. Bestimmt hält er sich über Wasser.“
Das Meer war nicht kalt, und wenn Clinton Wingfield von der Riesenwelle wieder freigegeben worden war, bestand durchaus die Möglichkeit, daß ihn die Arwenacks sogar nach einem Tag noch leidlich wohlbehalten wieder aufnehmen konnten.
„Dan“, befahl der Seewolf, „du bleibst im Ausguck! Die Freiwache ist auch für alle anderen aufgehoben.“
Noch herrschte Zuversicht. Die meisten vertrauten darauf, daß sie Clinton Wingfield schnell aufspüren würden. Den Pessimisten in der Mannschaft wurde entgegengehalten, daß schließlich auch die Zwillinge und Old Donegal wieder aufgetaucht seien, obwohl nach Wochen vergeblicher Suche jeder überzeugt gewesen war, daß sie im Sturm den Tod gefunden hätten. Der vielleicht entscheidende Unterschied bestand nur darin, daß Clinton Wingfield kein Boot zur Verfügung stand, das ihn vor einer allmählichen Unterkühlung schützte.
In engen Schlägen kreuzte die Schebecke innerhalb eines Gebietes von knapp zwei Seemeilen nordwestlich ihrer anfänglichen Position. Dan O’Flynn stierte sich die Augen aus, bis er schließlich sogar unter geschlossenen Lidern nur mehr grelle Reflexe wahrzunehmen glaubte.
Die anfängliche Hoffnung, den Jungen schnell zu finden, wich zunehmender Enttäuschung. Mehr und mehr hielten die Männer auch nach Anzeichen Ausschau, ob in dem Gebiet Haie ihr Unwesen trieben.
Gegen elf Uhr bewölkte sich der Himmel. Die Schlagschatten überzogen das Meer mit einer matten, bleiernen Schwärze, in der ein blonder Haarschopf wohl ebenso schwer zu entdecken war wie zuvor im gleißenden Sonnenschein.
Eine halbe Stunde später spaltete der erste vielfach verzweigte Blitz das Firmament. Ein schmetternder Donnerschlag ließ die Arwenacks zusammenzucken.
Sturm zog auf und peitschte die Wellen höher, dann öffnete der Himmel seine Schleusen. Es schüttete wie aus Kübeln. Die Sicht verringerte sich auf ein Minimum. Unter diesen Umständen wurde es schwer, wenn nicht gar unmöglich, den Jungen zu entdecken.
Irgendwann spürte ich die Bewegung – ein stetes, unregelmäßiges Auf und Ab, verbunden mit schmatzenden, glucksenden Geräuschen, die ich mir noch nicht zu erklären wußte. Mein Rücken und die Schultern brannten, während der Rest meines Körpers offenbar von Wasser umspült wurde.
Ich nahm die Gegebenheiten hin, ohne mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Mein Zustand glich wohl einem sanften Dahindämmern zwischen Traum und Wachen, und zu dem Zeitpunkt wäre ich bestimmt nicht in der Lage gewesen, etwas zu meiner Rettung zu tun. Ich glaube, daß ich nicht mal die Muskeln unter Kontrolle hatte, denn als Wasser mein Gesicht überspülte, konnte ich kaum den Kopf heben.
Erst allmählich wurde ich mir meiner Existenz bewußt. Die unheimliche, gischtende Wasserwand, das Entsetzen, das ich verspürte. Noch einmal durchlebte ich jene schrecklichen Augenblicke, und abermals konnte ich nicht anders, als meiner Furcht freien Lauf zu lassen.
Mein gequältes Stöhnen brachte mich vollends in die Wirklichkeit zurück.
Ich lag auf dem Bauch, auf der Planke, die mir noch vor kurzem als Bootsmannsstuhl gedient hatte. Ein Stück meiner Erinnerung fehlte. Ich entsann mich nicht, daß ich inmitten der Riesenwelle Halt gefunden und mich festgekrallt, geschweige denn, daß ich es geschafft hatte – unter welchen Umständen auch immer –, mich auf das Brett zu ziehen.
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand im Zenit noch nicht erreicht. Ich schätzte, daß es kurz vor oder nach vier Glasen war, also gegen zehn Uhr. Aber hatte ich wirklich eine Stunde lang ohne Besinnung im Wasser gelegen?
Weitaus wichtiger erschien mir die Frage, was aus der Schebecke der Seewölfe geworden war. Die Planke allein war gewiß noch kein Indiz für den Untergang des Schiffes.
Mühsam stemmte ich mich hoch, darauf bedacht, den Halt zu bewahren.
Das Meer war überraschend ruhig. Dennoch reichte meine Sicht kaum weiter als einige hundert Yards.
Der Wind wehte anhaltend aus Südosten und trieb mich langsam dem fernen Festland entgegen. Allerdings trug er auch die Schwärze des Unwetters heran. Ich begann zu ahnen, daß sich da einiges zusammenbraute.
Ich war allein. Kein Vogel begleitete mich, nur die Düsternis, die sich weiter zusammenzog.
Als die ersten Wolken die Sonne verdeckten, begann ich zu frösteln. Nur noch einzelne Sonnenstrahlen huschten über die See, aber einer von ihnen streifte kurz ein Segel und ließ es strahlend hell aufleuchten.
Ich sah nicht viel, nur die oberste Ecke eines Lateinersegels, doch das allein genügte, mein Herz schneller schlagen zu lassen. Keinen Augenblick lang zweifelte ich daran, daß ich die Schebecke vor mir hatte, zumal ich bei längerem Hinsehen drei winzige Mastspitzen erkannte.
„Hierher! Hier bin ich!“ Ich begann aus Leibeskräften zu schreien und – soweit es mir möglich war, ohne den Halt zu verlieren – zu winken.
Erst nach einer Weile sagte ich mir, daß es sinnlos war, gegen den Wind anzubrüllen, und ob mich die Arwenacks schon entdecken konnten, blieb dahingestellt. Immerhin betrug die Entfernung bestimmt zwei bis drei Meilen, da ich andernfalls mehr als nur die Toppen gesehen hätte.
Ich konnte nicht erkennen, in welche Richtung das Schiff segelte, aber wenn es eine Rettung geben sollte, mußte ich so nahe wie möglich heran. Also begann ich mit den Händen zu paddeln. Anfangs war mir das sogar gegen die Strömung möglich, aber dann ließen meine Kräfte nach. Ich schürfte mir an der Planke die Oberarme auf, und der stärker werdende Wind setzte meinen verzweifelten Bemühungen ein Ende.
Ungestüm brach das Gewitter los. Der Regen, der wenig später fiel, glich einer Sintflut.
Das Meer dampfte und brodelte, von der Schebecke war längst nichts mehr zu sehen, und die Strömung trieb mich schneller ab. Vielleicht würde ich an Land gespült werden, ich konnte es nur hoffen.
Ich klammerte mich an der Planke fest und überließ mich den Elementen. Und ich begann zu beten, stockend zuerst und nach den richtigen Worten suchend, aber dann immer flüssiger. Wenn der Herr gnädig war, schickte er mir die Rettung, wie er es schon einmal getan hatte.
Der anhaltende Donner und die flackernden Blitze erinnerten mich an Geschützfeuer.
War da nicht Gefechtslärm? Die Schreie Sterbender und Verwundeter gellten in meinen Ohren.
Unwillkürlich hob ich den Blick. Dunst hatte sich zusammengezogen und verschleierte wie Pulverqualm die Sicht. Dennoch mußten jeden Moment die Umrisse eines der Schiffe sichtbar werden.
Ein ohrenbetäubender Donnerschlag schreckte mich auf.
Was war los mit mir? Begann so das Ende? Ich hatte gehört, daß Menschen vor ihrem Tod noch einmal alle Höhen und Tiefen ihres Daseins erlebten.
Hilf mir, Gott, laß mich nicht sterben! Alles in mir bäumte sich auf. Verzweifelt versuchte ich, an angenehmere Dinge zu denken, an meine Begegnung mit den Arwenacks, an die Zeit auf der Schebecke – aber die Erinnerungen waren geweckt und ließen sich nicht verdrängen …
März 1598.
Seit zwei Tagen hatten wir wieder stürmische See, und ebensolange hatte ich keinen Bissen zu mir genommen, weil ich alles sofort erbrach. Mir war sterbenselend zumute. Unablässig wälzte ich mich in meiner Koje im stickigen Mief des Vorschiffs und fand weder Schlaf noch Erleichterung.
Der kostenlose Auszug ist beendet.