Der Mann ohne Piano

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Der Mann ohne Piano
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa


© 2018 Carpathia Verlag GmbH, Berlin

Linolschnitt: Johannes Stahl, www.johannesstahl.com

ISBN 978-3-943709-25-4 (Print)

ISBN 978-3-943709-26-1 (EPUB)

ISBN 978-3-943709-27-8 (MOBI)

ISBN 978-3-943709-28-5 (PDF)

www.carpathia-verlag.de

Inhalt

1  Teil eins (Piano, Nein, Nicht)

2  Teil zwei (Piano Bluespunk)

3  Teil drei (Ein ganz besonderer Patient)

4  Songzitate

Teil eins
(Piano, Nein, Nicht)

Ich brauchte ein Piano. So. Ich war einsam. Es war so langweilig. Ich brauchte ein Piano. Ich saß da, grübelnd, in meinem winzigen Zimmer und sah den Wänden beim Vergilben zu. Acht Möbelstücke hatte ich im Blick. Acht Töne in einer Oktave. So hatte ich sie arrangiert. Bürostuhl, Holzstuhl, Nachttisch, Matratze, Esstisch, Stehlampe, Kommödchen, Kommödchen. Manchmal sprang ich durchs Zimmer, die Möbel waren Tasten und ich kreierte fiktive Lieder. Niemand hörte sie. Nicht ich, nicht die Nachbarn. Meine Gliedmaßen wirbelten herum, spielten das fiktive Instrument und wirbelten Staub auf. Breite Beine erzeugten zwei Töne, Dreipunktlandung für einen Dreiklang. Ein bisschen wie Twister, nur einsamer. Und schlecht fürs Mobiliar. Fragen Sie mich am besten erst gar nicht nach der Stehlampe.

Ich brauchte ein Piano. Diese alte Mundharmonika war einfach nicht befriedigend. Ich brauchte eine Spielwiese für die Finger. Ich war immer gut gewesen mit den Fingern. Zwinker, zwinker, meine Damen. Mein Vater wollte, dass ich Zimmermann werde, wie er. Für Filigranes und Schönes hatte er keinen Sinn. Deshalb musste ich weg. Und das alte Piano meiner Großmutter im Speisezimmer zurücklassen. Ich musste weg. Aber ich brauchte ein Piano.

Sogar die Penner hier hatten Pianos. Also einer. Unter einer Brücke. Ich hatte es ihm stehlen wollen, als er schlief, aber er hatte es festgebolzt. Soweit trieb es mich schon. Arme Leute bestehlen. Ich konnte nicht mehr schlafen. Ich tagträumte von Sprungbrettern aus Elfenbein, und meine Finger katapultierten sich darauf in die Höhe und fielen wieder herab.

Es gab drei Musikgeschäfte in dieser Stadt. Aalbrecht, der war gut. Bertraam, der war in Ordnung. Kloss, dahin hätte ich meinen schlimmsten Feind nicht schicken wollen. Das war also die vorgeschriebene Reihenfolge. Wir hatten einen Plan, meine Damen und Herren. Was wir nicht hatten, war Geld.

Dass die Nachbarn mich nicht hörten, war wohl ein Irrtum, denn der alte Knasse kam vorbei und sagte, die unter mir hätten sich beschwert. Ich war wieder im Zimmer herumgesprungen, weil es mir beim Denken half, weil ich denken musste, wie ich an Geld kommen sollte, Geld für ein Piano. Die unter mir hätten das als störend empfunden, sagte der alte Knasse. Der alte Knasse, das war so eine Art Hausmeister hier. Eben der alte Knasse. Kahlrasiert am Kopf fragte er mich dann nach meiner Mundharmonika, die er da liegen sah. Ich sagte: »Ja.« Und ich sagte noch: »Das ist eine Mundharmonika.« Dann blickten wir uns grimmig an. Nach einer Weile setzte er sich ungefragt auf das C und erzählte, er habe einmal eine Bluesband gehabt, aber alle anderen wären an Kotze erstickt. Ob jeder an seiner eigenen oder irgendwie gegenseitig, wollte er nicht sagen. Er fragte, ob er das Instrument anspielen dürfe. Mit sabberigen Lippen saugte und nuckelte er an dem kleinen Stück Metall. Ihm kamen die Tränen. Der alte Knasse saß da und heulte auf dem C. Nach einer Weile hielt er inne und mir seinen Flachmann entgegen, der sich für gewöhnlich aus seinem Hosenhintern beulte. Ich nahm einen Schluck. »Eigentlich bin ich Pianist«, sagte ich dann. Der alte Knasse nickte und brummte irgendwas von Essiggurken. Ich wusste nicht genau, was ich von diesem Treffen halten sollte. Ein so inniges Verhältnis wie dieses hatte ich zu einem Hausmeister noch nie zuvor aufgebaut. Vielleicht könnten der alte Knasse und ich eine Formation bilden. Aber ein Piano war hierfür noch immer das fehlende Element. Bevor ich ihn fragen konnte, ob er mir zufällig Geld borgen könne, knallte der alte Knasse die Wohnungstür zwischen uns zu und war verschwunden. Ich fing wieder an, im Zimmer herumzuhüpfen. Ein gutes Lied sollte mir an diesem Tage aber nicht mehr gelingen.

Aalbrecht hatte samstags geöffnet, von 10 Uhr morgens bis 14 Uhr. Ich musste mich also beeilen. Um 12.51 Uhr verließ ich die enge Wohnung, und die Sonne strahlte mir auf die Stirn und aufs Kinn. (Dazwischen hatte ich eine übergroße Sonnenbrille platziert.) Ich wusste nicht recht, wie mein Besuch in Aalbrechts Musikladen laufen würde, denn ich hatte ja kein Geld. Ein Piano, das werden Sie wissen, meine Damen und Herren, kann man auch nicht einfach so stehlen. Vielleicht wollte ich einfach wieder in der Nähe eines solchen Instruments sein, das Holz beschnuppern, das Elfenbein streicheln, meinen Fuß auf dem Pedal wippen lassen. Ich wusste aber auch, dass ein solches Erlebnis mehr oder weniger viel Trennungsschmerz bedeuten und den Drang nach einem Piano nur verstärken würde. Ich fühlte mich, wie sich Drogenabhängige fühlen müssen, wenn sie nach langer Abstinenz einmal wieder zu ihrem Dealer schlendern.

Aalbrechts Musikladen befand sich hinter einer riesigen Kirche. Man konnte wählen, ob man den langen Weg außen herum oder den demütigen Weg hindurch ging. Ich hatte mich ganz in Schwarz gekleidet und dazu diese riesige Sonnenbrille im Gesicht. Ich musste wie ein Vampir ausgesehen haben für die armen, alten Katholiken, die da saßen und mich vorbeischlendern sahen, während sie doch eigentlich nur ganz vampirfrei beten und untertänig sein wollten. Ich fühlte mich auch ein wenig wie ein Vampir, um ehrlich zu sein, als die kühle Kirchenluft meine Wangen umwehte und mir gewissermaßen Zuflucht vor der glühenden Sonne gewährte. Was sind das für Leute, die die Sonne verschmähen? Die den Schatten vorziehen? Vampire sind das. Vampire und Pianisten.

Ein Pfarrer sah mich böse an. Aber das war nicht das erste Mal, dass mich ein Pfarrer böse ansah, wissen Sie.

Ich öffnete die Hintertür des Gottesgemäuers und ein großer Platz mit einem noch größeren Brunnen tat sich vor mir auf. Tauben. Kindergeschrei. Das Geplätscher des Brunnens. Eine mittelgroße Stadt und ihre mittelgroßen Plätze. Auf der anderen Seite war Aalbrechts, ein kleiner, unscheinbarer Laden zwischen einem Küchenzubehörgeschäft und einem Teppichladen. Ein grünes Neonschild versuchte, schwächlich gegen die Sonne anzuleuchten. Vor der Tür standen zwei Alt-Hippies und rauchten. Sie hatten womöglich gerade ihre Mandolinen zur Reparatur gebracht. Einer von beiden nickte mir freundlich zu, als ich an ihnen vorbei durch die klingelnde Eingangstür glitt. Der andere nickte nicht. Aber so sind Alt-Hippies: einer so, einer so.

»Was kann ich für Sie tun?« Egon Aalbrecht, holländische Vorfahren, kaum rauszuhören, guckte mich freundlich an. Dies war ein Musikladen, der gleich süßlich-nette Atmosphäre versprühte. Und Vanillegeruch. Wurde hier irgendwo gebacken? »Pianos sind hinten?«, fragte ich und deutete zwischen Tubas und Hörnern auf einen Gang. Aalbrecht nickte, und zu meiner Verwunderung riefen die beiden Herren vor der Tür auch »Ja! Ja!« durch die Tür hinein, ein wenig zu laut, wenn Sie mich fragen. Ich ging nach hinten. Das hätte ich nicht tun sollen, wissen Sie.

Da stand sie. Selbstbewusst stand sie da, sicher, dass sie meine volle Aufmerksamkeit haben würde. Diese Formen, dieser nuancierte Hautton. Ich war gefangen in ihrem Anblick. Sie blickte zurück, als wollte sie sagen: Hier bin ich. Nur ich. Sie saugte mich ganz ein, wir glitten gemeinsam hinab in eine Welt aus Wellen und Formen. Ihre Kurven. An all den richtigen Stellen. Faszinierend. Ich dachte daran, sie zu berühren. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, als ich daran dachte, meine Zunge die Kurven entlangzuführen. Sie funkelte im Licht des Musikladens. Ich war gebannt, wie in Trance. Mein Herz war bewegt. Meine Seele tänzelte herum, doch tatsächlich stand ich regungslos, fassungslos. Sie blitzte mir mit weit ausgestreckten, weißen Zähnen entgegen. Eine zarte Hand fuhr ihr sacht über die Zahnreihe, die gespickt war von schwarzen Lücken. Die Besitzerin der zarten Hand, die Dame am Piano, war auch ganz hübsch.

Ich näherte mich langsam, auf Zehenspitzen. Vanillegeruch und irgendein Mist von Mozart verhedderten sich in der Luft zu einer synästhetischen Brise Wohlbefindens. »Hallo«, sagte sie. Die Dame, nicht das Piano. Ich brummte nur zurück. Die Schönheit des Flügels hatte mich noch nicht losgelassen. Doch je mehr ich die weißen und schwarzen Tasten bei ihrem Tanz zu beobachten suchte, desto mehr fiel mein Blick auf die geschwinden Finger, die den Tanz antrieben. Und von den Fingern zur Hand. Winzige, goldene Härchen schimmerten mir entgegen, als mein Blick den Unterarm hinaufglitt, über die von ausgewachsenen, goldenen Haaren bedeckte Schulter bis hin zu dem wohlgeformten Gesicht mit den geschlossenen Augen. Hochkonzentriert wirkte sie, wie sie da saß. Silvia. Silvia Aalbrecht, die Tochter. Ich kannte sie. Irgendwoher. Ich wusste nicht mehr genau, woher. Ich bin da manchmal etwas löchrig. Möglicherweise war es die Euphorie, die ich noch in mir trug, vom Beäugen des Instruments, die sich nun übertrug auf das Gesicht dieses Menschen. Oder war ich immer schon verliebt gewesen? Hatte ich hier eine große Zuneigung, eine uralte Verbindung vergessen und nun wiederentdeckt? Sollte ich etwas sagen?

 

Irgendwann drehte sich ihr Kopf ganz vorsichtig in meine Richtung. Sie spielte weiter, warf mir aber für einen Sekundenbruchteil einen Blick zu, der zwischen Verwunderung, Misstrauen und Gefallen alles hätte sein können, und ich bekam es mit der Angst zu tun. Meine Erinnerung wollte mir immer noch nicht mehr Informationen gewähren, doch in diesem Augenblick kam es mir äußerst plausibel vor, dass ich immer schon vor Silvia weggelaufen war. Dass ich ein Angsthase gewesen war, immer wenn ich sie gesehen hatte, so wie auch in diesem Moment. Hastig sprintete ich zur Tür hinaus. Ich würde ein anderes Geschäft aufsuchen müssen.

Auf dem Nachhauseweg über den Obstmarkt fragte ich mich, ob es nicht einfacher wäre, homosexuell zu sein. In der Anwesenheit von Männern hatte mich nie eine derartige Nervosität befallen. Im Gegenteil, Männer betrachtete ich zumeist als meiner minderwertig. Die meisten waren dumme Bauerngeschöpfe ohne Sinn und Verstand, nur des Bieres wegen, nur der Weiber wegen aus dem Hause gekrochen. Selbst die Musiker, die ich kennengelernt hatte, waren großteils derartig stumpf. Viele musizierten aus eben genannten Gründen und nicht der Schönheit der Musik wegen. Ich wollte da ein anderer sein. Eine höhere Art. Ich wollte aufsteigen in die göttlichen Sphären. Den anderen waren diese Sphären ganz egal. So als ob sie sich gar nicht damit befassten, so als ob sie ganz zufrieden wären im Hier und Jetzt. Unfasslich. Inmitten dieser ohnehin schon recht tragischen Gedanken schiss mir dann auch noch ein Vogel auf die Schulter. Profanität überall um mich herum, dachte ich.

Aber ich schüttelte die Gedanken schon bald in eine andere Richtung, zurück in die von Silvia. Ich schämte mich einen Moment lang, dass ich quasi im gleichen Atemzug an Vogelschiss und Silvia denken musste. Was für ein Eindruck! Was für ein Geschöpf! Engelsgleich und so behände am Piano.

Der alte Knasse lag halb bewusstlos sabbernd im Hausflur. Ich wusste nicht genau, welche Körperflüssigkeiten da um ihn herum in den Boden sickerten, aber ich konnte ihn auch nicht fragen. Ich half ihm auf. Er stöhnte. Tränen glitten seine Wangen herab und Blut tropfte langsam von seiner Stirn auf sein Hemd. Er wäre in eine Schlägerei verwickelt worden, mit seiner Ex-Frau, sagte er. Sie habe ihm ein Glas teuren Whiskys über den Schädel gezogen. Er musste wieder lauthals weinen, als er bei mir in den Sessel sackte. Ich wusste, ich würde ihm einen Gefallen tun, wenn ich ihm Alkohol anbieten würde, aber ich hatte nichts im Haus. Da packte er aber auch schon seinen Flachmann aus. Er faselte etwas von einem Projekt. »Jetzt wo ich frei bin, frei von dieser Frau, frei zu tun und zu lassen was ich will, jetzt starte ich mein Projekt! Ach! Diese Freiheit!«

»Was machen wir hier unten jetzt?«

»Was soll denn diese Fragerei? Fürchtest du dich im Dunkeln oder was? Ich bitte dich.«

»Nein. So ist das nicht. Ich bin nur nie hier unten. Knasse? Knasse?«

»Ja, hier bin ich. Warte. Jetzt. Hier ist der Lichtschalter. Was meinst du, du bist nie hier unten? Nutzt du dein Kellerabteil gar nicht?«

»Wüsste nicht, was ich da reinstellen sollte.«

»Na gut. Jetzt warte mal, bis du das hier siehst.«

Klick.

»Oha.«

»Das ist alles uralt. Mit dem Equipment hab’ ich schon vor 20 Jahren gespielt. Hier, das ist ’ne alte Fender. Oh, das gute alte Zeug. Spiel mal an.«

»Ich kann nicht Gitarre spielen.«

»Ah, warte, ich zeig dir was.«

Und er spielte auf. Mit dem Ehrgeiz und der Fingerfertigkeit, wie sie nur die frisch Gedemütigten hervorzuzaubern wissen.

»So. Ich bin natürlich ein bisschen eingerostet. Aber das kommt alles wieder, wirst sehen. In ein paar Wochen kann ich wieder auftreten.«

»Nicht schlecht. Nicht schlecht, Knasse.«

»Klasse, Knasse! Das haben sie früher immer zu mir gesagt. Damals, als noch was ging.«

»Klasse, Knasse.«

»Ja.«

»Oh, das ist eine Menge Schnaps da in der Ecke.«

»Jaja, ich hab’ vorgesorgt. Suff gehört dazu. Ich spiele den Blues, da gehört Suff dazu. Haha.«

»Na, dann steht dem Projekt ja nichts mehr im Wege.«

»Richtig, richtig. Sag der Putzfrau nicht, woher das Blut im Treppenhaus kommt, ja?«

Ich lag im Zimmer und starrte vor mich hin. Der alte Knasse fing etwas an. Ich wollte auch etwas anfangen. Ich war so abhängig. Silvia spielte Piano. Wahrscheinlich saß sie da immer noch und spielte Piano. Na. Es war fast Mitternacht. Wahrscheinlich nicht. Aber auch sie war mir da voraus. Und ich war so abhängig. Und zu Aalbrecht konnte ich nun nicht mehr gehen. Einmal mehr ging ein ereignisreicher aber erfolgloser Tag voller dunkler Gedanken zu Ende, und ich schwor mir, morgen würde ich zu Bertraam gehen. Das war auch ein guter Laden, hatte ich gehört. Und ich würde nicht gehen, ohne zumindest ein Piano berührt zu haben. Jawohl!

Diese Nacht träumte ich von einer Bühne, die vor einem brodelnden Vulkan aufgebaut war. Der alte Knasse, im schicken Anzug, sagte meinen Namen laut in ein Mikrofon hinein und ein großes Publikum fing an zu jubeln. Aber die Bühne war leer und ich konnte nicht darauf, die Bühnentreppe wollte mich irgendwie nicht lassen. Jedes Mal, wenn ich einen Schritt machte, fügte sich oben eine neue Stufe hinzu, wie eine Rolltreppe nach unten, die man falsch herum hinaufläuft. Da rief jemand auf der anderen Seite der Bühne meinen Namen. Es war Silvia. Sie hatte riesige Hände und streckte sie in meine Richtung aus, aber ich musste mich ducken, damit sie mich nicht mit ihren Pranken umriss. Sie hatte keine Kontrolle über ihre riesigen, wunderschönen Hände. Plötzlich sah ich, wie der alte Knasse am Bühnenrand stand und lasziv an einem ihrer riesigen Finger leckte. Dabei sah er mich ganz spöttisch an. Seit diesem Traum war ich dem Knasse gegenüber wieder etwas skeptischer eingestellt.

Aber offenbar war Silvia ein Thema. Das hätte ich nicht gedacht, nicht gewollt. Es ärgerte mich, dass sie in direkte Konkurrenz zu meiner Sehnsucht nach dem Instrument zu treten versuchte. Ein Freund von mir hatte einmal gesagt, dass ein jeder Mensch unterschiedliche Reize und Bedürfnisse auslösen und erfüllen kann. Jeder wirkt unterschiedlich und ist deshalb unvergleichbar mit anderen. Und jeder hat seine Daseinsberechtigung. Und deshalb gibt es keine Konkurrenzstrukturen. Und deshalb ist Polygamie okay. Das war seine Argumentation. Ich strengte mich an, diese Sichtweise auf Silvia, mich und das Piano zu übertragen. War es in Ordnung, an sie zu denken und nicht an das Piano, wenn ich etwa allein zu Hause war? Oder sollte ich zumindest an beides gleichzeitig denken? Sollte ich versuchen, die beiden Bedürfnisse zu verbinden? Sollten Silvia und das Piano zu einer Einheit verschmelzen, so wie sie es im Aalbrecht-Laden ja fast getan hatten? Aber worauf sollte dann der Fokus liegen? Ach. Ich fühlte mich wie in einer betrunkenen Ménage-à-trois. Hin und her gerissen, überfordert. Zu viele Reize, zu viele elegante Kurven. Würde Silvia sich weigern, in meinem Kopf eine Einheit mit dem Piano einzugehen, wenn sie davon wüsste? Würde es die Majestät des Instruments beleidigen, sich überhaupt mit einem bloßen Sterblichen messen zu müssen? Mein Kopf drohte zu schwellen ob der schizophrenen Ästhetik. Ich war ein kranker, kranker Mann. Aber was sollte ich tun?

Am Abend hatte der alte Knasse mich in den Keller eingeladen. Er hatte auch alte Hippie-Freunde eingeladen, zum Jam. Ich war viel jünger als die, meine Klamotten viel älter.

»Oh, wir sind keine Boheme mehr. Nicht so wie du. Wir waren vielleicht mal so. Nichts zu tun, nie Geld, dafür mit purpurfarbenen Wölkchen, die über unseren Köpfen geschwebt sind und ziemlich überzeugend nach Freiheit gerochen haben. Jaja, Knasse, weißt du noch? Im Café Flaschenfabrik? Und im Niemandsland? Damals hatten wir auch noch Auftritte.«

Der Gitarrist mit den langen, verfilzten Locken spielte ein Lick, um seinen Vortrag zu untermauern. Ich fühlte mich fehl am Platz und versuchte, irgendwie dazuzugehören. Das waren alles offene, gesprächige, alte Herren, Familienväter. Die hatten ihren musikalischen Zenit überschritten, aber ihren sozialen gerade erst erreicht. Weisheit statt Freiheit. Vielleicht war es Weisheit, sich mit den Grenzen der eigenen Freiheit zurechtzufinden. Ekelhafter Gedanke. Aber ich war nun also Boheme. Und sie waren Familienväter. Ich nahm mir vor zu reden. Um dazuzugehören. Das kann ja nur schiefgehen, wenn man reden will, aber nichts zu sagen hat. Reden um des Redens willen, nicht des Inhalts.

»Und … war das dann also eher Blues oder Bluesrock oder Folk? Oder was war das genau?«

»Ah … das gute, alte Schubladendenken. Junge, ich habe eines gelernt. Ich habe wirklich nicht viel gelernt, aber das eine, das ist sicher. Es gibt nie ein Schwarz und Weiß. Das sind Kategorien, die dem begrenzten menschlichen Verstand Situationen verständlicher machen sollen, aber die Wahrheit liegt immer irgendwo dazwischen. Immer Grau. Die Extrempunkte werden nie komplett erreicht. Das Schöne daran ist, dass du jedem extremen Negativ auch immer irgendwie ein Positiv entlocken kannst, wenn du dich nur genug bemühst.«

»Haha. Benno lässt wieder den Philosophen raushängen. Kommt halt dazu, dass du mit der Einstellung auch in allem Guten was Schlechtes findest.«

»Schon richtig. Aber das Schlechte ist ja nie komplett schlecht.«

Die alten Männer lachten. Ich wurde grantig. Ich warf das alte Akkordeon, das aus irgendwelchen Gründen auf meinem Schoß lag, beiseite, mit ein bisschen zu viel Wucht, so dass die Hippies mich verblüfft ansahen. Ich trank mein Bier schnell aus und sprintete davon.

Ein paar Stunden später lag ich schlaflos im Bett. Teils, weil aus dem Keller noch immer betrunkener Hippie-Blues dröhnte, teils, weil ich selbst überrascht war, als wie kaputt mein Nervenkostüm sich heute wieder erwiesen hatte. Ich drehte mich hin und her, wälzte mich herum, wickelte die Bettdecke um Glieder und Kopf. Ich war ein Wrack. Ein armseliger Schweißklops. Ich brauchte ein Piano.

Bertraams Laden lag etwas außerhalb. Ich erduldete eine Fahrt mit der U-Bahn. Jawohl, die U-Bahn. Was sich früher im Nebenzelt des großen Zirkus aufzuhalten pflegte und zur Belustigung aller in einem sicheren, sozial verträglichen Umfeld zur Schau gestellt wurde, setzte sich jetzt ungefragt neben dich. Und redete mit sich selbst. Ach, so viele Selbstredner. Die nahmen selbstredend alle die U-Bahn. Warum nur fehlte da das Feingefühl, das Umfeld nicht weiter mit den eigenen wirren Gedanken zu belästigen? Herrje. Als ich mir das so dachte, als hätte der Gott der Ironie sich gegen mich verschworen, da sabberte mir meine Nebenfrau auf die Schulter. Glänzender Speichel glitt ihr langsam aus dem Mundwinkel, dabei starrte sie mich an, als hätte ich ihr vor langer, langer Zeit einmal den Krieg erklärt. Der Glibber dieses Subjekts landete auf meinem Hemd, in etwa dort, wohin vor einiger Zeit ein gewisser gefiederter Freund seine Hinterlassenschaft abgeworfen hatte. Ich sagte nichts.

Bertraams Laden lag weit außerhalb. Eine Parkanlage trennte die entsprechende Straße von der U-Bahn-Station, und ich versuchte, möglichst unauffällig an schlendernden Pärchen, herumrennenden Kindern und kläffenden Hunden vorbeizugleiten. Nichts versaute mir meinen Nachmittag so sehr wie eine laute Parkanlage. Ich wollte doch nur ein Piano, dachte ich bei mir. War das denn zu viel verlangt? Die glibbernde Flüssigkeit auf meiner Schulter trocknete langsam ein. Ich starrte für einen Moment auf den langsamen, sickernden Verschwindevorgang, dann musste ich aber schon einem umherfliegenden Fußball ausweichen. Ein Kind rannte mir fast in den Schritt. Ich wollte doch nur ein Piano. Was musste ich denn noch alles ertragen?

Bertraams Laden lag viel weiter außerhalb, als meine Erinnerung es mir zu vermitteln versucht hatte. Der Duft des gemeinen Döners lag an jeder folgenden Straßenecke in der Luft. Selbst bei Ankunft am Ladeneingang konnte ich es noch riechen. Weit und breit war hier keine Dönerbude mehr zu sehen, doch schien der Geruch hier geradezu am stärksten. Ich hielt einen Moment inne und überlegte, ob ich das wirklich wollte. Den Konkurrenten von Aalbrecht aufsuchen, von dem ich wusste, dass er qualitativ, sozial und ästhetisch minderwertiger war. Ich fühlte mich wie ein Betrüger, ich fühlte mich falsch. Aber ich wollte ein Piano. Gefühle waren zweitrangig.

 

Herr Bertraam, ein untersetzter Mann mit Augenklappe, saß hinter seinem Tresen und sortierte genervt murmelnd irgendwelche Akten.

»Ein Piano? Ja, gut, da hinten. Hast du Geld?«

»Hm. Nein.«

»Geld ist in diesem Laden das anerkannte Zahlungsmittel. Verzieh dich.«

Das brachte mich auf eine Idee.

»Aber … ich kann Sie durch Dienstleistungen bezahlen. Ich würde arbeiten. Ich bin ein geschäftiger Kerl.«

»Was hilft’s mir? Ich schmeiße diesen Laden jetzt seit 20 Jahren alleine, da werd’ ich die restlichen paar Monate auch noch hinbekommen, bevor mich ein Herzinfarkt dahinrafft, weil ich mich immer mit so lausigen Kunden ohne Geld rumschlagen muss. Verzieh dich. Verzieh dich. Verzieh dich.«

Zum Schluss hin wurde er da richtig laut. Ein unangenehmer, kleiner Kerl.

»Brauchen Sie wirklich keine Hilfe mit dem Laden?«

»Musik Bertraam besteht neben Aalbrecht und Kloss einzig und allein aus einem Grund, mein Junge: Weil ich die ganze Scheiße hier alleine regle. Der Aalbrecht hat doch keinen Schimmer, der würde untergehen, wenn ihm nicht seine Familie ständig in den Arsch kriechen würde. Der Drecksack. Und Kloss, darüber brauchen wir ja gar nicht erst zu reden. Keine Qualität, nur Schund, nur Billigkram. Damit gewinnst du keinen Blumentopf, aber natürlich die Herzen der Kunden. Kunden wie du! Ohne Geld. Ohne Leidenschaft.«

»Ich habe Leidenschaft.«

»Wenn du wirklich Leidenschaft für gute Musik hättest, wüsstest du, dass Qualität nun mal kostet. Und Qualität ist, was wir hier verkaufen. Für Geld. Für Geld!«

»Oder … Dienstleistungen?«

War das jetzt noch mutig-konsequent oder schon naiv-dumm?

»Haha. Junge, jetzt wird’s langsam albern. Ich brauche hier wirklich nichts. Das einzige, was mich auf dem Weg zum Multimillionär zurückhält, ist die dämliche Konkurrenz.«

»Dann sollte man in diese Richtung vielleicht arbeiten.«

Ich war erschrocken von mir selbst. Ich fühlte mich wie ein Gangster. Straßen-Lingo und verstecke Andeutungen. Hatte ich gerade angeboten, für Bertraam und gegen dessen Konkurrenz Schritte zu unternehmen? Womöglich illegale? Woher kam diese intrigante Ader? Vielleicht von dieser Augenklappe. Ich starrte sie an und versuchte, die Fassungslosigkeit über mich selbst so gut es ging zu verbergen. Eine Nasenbreite weiter blickte mich ein Auge an, zwischen Erstaunen, Interesse und Mordlust.

Und so schlich ich mit einem kleinen Fläschlein Buttersäure, das Bertraam mit aller Selbstverständlichkeit aus seinem Thekenschrank/Waffenarsenal zog, nachts in Richtung Aalbrecht. Einem klischeehaft-fiesen Händeschlag ausweichend hatte Bertraam mir verschwörerisch auf die Schulter geboxt, so sehr, dass sie jetzt schmerzte. Ein blauer Fleck würde das werden. Eine Erinnerung an die Schandtat, die ich zu begehen hatte. Ein Anschlag für ein Piano. Ich schlich vorbei an Betrunkenen, Obdachlosen und Prostituierten und war wieder einmal von den Abgründen dieser Stadt überrascht, die sich bisweilen ihren Weg aus den Gullydeckeln nach oben schälten. Dann wurde mir kurz übel bei dem Gedanken, dass ich nun dazugehörte. Ich war ein Teil der Schattenwelt, ich und mein Fläschlein Buttersäure.

»Aalbrecht soll stinken! Stinken soll er! Für Wochen! Haha!«

Bertraams Worte. Ich hatte einen Deal geschlossen, nicht mit dem Teufel, aber mit einem relativ unsubtilen Bondschurkenimitat. Ich versuchte zu husten, wie es die Bewohner der Nacht für gewöhnlich tun: besorgniserregend und laut. So als würde ich mir jahrzehntelang angesammelten Dreck aus der Lunge schießen wollen, doch er saß einfach zu fest. Ich versteckte das Fläschlein unter meiner Jacke, doch der erfahrene Privatdetektiv hätte mich sofort als verdächtiges Element ausgemacht. Ich hielt kurz inne, auf einer Brücke. Das düstere Wasser plätscherte unter mir. Ich suchte nach meiner Reflexion im Spiegel des Flusses, doch nichts war zu sehen. Alles war düster geworden. Meine Schulter stach.

Ich wurde passiert von einem großnasigen Trunkenbold. Er klopfte mir auf den Rücken und lächelte mich an. Er musste denken, ich war einer der Seinen. Er sah mir tief in die Augen, als wolle er in meine Seele blicken. Dann lachte er laut auf, nahm einen kräftigen Schluck und ging weiter. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht, dass Silvia Aalbrecht mit den Konsequenzen einer Stinkbombe zu kämpfen hatte. Ich wollte das nicht. Ich wollte doch nur ein Piano.

Mein Fläschlein trieb im Fluss davon, und während ich vor mir selbst wegrannte, formte ich in Gedanken eine Blockade. Die Blockade sollte mich daran hindern, je wieder einen Schritt ins himmlische Reich der Aalbrechts oder in den Teufelsschlund mit dem Augenklappengeier zu wagen. Nach drei bis vier Straßenecken war ich auch wieder in der Lage, den logischen Schluss daraus zu ziehen: Kloss. Musikhandlung Kloss. Dort würde ich nicht in libidinöse Schüchternheit verfallen. Dort würde ich nicht zum Kriminellen gemacht werden. Dort würde alles gut werden. Qualitativ fragwürdig, aber gut.

Wer war ich? Was für eine Art Mensch? Ich war nicht ohne Trieb, ohne Verlangen, ohne Leidenschaft. Aber ich war ohne die innere Stärke, Opfer zu bringen. Über den eigenen Schatten zu springen, dafür war ich zu feige. Ich fürchtete mich zu sehr vor den Konsequenzen für das Bild, das ich abgeben würde. Vor Silvia. Vor den Wächtern des Staates. Vor mir selbst. Ich fürchtete mich vor meinem Anblick, würde ich auch nur eine Unze davon verändern, um mein teures Ziel zu erreichen. Ich wollte nichts dringlicher als das Piano und war dennoch nicht bereit, von meinem – bis dato pianolosen – Weg abzuweichen, um meiner Obsession Befriedigung zu verschaffen. Was sollte ich also für ein Waschlappen von einem Mann sein? Ein Mann, der nicht einmal den Weg eines Verbrechers beschreiten konnte, aber auch auf den Pfaden der Tugend kein Glück finden wollte. Ich wusste um meine Schwachheit. Und doch konnte ich nicht daraus ausbrechen. Silvia könnte mich nie lieben, nicht so. Das Leben eines Verbrechers konnte ich so auch nicht annehmen, nicht mit letzter Überzeugung, denn waren es nicht immer die Waschlappen im Kartell, die, die nicht mit letzter Überzeugung den Weg des Gesetzesbrechers gingen, die es zuerst erwischte? So war ich gefangen in einem Strudel aus Selbstzweifel und Lebensangst und eigentlich wollte ich doch nur Musik machen.

»Benno. Knasse.«

»Ah, schön, dass du dich auch mal blicken lässt.«

»Ja, willkommen, mein Freund. Diese Kneipengelage sind zwar von jeher auf einen eingeschworenen Kreis reduziert gewesen, aber wir sind immer offen für neue Gesichter.«

»Freibiergesichter wie deins. Haha.«

»Allerdings gibt’s das Freibier erst morgen. Immer erst morgen. Haha.«

»Ja. Ähem. Danke für die Einladung, jedenfalls. Ich wollte mich nochmal …«

»Aaaah, warte, warte, bevor du irgendwas sagst, drei kühle Helle, meine Schöne.«

»Poetisch bestellt, Benno.«

»Jawohl.«

»Also, ich wollte mich nochmal entschuldigen. Letztens, meine Reaktion, das Akkordeon. Das war nicht wirklich …«

»Das war nicht wirklich rockenroll von dir.«

»… nicht wirklich rockenroll von mir.«

»Überhaupt gar kein Thema, mein Junge. Manchmal muss man seinen Ballast loswerden.«

»I had to throw down my accordion to get away from the police. Haha.«

»Wusstest du, dass Knasse hier etwa 1 500 Songtexte auswendig rezitieren kann? Kein Scheiß. Ein wandelndes Songbook.«

»Naja, die Akkorde weiß ich nie. Haha.«

»Beim Blues immer die gleichen.«

»Noch zwei kühle Helle, schöne Schönheit.«

»Benno, nenn mich nicht so, du kennst meinen Namen. Herrgott.«

»Beruhig dich doch, meine schöne, schöne Schönheit.«

»Also erstens übertreibst du jetzt und zweitens brauchst du dir gar nichts einbilden. Das haben wir alles schon durchgekaut.«

»Och, schau mal, wie unser Neuling große Augen macht.«

Benno hatte mir angeboten, mich zu Kloss zu begleiten. Er hätte da Connections und könnte vielleicht was für mich rausschlagen. Stattdessen redete er die ganze Zeit nur mit der rotbackigen, etwas korpulenten Eigentümerin.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?