Soziale Netzwerke

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Soziale Netzwerke
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[1]utb 4563

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[2]

PD Dr. Jan Arendt Fuhse ist als Heisenberg-Stipendiat am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin tätig. In seiner Forschung beleuchtet er das Zusammenspiel von sozialen Netzwerken, Sinnformen und Kommunikationsprozessen, sowie die Rolle unterschiedlicher Methoden in der Netzwerkforschung. Seit 2014 ist er Sprecher der Sektion für Soziologische Netzwerkforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

[3]Jan Arendt Fuhse

Soziale Netzwerke

Konzepte und Forschungsmethoden

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz

mit UVK/Lucius · München

[4] Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2016

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Einbandmotiv: © hobbitfoot – Fotolia.com

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

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Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98

www.uvk.de

UTB-Band Nr. 4563

ISBN 978-3-8252-4563-4 (Print)

ISBN 978-3-8463-4563-4 (EPUB)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

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[5]Für Paula und Wilmar

[6][7]Inhalt


Vorwort
1.Einleitung: Zur Logik der Netzwerkforschung
1.1Netzwerkforschung
1.2Anmerkungen zu Literatur
2.Vorgeschichte: von Beziehungen zum Netzwerk
2.1Formale Soziologie
2.2Symbolischer Interaktionismus
2.3Die Figurationssoziologie von Norbert Elias
2.4Soziometrie
2.5Von der Gestaltpsychologie zur Balance-Theorie
2.6Der Human Relations-Ansatz
2.7Frühe Gemeindestudien und Surveys
2.8Britische Sozialanthropologie
2.9Résumé
3.Graphen und Matrizen
3.1Graphen und Matrizen
3.2Software für formale Netzwerkanalyse
3.3Zur Messung von Netzwerken
3.4Dichte und Reziprozität
3.5Résumé
4.Zentralität und strukturelle Löcher
4.1Zentralität
4.2Schwache Beziehungen und strukturelle Löcher
4.3Résumé
5.Triaden und Cliquen
5.1Triaden
5.2Cliquen
5.3Résumé
6.Blockmodellanalyse
6.1Grundlegendes Vorgehen
6.2Strukturelle Äquivalenz
[8]6.3Das Verfahren der Blockmodellanalyse
6.4Theoretische Interpretation
6.5Résumé
7.Simulationen und Small World-Netzwerke
7.1In sechs Schritten um die Welt
7.2Die Small World-Netzwerke bei Duncan Watts
7.3Power Law und skalenfreie Netzwerke
7.4Kritik
7.5Simulationen
7.6Exponential Random Graph Models
7.7Résumé
8.Ego-zentrierte Netzwerke
8.1Namens-Generatoren
8.2Namens-Interpreter
8.3Statistische Auswertungen
8.4Probleme der Erhebung
8.5Schneeball-Befragung
8.6Soziale Isolation in Amerika
8.7Résumé und empirische Befunde
9.Qualitative Methoden
9.1Exploration
9.2Verstehen
9.3Teilnehmende Beobachtung
9.4Qualitative Interviews
9.5Dokumenten- und Konversationsanalyse
9.6Résumé
10.Netzwerkmechanismen
10.1Drei Typen von Mechanismen
10.2Netzwerkbildung
10.3Netzwerkstrukturierung
10.4Netzwerkeffekte
10.5Überblick und Methoden
11.Theorien sozialer Netzwerke
11.1Handlungstheorie
11.2Sozialkapital
11.3Relationale Soziologie: Netzwerke mit Sinn
[9]11.4Systemtheorie
11.5Akteur-Netzwerk-Theorie
11.6Résumé
12.Schluss
12.1Allgemeiner Ansatz
12.2Hinweise zum Forschungsdesign
Literatur
Glossar
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Index

[10][11]Vorwort

 

Das vorliegende Lehrbuch ist aus einem Studienbrief für die TU Kaiserslautern entstanden. Ich danke Jochen Mayerl für den Vorschlag, sowie ihm, Christian Vogel und Norina Wolf für die dortige Betreuung. Sonja Rothländer von der UVK Verlagsgesellschaft Konstanz hat die Buchpublikation unterstützt und betreut und mit Marina Essig das Buch lektoriert. Lena May und Oscar Stuhler haben das gesamte Manuskript gelesen und kommentiert. Ihre Ausdauer und ihre ehrliche Kritik haben das Buch deutlich verbessert. Bei einzelnen konkreten Fragen haben Sanne Smith und Andreas Herz geholfen. Ganz abgesehen von den vielen Menschen, die bis heute ihr Wissen über Netzwerke mit mir geteilt haben und auf diese Weise für mich etwas Licht ins Dunkel brachten. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank!

Zu den stark anwendungsbezogenen Kapiteln 3 bis 6 des Buchs habe ich einige Übungsaufgaben mit Musterlösungen erstellt. Um Platz zu sparen, finden Sie die Musterlösungen online unter folgendem Link:

http://www.utb-shop.de/9783825245634

Zudem sind zentrale Begriffe in einem Glossar am Ende des Buches erläutert. Diese Begriffe sind im Text mit einem Pfeil ➔ gekennzeichnet.

In der Zeit der Entstehung dieses Buchs zeigte sich mir das Wunder des Lebens von zwei Seiten. Dieses Buch ist Paula gewidmet, die gerade viel lernt, und Wilmar, von dem ich so viel gelernt habe.

1. [13]Einleitung: Zur Logik der Netzwerkforschung

Wer über die soziale Welt nachdenkt oder redet, kommt heute wohl kaum noch um »Netzwerke« herum. Früher ordnete man Menschen in »Klassen« oder in »Schichten« ein. Die Gesellschaft war bei Marx und Engels wie auch bei neueren Konflikttheoretikern (Dahrendorf, Collins) als Widerstreit von Gruppen um Rang und Ressourcen angelegt. Ab den 1950er-Jahren sprach alle Welt von »Systemen«. Parsons und Luhmann sahen die Gesellschaft als weitgehend harmonisches Arrangement von Systemen wie der Wirtschaft, der Politik oder der Wissenschaft. Habermas setzte »System« und »Lebenswelt« gegenüber. Seit den 1980er-Jahren kam es zum Siegeszug des rational handelnden Akteurs (Becker, Coleman, Esser). Individuen sollten ihr »Humankapital« und auch ihr ➔»Sozialkapital« maximieren, und Feuilletons und Buchläden boten hierfür Ratgeber an.

Langsam aber sicher nehmen mittlerweile die »Netzwerke« überhand. Hierfür einige Belege:


(1)Wir müssen inzwischen »netzwerken« und unser Sozialkapital optimieren. Über Netzwerke finden wir Jobs und erhalten wichtige Informationen; mit Beziehungen zu wichtigen Persönlichkeiten kann man Eindruck schinden.
(2)Interaktiv auf den Kontakt zwischen Benutzern ausgerichtete »Social Networking Sites« wie Xing, Academia oder Facebook werden zu unverzichtbaren Foren für Selbstdarstellung und Kommunikation.
(3)Wir leben in einer ➔»Small World«, in der angeblich jede mit jedem über höchstens sechs Zwischenschritte in persönlichen Beziehungen verbunden ist. Diese »Six Degrees of Separation« sind zum Gegenstand von Bestsellern, einem Broadway-Theaterstück und Party-Gesprächen geworden.
(4)Eine Reihe von prominenten Autoren (wie Castells und Wellman) sprechen von einer »Netzwerkgesellschaft«. Für sie sind inzwischen Netzwerke und nicht mehr Klassen oder Systeme die dominante soziale Struktur der Gegenwart (oder zumindest der Zukunft).

Wir werden in diesem Buch den Begriff des Sozialkapitals und die Small World-Netzwerke diskutieren. Social Networking Sites berühren wir nur am Rande, weil sie nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus der Welt sozialer Netzwerke[14] bilden. Und ob wir inzwischen oder bald in einer Netzwerkgesellschaft leben, ist empirisch schwer zu beantworten.

1.1 Netzwerkforschung

Der Fokus des vorliegenden Buchs liegt auf der empirisch orientierten Netzwerkforschung in den Sozialwissenschaften. Deren Aufstieg in den letzten 60 Jahren hat wohl den Siegeszug der Netzwerkmetapher im öffentlichen Diskurs mitgetragen. Sie will aber eigentlich etwas anderes: Ihr geht es um die empirische Untersuchung von sozialen Strukturen mit Blick auf die Beziehungsgeflechte zwischen den beteiligten Akteuren.1

Eine beeindruckende Reihe von Studien zeigt in ganz unterschiedlichen sozialen Bereichen Effekte von sozialen Netzwerken:

 Oft werden Arbeitsstellen über ganz bestimmte soziale Beziehungen (»weak ties«) gefunden (Granovetter 1973: 1371ff).

 Auch innerhalb von Unternehmen fördern bestimmte Positionen in persönlichen Netzwerken den beruflichen Aufstieg (Burt 1992: 115ff).

 Soziale Beziehungsnetze bestimmen den Wechsel von Regimes – etwa von der Republik zur Herrschaft der Medici im Florenz der Renaissance (Padgett/Ansell 1993).

 Für den Erfolg sozialer Bewegungen braucht es soziale Netzwerke zur Rekrutierung von Aktiven (McAdam 1988; Opp/Gern 1993) wie auch zur Bildung von Koalitionen zwischen unterschiedlichen Bewegungsorganisationen (Osa 2003; Baldassari/Diani 2007).

Die Liste ließe sich lang fortsetzen. Netzwerke spielen offensichtlich auf unterschiedlichen Ebenen – zwischen Individuen, aber auch zwischen Organisationen – und in ganz verschiedenen Phänomenen eine wichtige Rolle. Diese empirisch nachgewiesenen Effekte sind ein Beleg für die wichtige Rolle von Netzwerken im Sozialen.

Hinzu kommt, dass es uns sehr leicht fällt, in Netzwerken zu denken. Wir alle können uns intuitiv etwas unter einem Netzwerk von Sozialbeziehungen etwa in einer Schulklasse oder in einem Unternehmen vorstellen.

[15]Empirische Befunde und intuitive Zugänglichkeit sind die großen Pluspunkte des Netzwerkbegriffs. Um beide ist seit den 1950er-Jahren eine reichhaltige und interdisziplinäre Forschungstradition entstanden. Erste systematische Verwendung fand das Netzwerkkonzept in der britischen Sozialanthropologie. Schnell wurden in der Soziologie und in der Mathematik Verfahren für die formale Analyse von Beziehungsmustern entwickelt. Diese wurden u. a. in der Politikwissenschaft, in der Pädagogik, der Ökonomie und der Geschichtswissenschaft aufgenommen. In den letzten Jahren wendet sich sogar die Physik der Modellierung sozialer Netzwerke zu.

 

(a) Was ist ein Netzwerk?

Was aber genau ist ein soziales Netzwerk? Rein formal-mathematisch besteht ein ➔Netzwerk aus Knoten und aus Verbindungen (»Kanten«) zwischen ihnen. Im hypothetischen Beispielnetzwerk in Abbildung 1 sind die Knoten a bis p in 24 Verbindungen miteinander verknüpft.

Angewandt auf soziale Netzwerke bedeutet das: Akteure sind die Knoten, und die Verbindungen zwischen ihnen stehen für Sozialbeziehungen. Dabei bleibt zunächst offen, um was für Akteure oder Sozialbeziehungen es geht.


(1)
(2)Akteure sind oft Individuen. Aber auch Organisationen oder Staaten können als Knoten in sozialen Netzwerken auftreten. Wie im allgemeinen Sprachgebrauch geht es um soziale Einheiten, denen wir Handeln zurechnen und bei denen wir erwarten, dass sie sich gegenüber anderen sozialen Einheiten unterschiedlich verhalten. So beobachten wir derzeit zwischen den Staaten Deutschland und Frankreich eine bessere Beziehung als zwischen Deutschland und China.

Abb. 1: Hypothetisches Beispielnetzwerk


Quelle: Eigene Darstellung

Definition: Ein soziales Netzwerk steht für das Muster an Sozialbeziehungen zwischen einer Menge von Akteuren. Sozialbeziehungen bezeichnen beobachtbare Regelmäßigkeiten der Interaktion zwischen Akteuren und entsprechende Verhaltenserwartungen.

(b) Forschungslogik und Abgrenzungen

In der praktischen Forschung bedeutet das: Soziale Phänomene werden mit Blick auf das Muster von Sozialbeziehungen untersucht. Andere Aspekte wie die Verteilung von Attributen und Ressourcen, Kultur und Normen sind dabei nicht völlig unwichtig. Aber sie werden gegenüber den Beziehungsnetzen als zweitrangig betrachtet oder auch als Effekte derselben.

Insbesondere das individuelle Verhalten erscheint als Folge der Position im Netzwerk – und nicht als direkt bestimmt durch kategoriale Zugehörigkeiten (Geschlecht, ethnische Herkunft), durch individuelle Attribute (Alter, Bildung, Einkommen) oder durch Gruppenkultur und Normen (Ideologie, erwartete Verhaltensweisen, formale Rollen).

Teilweise werden diese anderen Aspekte sozialer Phänomene mit Blick auf Zusammenhänge zu sozialen Netzwerken untersucht. Gesucht wird dann nach den Ursachen oder nach den Folgen bestimmter Netzwerkpositionen. Immer aber bleiben Netzwerke zentraler Erklärungsfaktor sozialer Phänomene.

Drei Abgrenzungen sind dabei besonders wichtig:


(1)
(2)Zweitens grenzt sich die Netzwerkforschung deutlich von der statistisch orientierten Umfrageforschung ab (Wellman 1983: 165). Diese wird oft einfach als »empirische Sozialforschung« bezeichnet und teilweise verächtlich als »Variablensoziologie« tituliert. In Umfragen werden typischerweise mindestens 1.000 Individuen mit standardisierten Fragebögen nach Attributen wie Geschlecht, Alter, ethnischer Herkunft, Beruf und Bildungsstand oder auch nach Einstellungen und Präferenzen (z. B. zur Wahlentscheidung) befragt. Das Ergebnis ist eine Datenmatrix von Individuen mit verschiedenen Ausprägungen von Attributen, Einstellungen und Präferenzen. Diese Ausprägungen werden dann mit statistischen Verfahren auf systematische Zusammenhänge untersucht. Zum Beispiel: Inwiefern hat das Geschlecht einen Einfluss auf das Einkommen oder auf die Wahlentscheidung?
Die Netzwerkforschung kritisiert an dieser Vorgehensweise zwei Punkte: Zum einen seien soziale Strukturen nicht auf prinzipiell isolierte Individuen (mit unterschiedlichen Merkmalsausprägungen) reduzierbar. Zum anderen liefere die Analyse von Zusammenhängen zwischen Merkmalsausprägungen ein irreführendes Bild des Sozialen: Selbst wenn statistisch ein Zusammenhang zwischen Geschlecht und Einkommen nachgewiesen wird, blieben die dahinter liegenden ➔Mechanismen unklar – weil das Soziale eben nicht aus isolierten Merkmalsträgern besteht, sondern aus dem Austausch zwischen ihnen. Die Netzwerkforschung erhebt den Anspruch, Netzwerke als reale soziale Strukturen zu untersuchen. Dem gegenüber liefern Verteilungen von Merkmalen in einer Population nur indirekte Anhaltspunkte, so der Vorwurf.
Natürlich reduziert auch die Netzwerkforschung das Soziale auf bestimmte Aspekte – nämlich auf die sozialen Beziehungsnetze. Der Anspruch der Netzwerkforschung ist aber, damit näher an der sozialen Realität zu liegen als mit der Reduktion auf isolierte Individuen in der klassischen empirischen Sozialforschung. In gewisser Weise ist dieses Argument eine Variante des anti-kategorischen Imperativs. Denn man geht eben nicht davon aus, dass die in Umfragen abgefragten Kategorien die entscheidenden oder prägenden Strukturen des Sozialen abbilden – sondern setzt auf die Untersuchung tatsächlicher Austauschbeziehungen.
Drittens formuliert die Netzwerkforschung eine deutliche Absage an rein theoretisches Arbeiten. Solches finden wir etwa in den Systemtheorien von Talcott Parsons und Niklas Luhmann, aber auch in der Kritischen Theorie und in anderen Gesellschaftsdiagnosen. Im Gegensatz dazu will die Netzwerkforschung Aussagen prinzipiell empirisch unterfüttern. Auch die eingangs formulierte These einer sich formierenden »Netzwerkgesellschaft« gehört zu solchen nicht überprüfbaren Aussagen und liegt der empirisch orientierten Netzwerkforschung fern. Mit dem Verzicht auf alles nicht empirie-fähige kann sie prinzipiell keine Aussagen über gesellschaftliche Strukturen oder über langfristige Entwicklungen treffen – außer man könnte sie untersuchen wie zum Beispiel die Struktur und Entwicklung von internationalen Beziehungen (Maoz 2010).

Damit betreibt die Netzwerkforschung die empirische Untersuchung von sozialen Strukturen auf der Meso-Ebene hinsichtlich der Muster sozialer Beziehungen. Diese liegen zwischen der Mikro-Ebene von Interaktionssituationen und der Makro-Ebene gesellschaftlicher Teilbereiche und Institutionen. Die Vorgehensweise ist prinzipiell strukturalistisch, weil die Strukturebene als zentral betrachtet wird. Der gesellschaftliche Kontext bleibt dabei genauso ausgeblendet (oder zumindest: nachgeordnet) wie die Verteilung individueller Attribute oder kulturelle Selbstverständnisse.

(c) Vier Forschungsstränge und Überblick über das Buch

Innerhalb des so umrissenen Grundansatzes können wir soziale Netzwerke unterschiedlich betrachten. Je nach eingenommener Perspektive werden unterschiedliche Methoden zur Untersuchung benutzt. Dadurch werden verschiedene Aspekte von Netzwerken sichtbar. Grob lassen sich vier Herangehensweisen und Stränge in der Netzwerkforschung unterscheiden (Fuhse/ Mützel 2011):


(1)Im Mittelpunkt steht die formale Analyse von Vollnetzwerken. Dafür braucht man Informationen über alle Sozialbeziehungen zwischen allen Akteuren in einem relativ abgegrenzten Kontext – etwa zwischen Schülern in einer Klasse oder den Mitarbeitern eines kleinen Unternehmens. Die Akteure können dann mit Blick auf ihre Zentralität oder ihre Rolle im Netzwerk miteinander verglichen werden. Oder man kann Aussagen über die Struktur des Gesamtnetzwerks treffen – etwa über die Dichte der Beziehungen oder über systematische Rollenbeziehungen. Im vorliegenden Buch beschäftigen sich die Kapitel 3 bis 7 mit unterschiedlichen Verfahren und Ansätze dieser ➔formalen Netzwerkanalyse.
Auch die statistische Analyseego-zentrierter Netzwerke ist schon lang etabliert und anerkannt. Dabei werden meist zufällig ausgewählte Personen nach wichtigen sozialen Beziehungen gefragt. Aus den Antworten lässt sich etwa ablesen, ob die Befragten weitgehend Familie, Freunde und Bekannte mit ähnlichen Attributen (soziale Herkunft, Geschlecht, Alter, Bildung usw.) als Bezugspersonen nennen, wie viele Bezugspersonen sie nennen, und ob sich viele der Bezugspersonen untereinander kennen. Die Eigenschaften persönlicher Netzwerke werden dann mit statistischen Verfahren auf Zusammenhänge mit anderen individuellen Variablen untersucht. Damit lassen sich etwa folgende Fragen analysieren: Inwieweit pflegen Mitglieder ethnischer Gruppen vor allem Kontakte untereinander? Haben Frauen dichtere Beziehungsnetze? Werden Menschen im Alter sozial isoliert? Um die Erhebung und die Untersuchung ego-zentrierter Netzwerke geht es in Kapitel 8.
(3)In den letzten Jahren werden verstärkt auch qualitative Methoden zur Untersuchung sozialer Netzwerken verwendet (Hollstein/Straus 2006; Crossley 2010; Bellotti 2015). Dabei geht es vor allem entweder um die Exploration von Netzwerkkontexten, die für quantitative Studien schwer zugänglich sind, oder um das Verstehen von Sinngehalten in Netzwerken: Welche Bedeutungen haben Beziehungen und Netzwerke für die Beteiligten? Wie werden diese in der Kommunikation ausgehandelt? Und sind unterschiedliche Stile oder Orientierungen an bestimmte Positionen im Netzwerk gebunden? Kapitel 9 behandelt die qualitative Untersuchung von sozialen Netzwerken.
(4)Auch die theoretische Reflexion blieb lange relativ randständig in der Netzwerkforschung. Seit etwa 1990 behandelt jedoch eine Reihe von Publikationen Fragen wie: Was sind soziale Netzwerke genau, und wie verändern sie sich? Warum zeigen sie die vielfältigen, empirisch beobachtbaren Effekte (White 1992; Crossley 2011; Fuhse 2015a)? Um diese theoretische Reflexion und Unterfütterung der Netzwerkforschung geht es in Kapitel 11. In diesen Bereich gehören auch schon die konzeptionellen Überlegungen zu Sozialbeziehungen aus der formalen Soziologie von Georg Simmel und Leopold von Wiese und der Figurationssoziologie von Norbert Elias (Kapitel 2).

Diese vier Forschungsstränge sind immer wieder miteinander verwoben, etwa im Sozialkapitalkonzept (siehe 11.2) oder in der Identifikation von wieder kehrenden Netzwerkmechanismen (Kapitel 10). Es ist sinnvoll, das Phänomen Netzwerke von mehreren Seiten (mit unterschiedlichen Methoden) zu betrachten. Auch gehören empirische Forschung und theoretische Reflexion zusammen.

[20]Das Buch gliedert sich wie folgt:

 Im zweiten Kapitel werden die Vorläufer der Netzwerkforschung beleuchtet. Dabei stehen die konzeptionelle Entwicklung in der formalen Soziologie, der britischen Sozialanthropologie und anderen Ansätzen im Vordergrund. Zusätzlich erläutere ich die Entwicklung von grundlegenden Ideen wie der Balance-Theorie und den Soziogrammen (2).

 Anschließend stelle ich Graphen und Matrizen als Basis der Netzwerkanalyse vor, sowie die in den Kapiteln 3 bis 6 verwendete Software UCI- NET. Daneben diskutiere ich kurz die Messung von Netzwerken und erste Maßzahlen mit der Dichte und der Reziprozität von Netzwerken (3).

 Das vierte Kapitel wendet sich der Untersuchung von individuellen Positionen im Netzwerk zu. Im Mittelpunkt stehen verschiedene Maße für Zentralität. Daneben werden die Stärke schwacher Beziehungen bzw. Brücken über strukturelle Löcher diskutiert (4).

 Es folgt die Untersuchung von lokalen Strukturen in Netzwerken. Können wir dicht vernetzte Subgruppen (Cliquen) identifizieren? Und welche Grundkonstellationen von je drei Akteuren (Triaden) dominieren (5)?

 Das sechste Kapitel stellt die Blockmodellanalyse als ein Verfahren für die Untersuchung der Gesamtstruktur von Netzwerken vor. Diese gruppiert Akteure induktiv zu Kategorien mit ähnlichen Rollenbeziehungen (6).

Die Kapitel 3 bis 6 stellen die jeweiligen Verfahren anhand einer Beispielstudie vor – den Freundschafts- und Ratsuchebeziehungen in einem kalifornischen IT-Unternehmen (Krackhardt 1992; 1999). Die Analyseschritte und Ergebnisse werden in UCINET durchgeführt und hierfür knappe Anleitungen gegeben. In diesen Kapiteln formuliere ich auch kurze Übungsaufgaben, um sich mit dem Programm und den Analysen vertraut zu machen.

Die restlichen Kapitel liefern eher Überblicke über die jeweilige Forschung:

 Das siebte Kapitel behandelt neuere Entwicklungen: zum einen die Forschung zu sogenannten Small World-Netzwerken, also zur universalen Erreichbarkeit aller Individuen in wenigen Schritten; zum anderen die Verfahren der Netzwerksimulation und die damit verwandten Exponential Random Graph Models (7).

 Anschließend geht es um die Untersuchung ego-zentrierter Netzwerke in standardisierten Befragungen. Hier stelle ich die wichtigsten Verfahren zur Erhebung und statistischen Analyse von wichtigen Sozialbeziehungen vor und diskutiere einige Ergebnisse aus der Forschung (8).

 Das neunte Kapitel gibt einen Überblick über qualitative Methoden in der Netzwerkforschung – über die mit ihnen verfolgten Erkenntnisinteressen, sowie über die wichtigsten Verfahren: teilnehmende Beobachtung,[21] qualitative Interviews (mit Netzwerkkarten) und Dokumenten- und Konversationsanalyse (9).

 Das zehnte Kapitel dreht sich um Netzwerkmechanismen. Dabei geht es um relativ kleinteilige und empirisch gut nachgewiesene Zusammenhänge der Netzwerkbildung, der Netzwerkstrukturierung und der Netzwerkeffekte (10).

 Schließlich stelle ich die wichtigsten Theorien sozialer Netzwerke vor. Hier sind zunächst eine handlungstheoretische Modellierung und das Konzept des Sozialkapitals zu nennen. Es folgen die relationale Soziologie um Harrison White, die Systemtheorie und die Akteur-Netzwerk-Theorie (11).

 Im Schluss skizziere ich den allgemeinen Ansatz der Netzwerkforschung und biete einige Hinweise zum Forschungsdesign an.

Am Ende des Buchs, nach dem Literaturverzeichnis, liefert ein Glossar eine Übersicht über die wichtigsten Begriffe zum schnellen Nachschlagen.

1.2 Anmerkungen zu Literatur

Es gibt bereits eine Reihe von Einführungsbüchern zu sozialen Netzwerken – auch im deutschen Sprachraum. Diese decken jedoch zumeist nicht die volle Bandbreite der Netzwerkforschung ab. Dorothea Jansen konzentriert sich auf die formale Netzwerkanalyse mit einigen Betrachtungen zu ego-zentrierten Netzwerken und zu Handlungstheorie und Sozialkapital (2003). Auch das Buch von Mark Trappmann, Hans Hummell und Wolfgang Sodeur behandelt vor allem die formale Netzwerkanalyse und liefert insbesondere Anleitungen für eigenständige Auswertungen (2011). Dies ist auch der Fokus der meisten englischsprachigen Lehrbücher (de Nooy et al. 2011; Hennig et al. 2012; Kadushin 2012; Prell 2012; Borgatti et al. 2013). Boris Holzer führt kurz in die formale Netzwerkanalyse ein und wendet sich dann der theoretischen Unterfütterung zu (2006). Um diese geht es auch in einer Einführung in die Theorie sozialer Netzwerke von Harrison White (Schmitt/Fuhse 2015). Ein von Betina Hollstein und Florian Straus herausgegebene Band behandelt die qualitative Untersuchung von Netzwerken (2006). Und ein neuer Band von Markus Gamper und Andreas Herz widmet sich der Untersuchung ego-zentrierter Netzwerke (2016).

Die genannten Publikationen behandeln ihr Schwerpunktthema differenzierter als das vorliegende Buch. Mir geht es eher um einen Überblick über die verschiedenen Ansätze. Was unterscheidet sie, und inwiefern gehören sie trotzdem zusammen als Stränge der Netzwerkforschung in den Sozialwissenschaften? Welche Methoden bieten sich konkret an, um welche Forschungsfragen[22] zu beantworten? Am Schluss komme ich auf diese ganz zentrale Frage des Forschungsdesigns in der Untersuchung sozialer Netzwerke zurück.

Leseempfehlungen:

Holzer, Boris 2006: Netzwerke, Bielefeld: transcript.

Jansen, Dorothea 2003: Einführung in die Netzwerkanalyse, Wiesbaden 2003.

Kadushin, Charles 2012: Understanding Social Networks, Oxford: Oxford University Press.

Scott, John 2000: Social Network Analysis; Second Edition, London: Sage.

Stegbauer, Christian/Roger Häußling (Hg.) 2010: Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden: VS.

Trezzini, Bruno 1998: »Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse: Eine aktuelle Übersicht« Zeitschrift für Soziologie 27, 378–394. (online verfügbar unter: http://zfs-online.org/index.php/zfs/article/view/2984/2521)

Wellman, Barry 1983: »Network Analysis: Some Basic Principles« Sociological Theory 1, 155–200.

1 Ich bemühe mich in diesem Buch um eine geschlechtssensible Sprache. Um sperriges »Gendern« zu vermeiden, schreibe ich oft in generischen Feminina – ich hoffe, männliche Leser fühlen sich auch mit »Leserin« und »Forscherin« angesprochen. In Beispielen wechsle ich ohne weitere Erklärung zwischen männlichen und weiblichen Bezeichnungen. Der zentrale Begriff des Akteurs bleibt allerdings in diesem Buch männlich und »er«. Genau wie »die Person«/»sie« und »das Individu- um«/»es« verweist er auf weibliche, männliche oder auch queere Identitäten.