Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 662»
Impressum
© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-96688-076-3
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Jan J. Moreno
Fahr zur Hölle!
Ein Spanier sucht Rache
„Seit vierzehn Tagen kreuzen wir bei widrigem Wind und Regenwetter vor den Islas Canarias. Die Männer glauben nicht mehr daran, daß uns der englische Bastard noch vor die Rohre läuft. Sie reden hinter meinem Rücken und hoffen, ich würde es nicht hören. Aber ich weiß, daß wir den Seewolf aufspüren. Wir werden sein Schiff und seine Mannschaft zu den Fischen schicken und ihn selbst der Garotte überantworten. Fahr zur Hölle, Killigrew!“
Logbucheintragung auf der „Aguila“, Aufzeichnung des Kommandanten César Garcia vom 5. November 1598, fünf Glasen der Morgenwache.
Die Hauptpersonen des Romans:
César Garcia – der Kommandant der Viermast-Galeone „Aguila“ kennt nur ein Ziel: den Bastard Killigrew zur Hölle fahren zu lassen.
Francis Ruthland – der Kapitän der „Ghost“ würde sich selbst mit dem Teufel verbrüdern, um den Seewolf zur Strecke zu bringen.
Julián Carmona und Pilar Aparicio – werden als Schiffbrüchige von den Arwenacks aus dem Meer gefischt, aber einiges stimmt mit ihnen nicht.
Philip Hasard Killigrew – segelt mit seinen Arwenacks in eine böse Falle, die alle Kopf und Kragen kosten kann.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
1.
Dichter Nebel lag über der See, die mehr denn je wie flüssiges Blei wirkte. Kaum eine Welle trübte die spiegelglatte, dunkle Fläche.
Der Wind war eingeschlafen. Schlaff und von der Feuchtigkeit des morgendlichen Dunstes glänzend, hing das Tuch von den Rahen. Irgendwo tropfte Wasser auf die Planken, der Laut hallte dumpf durch die Stille, nur hin und wieder von einem gespenstischen Ächzen und Knarren aus der Takelage begleitet.
Die Sonne schimmerte fahl durch den Dunst, der sich zum Nieselregen verdichtete, die Sicht reichte kaum weiter als siebzig Schritt.
Nach dem dritten Doppelschlag der Schiffsglocke erschien der Kapitän an Deck. Er ging seine Runde, und selbst Hagel und Blitzschlag hätten ihn nicht von dieser Gewohnheit abhalten können.
„Keine Vorkommnisse!“ meldeten die Wachen. Wegen des schlechten Wetters hatte Garcia ihre Zahl verdoppelt.
Der Kapitän herrschte einen der Männer auf dem Achterdeck an: „Du kennst Wind und Wolken besser als jeder andere. Wie lange hält die Flaute an?“
„Ich weiß nicht, Señor Capitán“, antwortete Julián Carmona, der aussah, als habe er die Schwindsucht. Seine von Bartstoppeln übersäte lederartige Haut spannte sich straff über die kantig hervortretenden Wangenknochen. Carmona hatte nie den Ehrgeiz gehabt, mehr als nur Decksmann zu sein.
Ungeduldig klopfte Garcia mit dem Degen gegen seine Stiefel.
„Wir setzen die Boote aus!“ befahl er. „Die ‚Aguila‘ wird in Schlepp genommen.“
„Si, Capitán.“
„Ich erwarte, daß die ‚Aguila‘ in spätestens einer halben Stunde wieder Fahrt läuft. Die Männer sollen pullen, bis sie umfallen.“
„Natürlich, Capitán.“
César Garcia verharrte an der Steuerbordverschanzung. Vergeblich versuchte er, die träge dahintreibenden Nebelschwaden mit seinen Blicken zu durchdringen. Nur wenige Meilen querab erhob sich eine der schönsten Inseln dieses Gebietes. Der schneebedeckte Gipfel des erloschenen Vulkans war bei besserem Wetter weithin zu sehen.
Endlich wurden Stimmen laut, und Männer erschienen auf der Kuhl, um die Boote abzufieren. Garcia haßte die Ruhe an Bord ärger als die Pest, er brauchte stets Bewegung um sich her. Schließlich war die „Aguila“ ein Kriegsschiff Seiner Majestät Philipp III. von Spanien und keine Handelsgaleone, auf der jeder Schlendrian durchging.
Obwohl die Decksleute schnell und präzise arbeiteten, war Garcia überzeugt, daß sie noch nicht ihr Letztes gaben. Er winkte den ersten Offizier zu sich heran.
Juarez Molina, knapp sechs Fuß groß, überragte ihn um Haupteslänge. Sein Stoppelhaarschnitt ließ ihn energisch erscheinen, was sicher keine Fehleinschätzung bedeutete. Als Folge einer Auseinandersetzung mit Negersklaven war seine linke Hand steif, er konnte die Finger nur noch bewegen, wenn er die Rechte zu Hilfe nahm.
„Capitán?“ fragte Molina.
Garcia deutete mit dem Degen zur Kuhl.
„Das geht zu langsam“, sagte er. „Falls uns der englische Bastard entwischt, lasse ich jeden Mann auspeitschen.“
Molinas Haltung versteifte sich. Er nickte knapp und stieg zur Kuhl hinunter. Augenblicke später enterten acht kräftige Kerle in die erste Jolle ab, kaum daß sie ins Wasser abgefiert worden war. Das zweite Boot folgte an Backbord. Die Männer pullten, als gelte es, ihr Leben zu retten.
Die Flaute hielt an. Garcia murmelte eine Reihe wüster Verwünschungen, während sein Blick über die schlaffen Segel wanderte.
Paktierte der Seewolf wirklich mit dem Teufel, wie mancherorts behauptet wurde? Die plötzliche und anhaltende Windstille war ein guter Nährboden für solche Überlegungen.
César Garcia ballte die Hände zu Fäusten, bis die Nägel schmerzhaft ins Fleisch einschnitten.
„Philip Hasard Killigrew“, er sprach den Namen voll Verachtung aus, „nichts wird dir mehr nutzen!“
Mühsam hatte der Capitán alle Informationen zusammengetragen, deren er habhaft werden konnte. Er hatte mit dem gemeinen Volk auf den Inseln gesprochen, mit Fischern, Soldaten und Kauffahrern, und ihre Aussagen füllten einige Dutzend Seiten des Logbuchs. Aber je mehr aufgeschrieben worden war, desto deutlicher traten Irrtümer und falsche Behauptungen hervor. Durchaus glaubwürdige Zeugen behaupteten, Killigrew zur selben Stunde an verschiedenen Orten gesehen zu haben, die Dutzende von Seemeilen voneinander entfernt lagen.
„Und wenn er selbst ein Teufel wäre, ich bringe ihn nach Spanien!“ Wütend stieß César Garcia den Degen in die Scheide zurück.
Die „Aguila“ hatte langsame Fahrt aufgenommen. Von den Jollen gezogen, lief sie wieder Kurs Westsüdwest, parallel zur Küste.
Angeblich diente eine versteckte Bucht den Piraten als Unterschlupf. Sie lag nur noch zwei Seemeilen voraus – eine geradezu lächerliche Entfernung. Garcia kannte inzwischen jeden Strich auf der Karte auswendig, die er vor drei Tagen von einem Kaufmann auf Lanzarote erhalten hatte.
Das heißt, der Kerl hatte sie erst herausgerückt, als Garcias Degen seinem Lebensnerv schon bedrohlich nahe gewesen war. Der Kapitän hatte ihn dennoch nicht geschont, denn ein Spanier, der mit dem Seewolf, paktierte und seine Beute verhökerte, verdiente keine Gnade.
Sieben Glasen.
Der Nebel hielt an und schien lediglich in östlicher Richtung ein wenig aufzureißen. Die Sonne verbreitete einen trüben rötlichen Schein.
„Bootsmann!“ brüllte Garcia. „Lassen Sie die Schlagzahl erhöhen! Ich dulde keine Lahmärsche auf meinem Schiff.“
Der Bootsmann gab den Befehl weiter. Er brüllte noch lauter als der Kapitän.
In den Jollen sagte einer, der Capitán könne ihn kreuzweise. Aber das hörte niemand an Deck. Danach pullten die Männer, als säße ihnen der Leibhaftige im Nacken.
Ein dumpfes Grollen hallte durch den Nebel. Im einen Moment schien es anzuschwellen, im nächsten ebbte es schon wieder ab.
Angespannt lauschte der Kapitän. Zweifellos feuerten in einiger Entfernung Schiffsgeschütze.
César Garcias Hände verkrampften sich um den Handlauf der Balustrade. Er wußte, daß er den Seewolf endlich aufgespürt hatte.
„Capitán …“ Der Erste hastete den Niedergang hinauf.
Garcia winkte heftig ab. Wieder rollte ferner Geschützdonner heran, und diesmal war er deutlicher zu vernehmen.
„Beruhigen Sie sich, Mann!“ herrschte der Kapitän seinen Ersten Offizier an. „Oder gibt es einen triftigen Grund, die Disziplin zu vernachlässigen?“
Juarez Molina nahm Haltung an.
„Nein, Capitán.“
Garcia nickte zufrieden. Vorübergehend taxierte sein Blick den Ersten.
„Ihre Uniform sitzt schlecht“, sagte er tadelnd. „Bringen Sie das in Ordnung, und dann befehlen Sie Gefechtsbereitschaft!“
Wenig später nahmen die Soldaten auf der Kuhl Aufstellung. Ihre Helme und Brustpanzer glänzten wie frisch poliert, jedoch verwischte die Nebelnässe diesen Eindruck schnell. Auf den Brustpanzern war der Schiffsname eingraviert.
„Die Geschütze klarieren!“ befahl Garcia. Er würde alles daransetzen, el Lobo del Mar, den Seewolf, zur Strecke zu bringen.
„Wind!“ hallte in dem Moment ein freudiger Aufschrei über Deck.
Die bis eben noch schlaff hängenden Segel begannen zu schlagen. Aber die Brise reichte nicht, um das Tuch wirklich zu füllen. Es blieb bei einem kurzen Zwischenspiel.
Die fernen Geschütze verstummten. Da der Nebel alle Geräusche verzerrte, war es ohnehin unmöglich gewesen, die genaue Richtung zu bestimmen.
César Garcia begann eine unruhige Wanderung wie ein gefangenes Tier im Käfig. Seine Haltung erinnerte an eine sprungbereite Raubkatze.
„Culverinen auf dem Batteriedeck klar zum Ausrennen! Kanonen und Drehbassen auf den Oberdecks feuerbereit!“ meldeten endlich die Stückmeister.
Der Kapitän starrte wortlos in den Nebel, als könne er die wogenden Schwaden allein durch die Kraft seines Geistes vertreiben. Ein harter Zug lag um seine Mundwinkel.
Wie lange er dastand und die unbewegte Wasserfläche fixierte, vermochte er später nicht zu sagen. Er schreckte erst auf, als ein Ruf aus dem Großmars erklang.
„Der Nebel weicht zurück!“
An Deck war davon noch nichts zu merken, die Suppe war so dicht wie zuvor. Aber dann fegte eine steife Brise aus Süd heran und wirbelte den Dunst durcheinander.
Die Segel killten, bis sie endlich dichtgeholt wurden. Die „Aguila“ nahm Fahrt auf, und diesmal hielt der Wind an. Ausgeprägte Wellen entstanden, vereinzelt wirbelte sogar Gischt über das Schanzkleid.
„Die Boote einholen!“ befahl Garcia. „Wir dürfen keine Zeit verlieren.“
Der Erste gab den Befehl weiter. Eine der Jollen ging da schon längsseits. Decksleute hatten die Schlepptaue losgeworfen und schlugen die Blöcke an.
Unter Vollzeug durchpflügte die „Aguila“ danach die aufgewühlte See und die letzten verwehenden Dunstschleier. Majestätisch tauchte der Bug des Viermasters in die Wogen ein.
Die mittlerweile hoch stehende Sonne überschüttete das Meer mit einem seltsam hellen, gleißenden Schein. César Garcia erkannte, daß die Wetterbesserung bestenfalls einige Stunden anhalten würde. Anschließend waren Sturm und Regen angesagt.
An Steuerbord zeichnete sich die Küstenlinie ab. Üppige Vegetation, aber auch nackte, schroffe Felsen bestimmten das Bild. Das nächste Fischerdorf lag weit entfernt.
„Rauchschwaden voraus!“ erklang es aus dem Großmars. „Ungefähr zwei Meilen.“
Vergeblich blickte Garcia in die angegebene Richtung. Sogar das Spektiv erwies sich als wenig hilfreich, denn die grellen Sonnenreflexe blendeten. Offenbar hatte der Ausguck den besseren Blickwinkel.
„Zwei Schiffe! Eins brennt …“
… und das andere gehört Killigrew! fügte der Capitán in Gedanken hinzu.
„Lange genug haben wir auf diesen Augenblick gewartet.“ Juarez Molina trat neben Garcia an die Balustrade. „Spanien wird uns ehren, wenn wir den Bastard besiegen.“
„Wenn?“ wiederholte der Kapitän ungläubig. „Zweifeln Sie etwa daran?“
„Natürlich nicht, Capitán.“ Die Antwort erfolgte eine Spur zu schnell und offenbarte Molinas wachsende Erregung.
Endlich wurden auch von Deck aus Einzelheiten erkennbar.
Zwei Schiffe lagen nebeneinander. Das eine war eine kleine, dickbauchige Karavelle, zweifellos ein Kauffahrer. Von seiner Back stieg dunkler, schwerer Qualm auf, der darauf schließen ließ, daß es der Mannschaft gelungen war, den Brandherd einzudämmen.
Bei dem anderen Schiff handelte es sich um eine dreimastige Galeone. César Garcia spürte Enttäuschung. Nach allem, was über den Seewolf gemunkelt wurde, hatte er ein besonderes Schiff erwartet: schnell, wuchtig und mit riesiger Segelfläche. Aber das einzige, was die Galeone auszeichnete, war das fast schwarze Tuch an den Rahen.
„Die haben uns noch nicht gesehen“, sagte Molina.
„Oder sie glauben, uns ignorieren zu können“, erwiderte der Kapitän.
Die „Aguila“ segelte hart am Wind. César Garcias Taktik war klar und den Umständen angemessen. Er suchte ein Passiergefecht und würde demzufolge erst dicht vor dem Gegner den Befehl zum Abfallen geben, ihn mit einer vollen Backbordbreitseite eindecken und nach einer anschließenden Halse die Geschütze an Steuerbord sprechen lassen.
„Klarschiff zum Gefecht!“
Die letzten Sandeimer wurden ausgeleert und mit Seewasser zum Abkühlen der Geschütze gefüllt. Zwischen jeweils zwei Kanonen stand ein Becken voll glühender Holzkohlen, die Luntenstöcke lagen griffbereit. Im Schweiße ihres Angesichts schleppten die Schiffsjungen Kugeln und Pulverfässer an Deck.
Noch eine halbe Meile.
Der Kapitän schob das Spektiv zusammen und steckte es unter sein Hemd. Was es zu sehen gab, konnte er mittlerweile mit bloßem Auge erkennen. Auf dem Piratenschiff entfalteten sich die ersten der im Gei hängenden Segel.
„Er versucht zu fliehen“, sagte Molina ungläubig.
„Killigrew will Zeit gewinnen“, widersprach Garcia. „Nur unter Segeln kann er seine bessere Manövrierfähigkeit ausnutzen. Anderenfalls ist er uns unterlegen.“
Wie ein Racheengel hielt die „Aguila“ auf die Galeone mit den schwarzen Segeln zu.
César Garcia stemmte sich gegen die Balustrade, die ihm fast bis zur Brust reichte.
„Sobald wir in, Reichweite sind, ohne Befehl feuern!“ rief er.
„Si, Capitán!“ hallte es mehrstimmig über Deck.
Die Geschütze wurden gemeinsam ausgerannt. Der Kapitän duldete keine Unregelmäßigkeit und ließ solche Manöver üben, bis sie jedem an Bord in Fleisch und Blut übergingen.
Inzwischen lösten sich die Piraten von ihrer Beute. Mit erstaunlicher Schnelligkeit drehte die Galeone, bis der Wind achterlich einfiel. Der englische Bastard gewann eine Position, in der er sich durch schnelles Anluven einer Breitseite des Angreifers entziehen konnte und ihm nur das schmale Heck darbot. Ob er allerdings in der Lage war, höher an den Wind zu gehen, mußte sich erst herausstellen.
Noch war die „Aguila“ nicht bis auf Kernschußweite für die Culverinen heran, die bei rund 270 Schritten lag, als sich die Backbordgeschütze des Piraten in einer wahren Feuerorgie entluden. Das Donnern der Pulverexplosionen vermischte sich mit einem anhaltenden Splittern, Krachen und Bersten, als auf der Karavelle Masten und Spieren stürzten und an Deck unübersehbare Schäden anrichteten.
Weitere Geschosse hämmerten aus allernächster Nähe in den Rumpf. Planken und Balken wurden zerfetzt und durch die Luft gewirbelt. Innerhalb von Augenblicken klaffte die Flanke der Karavelle vom Bug bis zum Heck auf, und die See ergoß sich schäumend in die Lecks.
César Garcia ballte die Hände zu Fäusten. Er, dem ein Menschenleben wenig bedeutete, reagierte betroffen. Die Piraten mordeten und vernichteten blindwütig. Hofften sie, die Verfolger würden sich dadurch aufhalten lassen, daß sie nach Überlebenden der sinkenden Karavelle suchten?
Ein lauter werdendes Ächzen und Knarren hallte über die See. Der Kauffahrer hatte schwere Schlagseite. Einige Überlebende, die sich an den Maststümpfen festgeklammert hatten, klatschten ins Wasser. Ihre Schreie waren bis zur „Aguila“ zu vernehmen.
„Das war unnötig“, sagte Juarez Molina neben dem Kapitän. „Die Engländer sind Bestien, jeder von ihnen verdient den Strick.“
Die Karavelle bäumte sich auf, ruckartig sackte das Heck ab, während der Bug aus dem Wasser stieg. Für eine Weile verharrte sie so, dem unvermeidlichen Ende trotzend, dann setzte eine schneller werdende Drehbewegung ein, ein Sog, der das Schiff und alles in seiner Nähe unerbittlich in die Tiefe zog.
Die Männer auf der „Aguila“ hielten den Atem an. Augenblicke später waren nur noch die Toppen und aufschwimmende Segelfetzen zu sehen. Bevor sich das Meer wieder glättete, kehrte die Stille zurück.
„Kurs halten!“ befahl der Kapitän.
Knapp 400 Schritte hinter dem Piratenschiff zog die „Aguila“ vorbei. Ein erwartungsvoller Zug hatte sich um Garcias Mundwinkel eingegraben. Er dachte nicht daran, nach eventuellen Überlebenden Ausschau zu halten – dafür war später Zeit, sobald er Killigrew zur Strecke gebracht hatte. Außerdem lag die Küste verhältnismäßig nahe. Und was zählen schon ein oder zwei Menschenleben, wenn es darum ging, weitere Schiffsbesatzungen vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren?
Garcias Entscheidung, Höhe zu gewinnen, nahm den Piraten die Möglichkeit, anzuluven. Wenn sie fliehen wollten, blieb ihnen nur die Wahl, vor den Wind zu gehen, und auf einem solchen Kurs war das spanische Kriegsschiff überlegen.
„Wieviel Zeit brauchen die Bastarde, um ihre Geschütze nachzuladen?“ fragte der Kapitän.
Molina zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht“, sagte er. „Mit unseren Leuten können sie sich bestimmt nicht messen.“
Mittlerweile segelte die „Aguila“ gut dreihundert Schritte südlicher als die Piraten.
„Abfallen!“ befahl Garcia.
Die Schoten wurden gefiert. Mit vollen Segeln schwenkte der Viermaster herum.
„Setzt die Blinde!“
Die Distanz zu den Verfolgern schrumpfte sichtlich. Juarez Molina folgte dem Kapitän an die Steuerbordverschanzung. Garcia warf einen flüchtigen Blick durch sein Spektiv und reichte es an den Ersten weiter.
„Killigrew hat zu wenig Leute“, sagte er spöttisch. „Sie sind jetzt noch dabei, die Geschütze auszuwischen und neue Ladungen zu setzen.“ Er hob die rechte Hand und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. „Wie eine Laus werde ich den Bastard zerquetschen.“
Die Galeone mit den schwarzen Segeln wechselte auf den anderen Bug. Der Engländer wollte Zeit gewinnen, bis seine halbe Batterie an Backbord wieder klar war. Erst ein einziges Rohr ragte unmittelbar über der Wasserlinie aus der Pforte. Ein zweites Geschütz wurde soeben ausgerannt.
„Lächerlich“, schnaubte Garcia. „Auf die Weise lasse ich mich nicht in die Leeposition drängen.“
Die „Aguila“ verwandelte sich in eine Tod und Verderben speiende Festung. Nacheinander entluden sich die zwölf Culverinen unter Deck und die vier Kanonen auf der Kuhl. Die unmittelbar aufeinanderfolgenden Detonationen wurden zu einem einzigen ohrenbetäubenden Donnerschlag. Das Schiff ächzte und stöhnte in seinen Verbänden und krängte weit nach Backbord. Pulverdampf verschleierte die Sicht.
„Ruder hart Steuerbord!“
Die Segel schlugen und flappten, weil sie nicht schnell genug herumgeholt werden konnten. Aber innerhalb kürzester Zeit stand das Tuch wieder so prall wie zuvor.
Noch wurde das Feuer nicht erwidert.
„Auf was wartet der Kerl?“ blaffte Garcia. „Bis wir nahe genug heran sind?“
„Vermutlich“, sagte Molina.
Wie viele Treffer die Galeone abgekriegt hatte, ließ sich nicht feststellen. Die Großrah war zersplittert, das Segel hing halb außenbords, und einige Männer schickten sich an, das Gewirr aus Tuch und Tauen zu kappen.
Ohne Großsegel hatte Killigrew keine Chance mehr, den Verfolgern davonzulaufen.
Garcia triumphierte.
„Backbordbatterie klar zum Feuern! Haltet auf die Geschützpforten!“
Die „Aguila“ bereitete ihrem Namen alle Ehre. Sie erinnerte tatsächlich an einen Adler, der schnell und zielstrebig sein Opfer angriff.
César Garcia kaute auf seiner Unterlippe – ein deutliches Zeichen seiner inneren Erregung. Aufmerksam blickte er zu der Galeone hinüber. Die Engländer lauerten ebenso wie seine Leute auf den günstigsten Moment.
„Capitán …?“ fragte der Erste Offizier.
Garcia hielt ihn mit einer knappen Handbewegung hin. Die Anspannung wurde fast körperlich spürbar. Niemand sagte ein Wort. Das Raunen des Windes in der Takelage und das Stampfen des Schiffes blieben die einzigen Geräusche.
Noch zweihundert Schritte Distanz.
Einhundertfünfzig.
César Garcia nickte knapp, Molina winkte befehlend zur Kuhl, und der Bootsmann gab den Feuerbefehl.
Die „Aguila“ schien auseinanderbrechen zu wollen, so heftig war die erneute Breitseite. Weit holte der Viermaster über, als ein Feuerball in Lee entlangzuckte. Das Dröhnen der Explosionen vermischte sich mit dem Splittern und Bersten der Einschläge und dem Abschuß der gegnerischen Kanonen zu einem schier ohrenbetäubenden Inferno, in dem menschliche Stimmen bedeutungslos wurden.
Kein halbwegs erfahrener Stückmeister konnte auf die geringe Entfernung danebenschießen.
Fast auf der Höhe des Großmastes zerspellte das Schanzkleid der „Aguila“. Die herumwirbelnden Splitter trafen einige Decksleute, die schreiend zu Boden gingen. Das Geschoß fegte über die Kuhl und hinterließ sogar noch an Steuerbord ein beachtliches Loch.
Die Blinde wurde zusammen mit dem größten Teil des Bugspriets regelrecht abrasiert. Weitere Einschläge erfolgten auf dem Viermaster jedoch nicht.
„Die Geschütze neu laden! Geit auf das Großsegel!“
Garcia durfte es sich erlauben, Segelfläche wegzunehmen. Abgesehen davon, daß die „Aguila“ danach immer noch schnell genug war, hatte die Breitseite auf dem Piratenschiff eine unübersehbare Spur der Verwüstung hinterlassen. Ausgezackte, geschwärzte Löcher gähnten an der Stelle von drei Stückpforten, in zwei anderen hatten sich die Geschütze verkeilt.
„Klar zum Entern!“
In spitzem Winkel lief die „Aguila“ auf die Galeone zu. Die Drehbassen auf Back und Achterdeck jagten ihre tödlichen Geschosse zwischen die Piraten. Bei knapp fünfzig Schritten Distanz sprachen noch einmal die Culverinen des Batteriedecks.
Ihre Wirkung war verheerend, die Galeone wurde abgetakelt und endgültig zum Wrack geschossen. An Bord entstand heillose Verwirrung, als die Segelfetzen wie Leichentücher niedersanken und sich stehendes und laufendes Gut zu einem unentwirrbaren Durcheinander verknoteten.
„Ich will den Seewolf lebend!“ brüllte César Garcia aus Leibeskräften, als die erste Reihe seiner Soldaten die Musketen abfeuerten und die zweite Reihe ans Schanzkleid trat.
Krachend schrammten die Schiffsrümpfe aneinander. Auf der kleineren Galeone brachen Rüsten und Berghölzer.
Der Kampf Mann gegen Mann, mit unbarmherziger Härte geführt, begann. Mit Schiffshauern, Degen und Äxten drangen Soldaten und Piraten aufeinander ein, wobei die Spanier von vornherein in der Überzahl waren.
Musketen und Arkebusen waren in dem Getümmel noch als Schlagwaffen zu gebrauchen, und einzig Pistolenschüsse krachten hin und wieder. Aber keiner der Schützen fand Gelegenheit zum Nachladen.
César Garcia und Juarez Molina verfolgten das Gemetzel vom Achterdeck des Viermasters aus. Auf der Piratengaleone wurde es eng. Die Soldaten drangen unnachgiebig auf die Engländer ein, ihre Helme und die leichten Panzer verliehen ihnen einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Immer öfter mischten sich die Schreie Verwundeter in das Klirren der Blankwaffen.
Urplötzlich riß Molina seine Pistole aus dem Gürtel, spannte in derselben fließenden Bewegung den Hahn und drückte ab. Ein Engländer, der sich hinter dem Capitán über die Brüstung schwingen wollte, warf die Arme in die Höhe und kippte zurück. Sein Cutlass klirrte an Deck.
Mehrere Piraten versuchten, den Spaniern auf dem Umweg über die „Aguila“ in den Rücken zu fallen. Enterhaken verfingen sich in der Takelage, verwegene Kerle schwangen sich auf das Kriegsschiff.
Garcia zog ebenfalls seine Pistole und schoß. Die Kugel ließ einen weiteren Gegner in die Tiefe stürzen.
Aber dann waren zwei Engländer heran. Mit Cutlassen drangen sie auf den Capitán und seinen Ersten Offizier ein. Molina entging der gegen ihn geführten Klinge nur durch einen blitzschnellen Sprung zur Seite. Als der Pirat ins Leere stürmte, setzte er nach und bedrängte ihn mit wuchtigen Degenhieben.
Garcia hatte weniger Glück. Sein Degen brach bei der ersten Parade. Fluchend schleuderte er dem Angreifer den Rest der Klinge entgegen, aber der Engländer, ein hochgewachsener, breitschultriger Bursche, lachte nur.
Sein Entermesser zuckte vor, verfehlte den Capitán jedoch, weil er sich überraschend herumwarf. Der nächste Hieb riß Splitter aus der Verschanzung, doch da hatte Garcia schon den auf den Planken liegenden Cutlass an sich gebracht. Der Kapitän führte die breite Klinge mit beiden Händen und legte seinen ganzen Haß in die Hiebe.
Sein Gegner verstand sich aufs Kämpfen und war gewiß kein einfacher Seemann. Garcia begann zu begreifen, daß er dem Seewolf gegenüberstand – die Beschreibungen, die er über diesen Mann erhalten hatte, stimmten ziemlich genau.
„Bastard!“ stieß er auf englisch hervor. „Hurensohn! Diesmal geht es dir an den Kragen.“
Der kostenlose Auszug ist beendet.