Buch lesen: «Kālī Kaula»
Jan Fries
Kālī Kaula
Ein Handbuch der
tantrischen Magick
Gewidmet fünf lebenden Genies:
Richard Bandler, Kenneth Grant, Maxine Hong Kingston, Maggie Ingalls (Nema), Hayao Miyazaki
Die Originalausgabe erschien 2010 bei Avalonia, London unter dem Titel
‚Kālī Kaula. A Manual of Tantric Magick.‘
1. Auflage August 2015
Copyright © 2010 by Jan Fries.
Copyright © 2015 für die deutsche Ausgabe by Edition Roter Drache
Edition Roter Drache, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel
eMail: edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org
Titelbild: Astrid Bauer
Buchgestaltung: Sarah Bräunlich & Holger Kliemannel
Umschlaggestaltung: Holger Kliemannel
Alle Abbildungen stammen von Jan Fries
Übersetzung aus dem Englischen von Helge Lange
Lektorat: Dr. phil. Baal Müller
Gesamtherstellung: Jelgavas typografia
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten.
ISBN 978-3-944180-64-9
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Widmung
Impressum
Danksagungen
Einleitung
Abkürzungen der wichtigsten Primärquellen mit Kommentaren
Kapitel 1 Dakṣas Fest
Kapitel 2 Vor dem Tantra
Das Industal
Die vedische Epoche
Seher auf Soma
Die vedische Religion
Spirituelle Disziplin
Die Weltseele
Klassen der Gesellschaft
Jenseits der Veden
Neue Glaubensrichtungen: Buddhismus und Jaina
Der ältere Hinduismus
Dharma und das Muster der Gesellschaft
Probleme mit der Reinheit
Auf und Ab der Gottheiten
Vaiṣṇavas, Śaivas und Śāktas
Kapitel 3 Die Textur des Tantra
Zwielichtsprache
Śiva und Śakti
Sex, Geschlecht und Religion
Drei Temperamente
Dreieinhalb Bewusstseinszustände
Schädel und Leichen
Tieropfer
Die Textur des Tantra
Kapitel 4 Tantrische Geschichte
Tantrische Traditionen
Kāpālikas und Aghoras
Kula und Kaula
Krama
Śrī Vidyā
Mahācīna
Kapitel 5 Das Guru-Spiel
Der erste Guru
Guru Pūjā
Gemeinsam lernen
Hymne
Netze des Wahns
Göttliche Schauspieler
Heilige Frauen
Asketinnen
Tāntrikās
Kapitel 6 Der Körper als ein Ganzes
Karten des Körpers
Die Leichtigkeit des Seins
Eine Auswahl an Positionen
Schütteln, Schwingen und die Urvibration
Nyāsa: die göttliche Berührung
Initiation und Nyāsa
Kavaca:Eine Rüstung zum Schutz
Mudrās
Helfende Hände
Kapitel 7 Die Freude am Atmen
Atem und Suggestion
Prāṇa im Altertum
Klassischer Prāṇāyāma
Kapitel 8 Mantra
Eine Welt der Vibration
Rezitation
Eine Struktur von Mantras
Svāhā
Eine Auswahl von Mantras
Śrī Vidyās verspielte Göttin
Bīja
Māyā: Den Mantra erwecken
Lakṣmī: Einen Mantra bewahren
Kālī: Einen Mantra transzendieren
Japa Mālā
Der Gebrauch der Japa-Mālā
Finger zählen
Eine Gelegenheit zu erwachen
Kapitel 9 Das Herz im Kula
Das Herz im Veda
Das Herz im Tantra
Das Herz als ein Organ
Das Herz als ein Cakra
Das Heim der persönlichen Gottheit
Das Herz im kaschmirischen Tantra
Die Erfahrung des Herzens
Vorsichtige Anmerkung
Das Herz des Dao
Kapitel 10 Im Herzen sehen
Eine Welt der Visionen
Eine Frage der Perspektive
Die Codierung Deiner Wahrnehmung
Ein Schauer von Ambrosia
Das schwarze Elixier
Yoni Mudrā
Der Weg zur Farbe
Vereinigung mit den Göttern
Kapitel 11 Der Weg der Schlange
Okkulte Anatomie
Bhūta Śuddhi: Die Reinigung der Prinzipien Deines Körpers
Ein Blick auf die Überlieferung
Kuṇḍalinī: Bewusstsein, Kraft und der Glanz der Welt
Nātha-Lehren
Eine klassische Herangehensweise
Kuṇḍalinī Yoga
Eine praktische Herangehensweise
Manasā und die Mysterien der Nāgas
Kapitel 12 Ein Fest der Fünf
Tantrischer Sex
Erotika
Pañcamakāra
Orgasmus
Ersatzmittel
Ein Tag im Leben eines Neo-Kaula
Kapitel 13 Rot und Weiß
Der Yoni-Schrein
Menstruation
Mütter, Greifer und Yogīnīs
Lilith und Lamaštu
Geheime Sakramente
Die Wissenschaft des Rasa
Flüssige Gnosis
Der Partner für Dich
Kapitel 14 Mahāvidyās
Zehn Prinzipien der Weisheit und Magie
Die Mahāvidyās und Du
Direkte Erfahrung
Kapitel 15 Kālīs Kula
Nirṛti
Kālīs Aufstieg
Kālī auf Abwegen
Die Masken der Kālī
Hymne an Kālī – Karpūrādi Stotra
Die Riten der Kālī
Kālī Yantra
Blumen für Kālī
Tribut an die Schakale
Ausflug nach Guyana
Anhang Eins: Ritual und Schwingung
Anhang Zwei: Sprache und Aussprache
Vokale
Konsonanten
Anhang Drei: Ein kurzes Glossar von Saṁskṛta-Begriffen
Bibliographie
Index
Werbung
Danksagungen
Dieses Buch war viele Jahre in Arbeit. Darauf folgte eine längere Periode, in der ich für die englische Originalausgabe einen geeigneten Verleger suchte. In diesen Prozess waren viele Menschen involviert, denen ich zutiefst dankbar bin.
Zunächst einmal möchte ich allen danken, welche an diesem Weben Anteil hatten: die das Projekt beeinflussten, meinen endlosen Reden zuhörten, mir mit Literaturhinweisen weiterhalfen, mich ermutigten, kritisierten, verwirrten oder einfach nur durcheinander brachten. Dank euch ist dieses Buch viel besser geworden, als ich es, für mich allein, jemals hinbekommen hätte.
Mein Dank gilt zunächst meiner persönlichen Gottheit, insbesondere ihrer Erscheinung als Kālī, Xiwangmu, Manasā und Lakṣmī, denn ohne deren Beistand wäre das alles wesentlich langweiliger geworden.
Astrid Bauer danke ich für das wunderschöne Titelbild und Gavin Semple für seine geduldige Bemühung, in der englischen Originalversion meine Sprache zu verbessern, die Kommas auf die Reihe zu bringen und mich daran zu erinnern, alle Quellen anzugeben. Ihr beide habt mir schließlich auch zu einem neuen Verleger verholfen, und eure Freundschaft hat mir immer wieder das Leben leichter gemacht.
In den Jahren zwischen der Fertigstellung des Manuskriptes und seiner Veröffentlichung ging das Material durch die Hände etlicher freundlicher Menschen: Herzlichen Dank an Mogg Morgan von Mandrake of Oxford, Robert Ansell von Fulgur und Nigel Saunders.
Zuguterletzt gelangte das Manuskript in die Hände von Sorita D’Este und David Rankine von Avalonia. Hierfür danke ich Marina, die den Kontakt herstellte. Die beiden freuten sich, ein fertiges Buch zu erhalten, welches nicht einmal editiert werden musste, während ich mich freute, meine Texte unverändert im Druck zu sehen.
Bei der Gestaltung der deutschen Version möchte ich zunächst Helge danken, dessen grundlegende Vorübersetzung erfreulich sorgfältig war. Sorry, wenn ich auf jeder Seite zahlreiche Verbesserungen gemacht habe um den Text zu erweitern, zu aktualisieren oder um meinen persönlichen Sprachstil einzubringen; es hat einfach Spaß gemacht. Besonderer Dank auch für Deine bewundernswerte Geduld mit all den nützlichen, nötigen (und reichlich nervigen) Sonderzeichen.
Holger, Christiane und Silvana: ich möchte Euch dafür danken, dass es Euch überhaupt gibt. Freunde wie Ihr sind ein Geschenk, nicht nur für mich, sondern für alle Autoren, Leser, Götter und natürlich den Rest der Welt. Dass Ihr gute Bücher herausbringt, ist im Vergleich nahezu Nebensache.
Viele Freunde trugen zum Gelingen dieses Werkes bei. Mit Anad habe ich viel praktiziert, erlebt und Spaß gehabt.
Julia und Volkert haben mich den Großteil meines Lebens begleitet: solche Freunde würde ich jedem Menschen wünschen. Ich habe viel mit Euch gelacht, Ausflüge gemacht und habe Sachen erlebt, die die Leser dieses Buches bestimmt nicht interessieren würden. Asenath Mason bin ich für viele Jahre froher Kommunikation dankbar. Kenneth Grant verdanke ich meinen Einstieg in die Welt des Linke-Hand Tantras und das Vergnügen, etwa dreißig Jahre lang über bizarre okkulte Themen zu korrespondieren. Grants Interpretation des Tantras hat mich viele Jahre lang stark beeinflusst. Zugegeben, wir waren nicht immer derselben Ansicht. Gerade das machte den Austausch so interessant.
Maggie (Nema) und Mike von der Horus Maat Lodge haben mich viel über Balance, Ausgleich und den Tanz zwischen den Welten gelehrt. Auch wenn dieses Buch nicht direkt zum Thema Ma‘at Magie gehört, wäre es ohne Euren Einfluss viel trister geworden.
Alex, Dagmar, Dieter und John danke ich für Anregungen, Erlebnisse und einfach die Freude, mit Euch zusammen etwas zu erleben.
Besonderer Dank für spezifische indologische Problemzonen-Beratung und nützliche Mantras gebührt Louise Finn, die mich besonders beim Thema Schütteln-in-Indien unterstützt hat, und mir freundlicherweise erlaubte, aus ihren Schriften zu zitieren.
Ich möchte auch den Gurus meiner Kinderzeit danken, meinen Eltern (die es nicht leicht hatten), meiner Großmutter Nena und deren Freundin Dr. Gisela Eberlein, die mir mehr beibrachte als ihr bewusst war.
Dank gilt meinen Wushu Lehrern Kim Dagunee (Hei Bao Gong Fu) und Xiao Li (südliches Fünf Tiere Shaolin), von denen ich, ganz nebenbei, eine Menge über Atmung, Energie und Haltung lernen durfte.
Der hiesigen Bengali-Gemeinde möchte ich für viele Jahre Teilnahme an der jährlichen Durgā Pūjā danken. Für freudige, musikalische und verzaubernde Abende, und auch dafür, dass ich stundenlang alleine im Ritualraum meditieren durfte. Bei Euren Ritualen durfte ich erleben, wie sich alltägliche und besondere Aktivitäten mit einander abwechselten und in einem lebendigen Strom in einander übergingen. Ich erlebte rüstige Hausfrauen, die während des Rituals hemmungslos über Einkäufe diskutierten, dann zum rechten Zeitpunkt aufstanden, um zu singen, zu schreien und zu musizieren, um dann wieder zur Welt des Tratsches, der Kindererziehung und des Alltagsleben zurückzukehren, während der das Ritual leitende Brahmane souverän und unerschütterlich seine Zeremonien durchführte. Dieses Muster wiederholte sich im Verlauf der Zeremonie immer wieder, stundenlang, und zeigte mir deutlich, dass die strenge Trennung zwischen ‚heilig‘ und ‚profan‘, wie sie im Christentum üblich ist, keineswegs eine Norm oder auch nur eine sinnvolle Gewohnheit ist. Denn wenn das Göttliche sich in allem manifestiert, ist es nur gut, es auch in allem wieder zu erkennen. Jai Durgā!
Besonderer Dank an Xiaonan. Dein Lachen war bei der Fertigstellung dieses Buches unersetzlich (und wurde zur Inspiration des darauf folgenden).
Bei der täglichen Praxis, beim Schreiben, Recherchieren und Editieren kann es gelegentlich vorkommen, dass man das menschliche Leben vergisst. Worte machen süchtig: da ist es gut, manchmal ganz andere Sachen zu erleben. Hier haben mir besonders Jing und ihre hochinspirierte Tochter Xinyue geholfen, ab und zu mit den Füssen auf den Boden zurück zu kommen. Danke!
Vielen Dank an Richard Bandler, dessen einzigartige Forschung zum Thema Neurolinguistisches Programmieren und Design Human Engineering meine magische Entwicklung und meine Hypnosepraxis stark beeinflusst haben.
Während ich dieses Buch fertig stellte, waren Maxine Hong Kingstons Bücher eine Quelle steter Inspiration. Ich liebe ihre Art, alternative Realitäten zu verweben, sowie den präzisen Gebrauch von Submodalitäten und poetischen Metaphern, um diese zu verankern.
Ungefähr zur selben Zeit kamen endlich die Studio Ghibli Produktionen in Deutschland an. Die magischen Meisterwerke von Hayao Miyazaki haben mir durch einige schwierige Zeiten geholfen und meinem Schreiben zu neuer Begeisterung verholfen. Wer echte Magie verstehen will, ist bei diesen Filmen bestens aufgehoben.
Besonders bin ich den vielen vorbildlichen Indologen und Tantraforschern verpflichtet, deren Werke dieses Buch überhaupt erst möglich gemacht haben. Ich kann meine Leser nur bitten, in der Bibliographie nachzusehen und selber zu lesen, zu recherchieren, zu staunen und zu lernen. Es gibt keine Abkürzung zur Befreiung, und wer wirklich etwas von Tantra verstehen will, kommt um jahrelange, hingebungsvolle Studien neben der tägliche Praxis nicht herum. Es ist ein großer Segen, dass so viele geniale Akademiker in jahrelanger Anstrengung hochkomplizierte Texte bearbeiten (statt z. B. den Tag am Strand zu verbringen). Ich habe viel von Euren Werken in dieses Buch eingebracht und hoffe, dass ich Eure Ideen einigermaßen genau vermittelt habe. Ich möchte mich für meine Fehler, Missverständnisse und Irrtümer entschuldigen. Ich verstehe nur ein oder zwei Worte Saṁskṛta und habe außer ein wenig Praxis nicht viel vorzuweisen. Dieses Buch mag zwar voluminös erscheine, ist aber nur eine kurze, einfache und leicht verständliche Einführung in ein wundervolles und tiefsinniges Themengebiet, welches viele Leben lang faszinieren kann.
Und jetzt die Leserin oder der Leser: Zu allerletzt oder zuerst, wie man es auch sehen mag, danke ich Dir. Tantra ist eine lebende Kunst, und Dein Beitrag hält sie am Leben. Du bist die Zukunft.
Bild 1
Tigerblüte
Einleitung
Na-aham-asmi-naca-anyo ‘sti kevalāḥ śaktayas-tv-aham
Ich bin nicht, noch existiert ein anderer; ich bin nur Energien.
(Der wichtigste Mantra im Kula Ritual. Abhinavagupta, TĀ, 29, 64, nach Dupuche, 2006 : 221)
Dies kann der Anfang der seltsamsten Reise sein, die Du je unternommen hast.
Das Buch, das Du gerade gekauft hast (oder mit dem Du im Buchladen Deiner Wahl liebäugelst) ist eine Einladung. Hier findest Du den tantrischen Weg jenseits des Glitzerns und Schaums der New-Age-Erotik. Hier ist das Hardcore-Zeug, die echte Sache, wie sie in den rauen Bergen von Kaschmir, der sengenden Hitze von Südindien und den feuchten, fieberverseuchten Dschungeln von Assam entwickelt wurde. Hier ist das weite und leere Herz der schwarzen Göttin, der geheime Sitz der Initiation und ein dunkler Torweg … Du wirst herausfinden, wohin er führt, wenn Du hindurch und schließlich weiter gehst.
Tantra. Was nicht ganz stimmt. Es ist überhaupt kein Buch über Tantra. So etwas wie Tantra gibt es nicht, zumindest nicht für diejenigen, die es leben. Die Menschen, die Tantra erfanden, nannten es nicht so. Es waren andere Leute, viele von ihnen Außenseiter, die den Begriff prägten, Jahrhunderte nach dem Spaß und der Verrücktheit des Anfangs. Tantra ist nur ein Wort, und kein besonders gutes. Es gab und gibt hunderte von ‘tantrischen’ Systemen in Asien, die meisten von ihnen in fröhlicher Uneinigkeit mit allen anderen. Je mehr Du über Tantra erfährst, desto weniger wirst Du den Ausdruck mögen. ‘Tantra’ ist so ausgedehnt, dass man es nicht festmachen kann; man kann es nicht definieren und braucht es auch nicht zu versuchen. Wenn Du ein Wort für das brauchst, was Du tust, oder eine Tradition, an die Du Dich klammern kannst, wirst Du nie die Essenz entdecken, die Dich vor Leben pulsieren und vibrieren lässt. Verwirrt? Das solltest Du sein. Ich bin es auch und habe das hier geschrieben.
Es ist also überhaupt nicht ‘Tantra’, was eine ziemliche Erleichterung ist, da diesem Wort so viele schlecht informierte Dilettanten einen üblen Ruf beschert haben. Hier ist etwas, das Du Kaula nennen könntest, wenn Du möchtest. Oder was Du Krama nennen könntest, wenn Du einen Namen für etwas äußerst Anspruchsvolles und Mysteriöses brauchst. Oder Trika, wenn Du wirklich ambitioniert bist und vor weiterer Nachforschung nicht zurückschreckst. Oder Du verzichtest einfach auf die Namenspiele. Die wirkliche Sache geschieht jenseits von Namen und Definitionen. Jenseits der Etiketten, jenseits der Traditionen, jenseits des Glamours der Kommerzialisierung oder der ausgestopften Ernsthaftigkeit mancher Akademiker, die seit Jahren nicht mehr richtig gelacht haben. Hier ist die konzentrierte Essenz der Erfahrung. Hier ist Deine Chance, etwas Neues zu entdecken, und Deine Einladung, selbst zu entwickeln, was Du nicht finden kannst, und zu manifestieren, was Du willst, und was zu Dir passt.
Nun mögen sich einige Leser nach heiligen Traditionen sehnen. Manche träumen vom ‘heiligen Indien’– betäubend blauer Himmel, strahlende Paläste, plappernde Papageien, halbverhungerte Yogīs, die gelassen in der Sonne braten, verführerische Damen in erstaunlich bunten Saris, und natürlich die geheiligte Weisheit der Alten, klebrig und süß. Indien, das Land, in dem jeder spirituell ist. Indien, eine Kultur von göttlicher Erotik, zauberhaften Fabeln und einer romantischen Weisheit, die der arme kurzsichtige Westen niemals wirklich besaß. Außer einigen Druiden natürlich, die sie wahrscheinlich aus Indien hatten. Oder war es Ägypten? Oder Atlantis? Such Dir aus, was Dir gefällt. Ein riesengroßes Naan-Brot, mit süßen und würzigen Sachen belegt, viele davon leider aus Plastik. Nein, das wollen wir nicht. Dies ist nicht der Ort für Idealisierung. Wer fromme Märchen sucht, ist bei der New Age Bewegung besser aufgehoben. Hier ist Deine Chance, Vindaloo Mahākālī zu genießen und herauszufinden, was es mit Dir anstellt. Hier ist Deine Chance, zu denken und zu tun und zu entdecken. Denn wenn Du Dich auf Traditionen beschränkst, kommst Du nirgendwohin.
Ein Grund, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe, ist der, dass Kālī mich darum gebeten hat. Sie hat all den tantrischen New-Age-Ramsch satt, der in diesen schrecklichen kleinen Läden vertickert wird, wo Heilig-Heilig-Muzak-Musik die Luft erfüllt, Spiritualität mit verringerten Erwartungen gleichgesetzt wird und die Leute so aussehen, als würden sie den ganzen Tag Seife essen. Sie hat einen Widerwillen gegen Tantra-Sets, bestehend aus aromatischen Massageölen, Räucherstäbchen, Honigstaub und zehnseitigen Anleitungsheftchen, die Mantras, Stellungen und Rituale zur Spiritualisierung eines langweiligen Liebeslebens bescheren. Und sie spuckt auf diejenigen, die sich Tantrameister nennen. Das stimmt. Es geschieht die ganze Zeit. Weil Kula, Kaula, Krama, Trika, Mahācīna usw. so viel mehr sind. Mehr als Sex, mehr als Religion, mehr als ein Hobby oder ein Interesse. Sie sind alles im Leben und gehen noch weit über jede einzelne Lebensspanne hinaus. Sie gehen auch über unsere Persönlichkeit hinaus. Über jede Persönlichkeit.
Das wirst Du nicht durch das Lesen von Büchern erfassen. Und ganz sicher bekommst Du es nicht für Geld. Der einzige Weg, um dort hinein und glücklich darüber hinauszukommen, besteht darin, den Weg mit der ganzen Kraft, Lust und Begeisterung zu leben, die Du aufbringen kannst. Und das kannst Du, wie Du erfahren wirst, wenn Du über deine Grenzen hinausgehst. Es reicht nicht, ein paar Mantras zu plappern. Es reicht nicht aus, mit Cakras zu herumzuspielen oder eine kleine Schlange in Deiner Wirbelsäule zu visualisieren. Es ist eine Menge mehr, als Gott zu spielen, um Dein Liebesleben zu legitimieren. Der Spaß fängt an, wenn Du alles gibst, was Du hast und herausfindest, dass da noch eine ganze Menge mehr ist, wovon Du nichts gewusst hast. Wenn Du Deinen Körper mit Wonne und Kraft auflädst und das gute Gefühl mit einem breiten Lächeln verstärkst und es verdoppelst und Dich mit Freude erfüllst, sie wieder verdoppelst und nochmal verdoppelst. (Danke, Richard!) Es passiert, wenn Du Dich mit schierem, überwältigendem Enthusiasmus durchtränkst. Es passiert, wenn Du den Mantra nimmst und die Lautstärke aufdrehst und Chor und Echo hinzufügst und ihn seinen Weg durch Dein ganzes Sein vibrieren lässt, so dass die Klangessenz des Göttlichen Dich bis in den Kern erschüttert. Es ist da, wenn Du damit aufhörst, Dich mit halbherzigen Bildern und lauwarmer Gleichgültigkeit zufriedenzugeben. Deine Vision kann heller, größer, klarer, näher, besser werden! Jede Erfahrung kann viel beeindruckender werden, wenn Du sie so machst. Es ist Dein Gehirn, es ist Dein Nervensystem, und Du kannst sie benutzen, wie immer Du willst. Denk nicht nur an die Kuṇḍalinī, lebe sie, sei sie, erkenne sie als Deine persönliche Gottheit, Dich selbst und die ganze Welt und geh darüber hinaus! Und wenn Du ins Herz hinab sinkst, gleite tiefer und tiefer, löse Dich von den Formen, die erscheinen, Schicht um Schicht, bis Du den Punkt der äußersten Realität erreichst, wo Form und Leere Liebe miteinander machen. Du bist beides. Du bist jenseits davon. Wo bist Du nun? Wer bist Du je gewesen?
Hier gehen wir weit über Gedankenspiele hinaus. Wenn wir Tantra als irgendetwas bezeichnen müssen, dann könnten wir es ein Set von Techniken nennen, die funktionieren, gekoppelt mit Wildheit, Freude, Wagnis und dem Drang, das zu erfahren, was Dich aus dem herausschüttelt, was auch immer Du vorher warst. Das ist es, was die Pioniere taten. Und warum sie so weit kamen. Das ist es, was spätere Generationen verloren, als sie in Tradition, Regeln, abgehobener Spekulation, tonnenweise Theorie, Geschwätz und stumpfsinnigem Gehorsam steckenblieben. Hier ist ein Buch für alle, die wissen und wollen und tun. Wenn Du erwachst, wirst Du Kālī in Dir finden, oder wie auch immer Deine persönliche Gottheit sich Dir zeigt. Sie will keine lauwarme Anbetung, Teilzeithingabe oder Nachahmung von Heiligkeit. Es gibt zu viele Hochstapler ringsumher, sei es in Indien, Kalifornien und in jeder okkulten Organisation, die Du nur nennen kannst.
Sie will, dass Du alles in die Opferschale gibst, weil das der einzige Weg ist, alles daraus zu erhalten. Deinen Bauch als Zentrum für Freude, Lust und gute Gefühle. Dein Herz für Liebe und Lachen. Deinen Kopf für Lernen und Denken und neues Lernen. Wenn Du diese drei zusammenbringst, bist Du bereit dazu, Dich selbst zu überraschen. Genau jetzt.
Schwerpunkte dieses Buches
Als ich den Kessel der Götter fertig hatte, fragte mich eine Freundin, was ich denn läse. ‘Es ist der Kaulajñāna nirṇaya’, antwortete ich, froh auf das kleine rote Buch schauend, mit seinem ramponierten Umschlag und dem die-Göttin-weiß-was-die-statt-Papier-verwenden-Look, der bei indischen Verlagen so beliebt ist … wundervolles Zeug über Meditation und eins der praktischsten Tantras, die mir je untergekommen sind.’
‘Kein Keltenzeug mehr?’
‘Es geht mir auf die Nerven. Es gibt viel zu wenig praktisches Material in den überlieferten Texten. Ich habe genug von Fragezeichen, mittelalterlichen Mythen und müßiger Spekulation. Zumindest hatten die Kaula-Leute ein klares Interesse an Sachen, die funktionieren. Und sie hatten einen Sinn für Humor. Das ist erstaunlich selten in alter Literatur.’
‘Du wirst doch nicht ein Buch über Tantra schreiben, oder?’
‘Oh nein. Tantra ist riesig, unfassbar und überwältigend. Über das Thema kann man hundert Bücher schreiben. Wenn Du die Menge der erhaltenen Literatur nimmst, kannst Du Dein ganzes Leben mit Forschung verbringen und bekommst doch nur einen Bruchteil zusammen. Sorry, ein Buch über Tantra ist unmöglich.’
Und so ist es auch.
Glücklicherweise muss ich nicht über das ganze Tantra schreiben, was auch immer das sein soll. Ich habe mir nur einen kleinen Bereich an erhaltener (und übersetzter) Literatur herausgegriffen, sie mit einer Menge täglicher Übung kombiniert, mir selbst das Versprechen gegeben, dass dieses Buch kein solches Monster wie der Kessel der Götter werden würde, und mich an die Arbeit gemacht. Zum Glück hatte ich mich schon einige Jahrzehnte mit manchen der aufregenderen ‘tantrischen’ Traditionen befasst. Ich beschloss, mich auf diese frühen Traditionen zu konzentrieren, vor allem Kula, Kaula, Krama und etwas Trika hinzuzufügen, was auch immer funktionieren würde, etwas Geschichte am Anfang, und die große Mehrheit der tantrischen Bewegungen zu ignorieren, die zum Buddhismus oder dem rechtshändigen Pfad des hinduistischen Stell-dich-in-die-Reihe-und-tu-was-dir-gesagt-wird-Tantra gehören. Bedauerlicherweise musste ich einige faszinierende Traditionen auslassen, und zum Glück noch viele mehr, die so stumpf und langweilig sind, dass ich Dich nicht damit belästigen will. Daher ist das Buch, das Du liest, keineswegs repräsentativ für das, was moderne Inder oder Westler als ‘tantrisch’ zu betrachten pflegen, aus dem einfach Grund, dass hier nur einige frühe, kleinere Bewegungen untersucht wurden, und auch diese nur bezüglich ihrer praktischen Anwendung. Und selbst von diesen Entwicklungslinien blieb eine riesige Materialmenge unberücksichtigt.
Nimm zum Beispiel die Initiation. Bei den frühen Kulas und Kaulas bezeichnete Initiation einen Komplex von höchst raffinierten Ritualen, die einen guten Teil Hypnose beinhalteten. Hier war Initiation keine Formalität, sondern eine Erfahrung, die den Initianten von seinem Dasein als ‘gebundenes Tier’ befreit. Nun waren die Kaulas praktische Leute. Sie legten nicht viel Wert auf Vertrauen und blinden Glauben. Stattdessen testeten sie ihre Ergebnisse. So solltest Du es auch halten. Ein Schüler, der die fünf Anzeichen von der Śaktipāta, dem ‘Herabkommen der Energie’, zeigte, wurde ermutigt, weiterzumachen. Für diejenigen unter Euch, die wissen wollen, welche Zeichen das sind, listet sie Abhinavagupta auf (Tantrāloka, 29, 208): Glücksgefühl, Leichtigkeit des Körpers, Zittern des Körpers, Schlaf der äußeren Sinnesorgane und ein gewisses Taumeln oder Schwanken. Weitere Zeichen können z. B. ekstatisches Lachen oder Weinen sein. Manche Initianten werden spontan poetisch, singen, tanzen oder wollen die ganze Welt umarmen. Diese Symptome zeigen ein Herabkommen der Energie (Śaktipāta) an und sind auch Anzeichen dafür, dass die Rudraśakti die verschiedenen Körper/Seinsebenen eines Initianten (zeitweilig) gereinigt hat. Was keineswegs die einzige Herangehensweise an die Sache ist. Es gibt ein riesiges Spektrum an Initiationsmethoden, manche von ihnen so obskur, dass es einen erstaunlich kompetenten Guru braucht, um sie zum Funktionieren zu bringen. Da dieses Buch sich vor allem mit der Praxis beschäftigt und Du vielleicht Dein Ding ohne einen solchen Guru durchzuziehen hoffst (die meisten von ihnen scheinen mit dem ursprünglichen Kula, Kaula und Krama vor dem 14. Jh. ausgestorben zu sein), wird das Thema Initiation ausgelassen. Nichtsdestoweniger ist es ein essentieller Teil der ursprünglichen Traditionen, und ich bitte um Entschuldigung dafür, diesem Thema nicht mehr Raum gewidmet zu haben.
Weitere Themen dieser Art sind die Wissenschaft von den Phonemen, den Kategorien der Existenz, und der riesige Bereich der philosophischen Erkenntnis, die aus den praktischen Erfahrungen jener wundervoll verrückten Seher erwuchs. Schon die Sāṁkhya-Schule unterteile das gesamte Dasein in 25 Prinzipien. Spätere Systeme wie Krama, Pratyabhijña, Kula und Trika erweiterten das Daseinsspektrum zwischen dem Manifestierten, Menschlichen und dem undefinierbar Göttlichen in 36 oder 37 Kategorien oder passten derartige kosmologischen Modelle an die etwa 50 Phoneme des indischen ‚Alphabets‘ an. Das Ergebnis war ein Modell der Welt, in dem sich alle Wesensbereiche, Elemente und Zustände als Klänge darstellen ließen. Das hatte besonders starken Einfluss auf die stetig diffiziler werdende Wissenschaft der Mantras. Hier begegnet man derartig verfeinerten und komplizierten Kosmologien, dass sich die hebräische Qabala, die mesopotamischen Geheimlehren und die Anderswelten der Ägypter im Vergleich dazu wie Kinderspielzeug ausnehmen. Manche spirituellen Systeme waren weitgehend auf solche Spekulationen gegründet: der Weg zum Heil lag im Bedenken, Erkennen und Erinnern. Andere Systeme konzentrierten sich auf praktische Erfahrungen, und wenn den heranwachsenden Tantrikern welterschütternde Einsichten kamen, wurden diese mit einem Grinsen zur Kenntnis genommen, und niemand machte eine große Szene deshalb. Denn erschütternde Einsichten kommen immer wieder vor. Sie zeigen, dass man noch am Leben ist. Doch sollte man hier nicht einfach zwischen ‚Theoretikern‘ und ‚Praktikern‘ unterscheiden, denn so simpel ist es nicht. Es gibt ‘tantrische’ Systeme, die philosophisch erscheinen, es aber nicht sind, weil sie auf spiritueller Erfahrung statt auf Nachdenken, Logik und Spekulation beruhen. Tatsächlich gibt es eine Menge davon, und sie stimmen nicht miteinander überein, oft noch nicht einmal in den Grundlagen. In diesem Buch ist deshalb die ‘tantrische Theorie’ auf ein sehr kleines Minimum reduziert. Eine Ausnahme machen wir im Kapitel über den Krama, um zumindest ansatzweise vorzustellen, zu was für Höhenflügen die Seher/innen Kaschmirs fähig waren. Diese Tradition, obwohl sie größtenteils verloren und vergessen ist, bietet immer noch genug Material, um zum Denken, Verstehen und Erleben zu verhelfen. Und sie ist, was ein besonderer Bonus darstellt, eng mit einer ganzen Serie von Kālīs verknüpft. Auch hier habe ich die Theorie stark vereinfacht. Das alles soll verdeutlichen, dass es den meisten Tantrikern nicht nur darum ging, zu glauben oder Rituale durchzuführen. Nur weil Du und ich möglicherweise die direkte Erfahrung der Theorie vorziehen, will ich nicht den Eindruck vermitteln, dass alle ‘tantrischen’ Gurus so denken.