KAIJU WINTER

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Er streckt seine Hand aus und Stephie schüttelt sie.

»Es war mir ein Vergnügen, Sheriff«, sagt er, als er auf den ersten Bus zugeht. »Hoffentlich werden Sie eine Reise ohne Zwischenfälle haben.«

»Danke, Mr. Linder«, antwortet Stephie. »Und auch viel Glück für Ihre Suche.«

Linder hält inne und sieht Stephie ein paar Sekunden lang an, bevor er den Kopf schüttelt. »Danke, Sheriff. Glück kann ich wirklich gebrauchen.«

Schnell geht er auf den ersten Bus zu und zieht dann das Foto des Jungen heraus, als er die Stufen hochgeht und sich neben den Fahrersitz stellt.

»Hallo allesamt, mein Name ist Special Agent Tobias Linder vom FBI. Ich will hier niemandem Schwierigkeiten bereiten, sondern möchte nur kurz wissen, ob Sie diesen Jungen schon einmal gesehen haben.«

***

»Grandma!«, ruft Kyle Morgan. »Eric ist da! Wir müssen los!«

Mit seinen siebzehn Jahren misst Kyle bereits über einen Meter achtzig und wächst immer noch. Sein blonder Haarschopf schaut unter der Baseballkappe hervor und eine Krankenhausmaske versteckt sein breites Grinsen, als er dem Streifenwagen zuwinkt, der gerade neben dem Blockhaus zum Stehen kommt, das er sich mit seiner Großmutter Terrie Morgan teilt.

Wobei sie diesen Nachnamen eigentlich schon lange nicht mehr benutzt haben. Die meisten Leute wissen genug, um sie sicherheitshalber »die Holdens« zu nennen, wenn Fremde in der Nähe sind. Ihre wahre Identität ist in Champion ein offenes Geheimnis, aber eins, das alle akzeptieren. Der Norden von Montana ist eine Gegend, in die Menschen auf der Flucht vor einer Vergangenheit ziehen, die sie lieber komplett vergessen wollen – von daher haben Kyle und Terrie gleich von Anfang an sehr gut hierher gepasst.

»Hey, Kyle«, ruft Mikellson und steigt aus dem Streifenwagen. »Du und Terrie solltet eigentlich inzwischen schon längst im Ort sein.«

»Hi, Eric«, sagt Kyle, der zu ihm hinübergeht und ihm die Hand schüttelt. »Biscuit ist hinter irgendwas hergelaufen und Grandma ist ihm natürlich mal wieder nachgerannt.«

»Wir können aber leider nicht warten, bis dein Hund wieder auftaucht, Kyle«, antwortet Mikellson. »Das weißt du doch oder?«

»Grandma geht hier ohne Biscuit aber bestimmt nicht weg«, sagt Kyle lachend, »und das weißt du auch. Manchmal glaube ich, dass sie den Hund lieber mag als mich.«

»So ein Schwachsinn«, entgegnet Mikellson. »Jeder in Champion weiß doch, wie vernarrt Terrie Morgan in ihren Enkel ist.«

»Terrie Holden, meinst du«, sagt Kyle nachdrücklich.

»Tja, genau deshalb bin ich hier«, erwidert Eric und deutet mit dem Kopf auf das zweistöckige Blockhaus. »Können wir kurz reingehen, um der Asche zu entkommen? Ich hab das Scheißzeug nämlich allmählich richtig satt.«

»Immer langsam mit den Kraftausdrücken, Eric Mikellson«, fährt ihn Terrie Morgan plötzlich an, die hinter einem riesigen Husky-Wolfsmischling namens Biscuit um die Ecke des Blockhauses auftaucht. »Was um alles in der Welt machst du denn hier? Solltest du nicht eigentlich die Straße bewachen?«

»Wir haben ein Problem«, erklärt Mikellson. »Es ist jemand aufgetaucht, der nach euch sucht.«

Terrie Morgan, eine gut aussehende Frau Anfang sechzig, ist fast ebenso groß wie ihr Enkel. Ihr hellrotes Haar ist inzwischen fast ganz weiß und unter ihrem aschebedeckten Cowboyhut zu einem Dutt gedreht. Ihr Gesicht ist von der Sonne und dem Wind verwittert, hat aber etwas von der glühenden Jugend und Charakterstärke beibehalten, die unter der Bevölkerung von Nordmontana so häufig zu finden ist. Ein Teil ihrer Stärke verfliegt allerdings sofort angesichts von Mikellsons Worten.

»Beweg deinen Hintern sofort ins Haus«, sagt Terrie, »und erzähl mir, was los ist.« Sie dreht sich um, schlägt sich gegen die Oberschenkel, und Biscuit geht sofort bei Fuß – die gesamten fünfzig Kilo Hund trotten im Gleichschritt neben ihr her, während sie alle ins Haus gehen.

Terrie nimmt vorsichtig den Hut vom Kopf und setzt ihn auf eine Ablage neben der Tür. Sie ziehen sich die ascheverstaubten Jacken aus und hängen sie auf, während Biscuit zu der großen Hirschledercouch rennt, hochspringt, sich vier Mal um die eigene Achse dreht und dann mitten in einer Aschewolke hinlegt.

An den Wänden des Blockhauses hängen Tierschädel aller Art und aller Größen neben kleinen und großen Fotos von Kyle mit Terrie und auch von Terrie und Kyle mit einer Frau, die jünger als Terrie ist und die den beiden stark ähnelt. Es sind auch viele Bilder dabei, auf denen Terrie Arm in Arm mit Stephie zu sehen ist; auf manchen ist Kyle mit dabei, auf anderen nicht. Offensichtlich ist das Blockhaus auch das Zuhause von Sheriff Stephie Stieglitz.

»Verpackt ihr denn gar nichts in Kisten?«, fragt Mikellson verwirrt, als er sich im Haus umsieht und nur ein paar Reisetaschen und Koffer neben der Tür gestapelt sieht, während der Rest der Blockhauseinrichtung genauso aussieht wie immer.

»Wozu denn?«, fragt Terrie resignierend. »Wenn der Supervulkan hochgeht, wird das Haus garantiert unter Metern von Asche begraben. Da ist es doch wohl ganz egal, ob nun alles in Kisten verpackt ist oder nicht. Wir werden ja schließlich nicht so bald wieder zurückkommen, falls überhaupt jemals.«

»Stimmt«, meint Mikellson und setzt sich an den Frühstückstisch der offen konzipierten Küche.

»Wird das ein gemütlicher Plausch?«, fragt Terrie mit in die Taille gestemmten Händen. »Sag doch einfach, was los ist!«

»Special Agent Tobias Linder ist gerade in den Ort gefahren«, erzählt Mikellson. »Bist du dir sicher, dass du dich nicht lieber hinsetzen willst?«

»Scheiße«, ruft Terrie und überrascht damit sowohl Kyle als auch Mikellson. »Entschuldigung.«

Sie setzt sich hin und bedeutet dann Kyle, sich ebenfalls einen Stuhl zu nehmen. »Wo ist er denn jetzt genau?«, erkundigt sich Terrie.

»Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er mit Stephie geredet hat«, antwortet Mikellson. »Sie wird ihn schon irgendwie wieder loswerden, aber ich weiß nicht, wie lange das dauert.«

»Wer ist denn Special Agent Tobias Linder überhaupt?«, fragt Kyle.

Mikellson sieht Terrie überrascht an, aber die Frau schüttelt nur stumm den Kopf und der Deputy fragt nicht weiter nach.

»Er ist vom FBI«, sagt Terrie zu Kyle. »Er ist einer der Gründe dafür, dass wir hier leben.«

»Ich habe gedacht, dass das FBI beim Zeugenschutzprogramm hilft«, meint Kyle. »Wieso haben wir denn dann Angst vor ihm?«

»Ich habe keine Angst vor dem Mann«, sagt Terrie barsch. »Niemals.«

Kyle sieht von seiner Großmutter zu Mikellson, seufzt dann und verschränkt die Arme.

»Also, wer ist er?«, fragt Kyle.

»Ärger«, antwortet Terrie.

»Und eine Behinderung«, erklärt Mikellson. »Wenn er im Ort bleibt, bedeutet das, dass ihr keinen von den Bussen nehmen könnt.«

»Ich würde sowieso viel lieber mit dem Bronco fahren«, entgegnet Terrie. »Bei dem Gedanken daran, in einen dieser Schulbusse gequetscht zu werden, wird mir ganz übel. Und Biscuit wird's bestimmt auch nicht gefallen.«

Als er seinen Namen hört, schaut der riesige Mischling sofort hoch und bellt leise. Dann rollt er sich wieder zusammen und schließt die Augen.

»Siehst du?«, sagt Terrie. »Er ist jetzt schon ganz gestresst.«

»Ihr zwei habt mir immer noch nicht gesagt, wieso wir uns vor diesem Linder-Typen verstecken«, wirft Kyle ein. »Vielleicht hat Mom ihn ja hergeschickt. Die US-Marshals und das FBI arbeiten doch andauernd zusammen. Vielleicht ist er ja gekommen, um zu helfen, die Busse zu dem Konvoi zu eskortieren.«

»Ist er nicht«, sagt Mikellson. »Er ist wegen euch gekommen.«

»Das verstehe ich nicht«, entgegnet Kyle. »Mom ist ein US-Marshal, Stephie ist der Sheriff von Lincoln County, und du lebst mehr oder weniger auch hier.« Kyle zeigt auf Mikellson. »Oder zumindest isst du andauernd hier. Es ist ja nicht gerade so, als ob wir uns vor den Gesetzeshütern verstecken. Wieso machen wir uns dann also wegen eines FBI-Agenten Sorgen? Gehört der nicht zu den Guten?«

»Nein, gehört er nicht«, antwortet Terrie nachdrücklich. »Und ich habe leider auch nicht die Zeit, dir das alles genau zu erklären.«

»Vermutlich hättest du das schon lange tun sollen«, sagt Mikellson leise.

»Du hältst den Mund«, erwidert Terrie und zeigt mit dem Finger auf Mikellson. »Du hast überhaupt keine Ahnung, wie schwierig es war, uns hier zu verstecken.«

»Danke, aber ich habe durchaus eine Ahnung«, antwortet Mikellson. »Denk nicht mal für einen Augenblick, dass ich das nicht weiß, Terrie Morgan.«

»Ja, ja, du weißt es«, meint Terrie nickend. »Tut mir leid, Eric.«

»Also will mir wirklich keiner sagen, wer dieser Typ ist?«, fragt Kyle wütend. »Ich bleibe also mal wieder im Dunklen wie üblich?«

»Ach, jetzt spiel doch nicht die Dramaqueen«, antwortet Terrie. »Du kannst jetzt den Rest der Sachen in den Bronco laden, während ich hier mit Eric rede. Mach das, und dann erzähl ich dir vielleicht nachher alles, wenn wir erst einmal unterwegs sind.«

Die sarkastische Antwort, die er geben will, erstirbt auf Kyles Lippen, als er den Blick seiner Großmutter sieht. Kein guter Zeitpunkt, um sich aufmüpfig aufzuführen.

»Gut«, antwortet Kyle deshalb, steht schnell auf und wirft dabei seinen Stuhl um.

Biscuit springt nun auch bellend von der Couch, den massiven Kiefer weit geöffnet.

»Biscuit!«, ruft Kyle. »Ruhig! Ich war das nur.«

Der Mischling bellt noch einmal, sieht dann zu Kyle und winselt schließlich.

»Na komm schon, Dicker«, ruft Kyle, als er geht, um seine Jacke anzuziehen. »Du kannst mir beim Packen helfen.«

 

»Behalte ihn aber im Auge«, ermahnt ihn Terrie. »Wir fahren los, sobald der Bronco abfahrbereit ist. Wir haben keine Zeit mehr, ihn zu suchen, wenn er wieder hinter einem Eichhörnchen auf und davon laufen sollte.«

»Ja, ja«, meint Kyle und hört sich schon genauso an, wie seine Großmutter. »Na komm, B.«

Der Junge öffnet die Tür und Biscuit rennt hinaus, direkt auf die Tannen und Kiefern zu, die das Blockhaus umgeben.

»Biscuit! Verdammter Mist! Komm zurück!«, brüllt Kyle, als er die Tür hinter sich zumacht.

Mikellson sieht Terrie an, aber diese hält einen Finger empor. »Sag's nicht.«

»Du hast ihm immer noch nicht erzählt, wer Linder ist?«, fragt Mikellson.

»Ich habe doch gesagt, du sollst es nicht sagen«, antwortet Terrie. »Und ehrlich gesagt war das auch gar nicht meine Idee. Lu war diejenige, die gesagt hat, dass sie es ihm erzählen würde, wenn sie denkt, dass der Junge alt genug dafür sei.«

»Aber Terrie, es ist für eure Sicherheit absolut wichtig, dass ihr alle wisst, wer der Mann ist!«, bricht es aus Mikellson heraus. »Das weißt du doch!«

»Und meine Tochter ebenso!«, fährt Terrie ihn an. »Aber egal, wie oft ich es ihr gegenüber erwähne, sie sagt immer nur, dass sie es ein anderes Mal tun wird.«

»Was meinst du, weshalb er jetzt hier ist?«, fragt Mikellson. »Ein elender Vulkan ist gerade dabei, auszubrechen und den Großteil dieses Landes in metertiefer Asche zu versenken. Scheint mir ein komischer Zeitpunkt zu sein, plötzlich eure Spur aufnehmen zu wollen.«

»Das ist nicht weiter komisch«, sagt Terrie. »Er muss an ein Verzeichnis der Telefonnummern gekommen sein, die Lu angerufen hat.«

»Und was würde ihm das bringen?«, fragt Mikellson verwirrt. »Lu benutzt doch einen Scrambler, wenn sie mit euch redet. Und du rufst sie auch nie auf der Arbeit an. Hat sie nicht aufgepasst und von einem verdammten Regierungsapparat aus angerufen?«

»Sie hat immer aufgepasst, aber Stephie und ich nicht«, erklärt Terrie. »Als die Details über die Evakuierung bekannt wurden und wir herausgefunden haben, dass es ein Lotteriesystem dafür geben wird, welche Zivilisten auf die Schiffe gelassen werden, die von Galveston, New Orleans und Mobile aus ablegen, hat Stephie direkt Lu angerufen, um zu sehen, ob wir die Bevölkerung von Champion nicht auf eins der Militärschiffe schaffen können.«

»Das weiß ich ja«, sagt Mikellson. »Aber wieso sollte ausgerechnet das Linder hierherführen?«

»Lu hatte keine Gelegenheit, einen neuen Scrambler zu beschaffen, als das alles passiert ist«, erklärt Terrie daraufhin. »Die einzige Möglichkeit, sie zu erreichen war, sie auf ihrem normalen Handy anzurufen. Es war ein einfacher Anruf und er hat auch nur fünf Minuten gedauert.« Terrie breitet die Arme aus und zeigt auf die Wände. »Es hat Stephie viel Arbeit gekostet, uns hier ein so sicheres Zuhause zu schaffen. Es wäre ein Understatement zu sagen, dass Lu der Frau einen oder zwei Gefallen schuldet. Stephie ist eben das Risiko eingegangen, sich diesen Gefallen von ihr zu erbitten. Wir haben gedacht und gehofft, dass Linder in diesem Chaos niemals herkommen könnte, selbst wenn er Lus Telefonanrufe immer noch durchgehen würde.«

»Sieht so aus, als hättet ihr falsch gedacht«, sagt Mikellson bitter.

»Ja, scheint so«, antwortet Terrie. »Du musst mir das aber nicht extra unter die Nase reiben.«

»Und wie sieht nun der Plan aus?«, fragt Mikellson. »Wie schmuggeln wir euch beide hier raus, ohne dass Linder es merkt?«

»Ich werde Kyle im Bronco mitnehmen und mit ihm zu Bonner's Ferry fahren«, erklärt Terrie. »Da werden wir dann einfach auf euch warten.«

»Aber dafür musst du mitten durch den Ort fahren, um zum Highway 37 zu kommen«, wirft Mikellson ein. »Wenn er noch da ist, wird er euch garantiert sehen, und ich kann dir sagen, dem Typen entgeht nicht viel.«

»Er kennt doch meinen Bronco gar nicht«, wendet Terrie ein. »Und ich werde auch nicht selber fahren.«

»Wer dann?«, fragt Mikellson und hält inne. »Doch nicht etwa … Kyle? Glaubst du, er wird ihn nicht mehr wiedererkennen?«

»Es ist so viele Jahre her«, meint Terrie. »Jedes Mal, wenn Lu den Jungen sieht, erkennt sie ihn kaum wieder, und das ist alle drei Monate der Fall. Es sollte reichen, dass wir schnell durch den Ort fahren und dann auf den Highway kommen.«

»Das hoffe ich«, seufzt Mikellson. »Für den Jungen hoffe ich es wirklich.«

***

»Du bleibst hier«, knurrt Kyle Biscuit an, als er den Mischling zum Bronco zerrt. »Beweg dich nicht. Keine Eichhörnchenjagd mehr!«

Der Mischling bellt zustimmend und legt sich dann in die Asche am Hinterrad des großen SUVs. Es ist ein klassischer großer Bronco aus dem Jahr 1984, der mit einer extrastarken Federung, einem achtzylindrigen Multikraftstoff Turboladermotor, übergroßen Reifen und verstärkten Stoßstangen ausgestattet ist. Kyle nennt ihn deshalb gerne den Panzer.

Er öffnet nun die Heckklappe und wirft zwei Reisetaschen hinein, dreht sich dann um und geht zur Veranda zurück, um die restlichen Koffer zu holen. Biscuit beobachtet ihn derweil. Sein Fell sträubt sich und er springt nun bellend auf.

»Mann, B!«, brüllt Kyle, der erschrocken einen Luftsprung macht. »Du hast mir einen Wahnsinnsschrecken eingejagt!«

Biscuit bellt und bellt, und Kyle ist schon so weit, dass er zu ihm hinübermarschieren und ihm eins auf die massive Schnauze geben will, als er plötzlich seine Beine zittern spürt und innehält.

Nein, es sind gar nicht seine Beine, es ist der Boden. Die Erde zittert. Dann wankt sie und nach zwei oder drei Sekunden ist es ein richtiges Erdbeben.

»Grandma!«, schreit Kyle panisch. »Grandma!«

Terrie und Mikellson kommen aus dem Blockhaus gerannt und starren die schwankenden Bäume am Haus an.

»Das kann nichts Gutes bedeuten!«, ruft Mikellson über die Geräusche des Erdbebens hinweg.

Kapitel 2

»Wir müssen sofort jemanden hinschicken!«, ruft Dr. Probst vor Dr. Alexander Bartollis Schreibtisch. Klein, wie sie ist, schlank, dunkelhaarig und mit hellbraunen Augen sieht Dr. Probst alles andere als einschüchternd aus, aber der Ton ihrer Stimme macht ihren Vorgesetzten trotz allem in Sekundenschnelle nervös. »Wir haben einen ganzen Tag lang nichts mehr von Allison oder Bob gehört!«

»Das liegt wahrscheinlich nur an den Empfangsstörungen durch den Vulkan«, antwortet Dr. Bartolli und versucht, sie mit einer lockeren Handbewegung wegzuscheuchen, aber das lässt das Feuer in ihren Augen nur noch mehr auflodern.

»Funktionieren die Sensoren denn?«

»Nein«, antwortet Dr. Probst sofort. »Aber …«

»Haben Sie schon versucht, mit den Behörden vor Ort Kontakt aufzunehmen?«

»Es gibt dort keine Behörden vor Ort, und das wissen Sie auch!«, sagt Dr. Probst wütend. »Die gesamte Gegend ist bereits nach Mobile oder Galveston oder einem anderen dieser Orte evakuiert worden. Allison und Bob sind ganz alleine da draußen und es hörte sich nicht so an, als ob der Funkkontakt durch simple Frequenzstörungen ausgefallen ist. Ich habe gehört …«

»Wie jemand schrie, ja, das sagten Sie bereits«, erwidert Dr. Bartolli seufzend. »Und ich muss auch das wieder einer Frequenzstörung zuschreiben. Es war vermutlich einfach nur ein statisches Quietschen, das Sie gehört haben. Bei dem Stress, unter dem wir zurzeit alle stehen, ist das auch kein Wunder.«

Dr. Probst muss ihre ganze Willenskraft dazu aufwenden, nicht über den Schreibtisch zu springen und dem Mann eine Ohrfeige zu verpassen.

»Wenn wir bis morgen nichts von ihnen gehört haben, rufen Sie jemanden an und veranlassen eine Suche«, verkündet Dr. Probst. »Ansonsten werde ich mich selbst auf den Weg dorthin machen.«

»Und wie? Vielleicht mit Ihrem geheimen Spionageflugzeug?«, entgegnet Dr. Bartolli lachend. »Machen Sie einfach Ihre Arbeit, Cheryl. Lassen Sie sich das Militär um die Leute draußen vor Ort kümmern. Ich werde ganz nach Vorschrift eine Meldung einreichen, aber ich werde keine extra Anrufe deshalb machen. Ich gehe jede Wette ein, dass wir schon bald von den beiden hören werden, nämlich sobald sie ein funktionierendes Telefon gefunden haben.«

»Gut«, sagt Dr. Probst knapp, dreht sich abrupt um und stürmt aus dem Büro.

Dr. Bartolli sieht ihr kopfschüttelnd hinterher und widmet sich dann wieder der Arbeit auf seinem Schreibtisch. Er nimmt sich vor, nachher eine Meldung zu machen. Oder gleich am nächsten Morgen. Na ja, irgendwann morgen auf jeden Fall.

***

US-Marshal Lucinda »Lu« Morgan presst gerade ihre Hand gegen die Seite des Busses, als die Welt um sie herum zu beben beginnt. Ihre von einer Sonnenbrille bedeckten Augen suchen die Gegend ab und sehen, wie die anderen US-Marshals sich ebenfalls an den vier Bussen abstützen, auf deren Seitenflächen »Federal Bureau of Prisons« steht. Die Erde bebt gute zwei Minuten lang, bevor sie sich langsam wieder beruhigt.

»Hal! Alles Okay bei dir?«, ruft Lu einem kleinen Muskelpaket von Mann auf der anderen Seite der Tankstelle zu.

»Ich bin okay!«, antwortet US-Marshal Hal Stacks. »Und du?«

»Nur etwas wackelig auf den Beinen«, antwortet Lu. »Talley?«

»Alles prima«, antwortet US-Marshal James Talley vom Bus hinter dem von Hal. Talley, groß, schlaksig und mit tiefschwarzer Haut, rückt sich die Sonnenbrille zurecht, nimmt dann den Benzinschlauch aus dem Tank und hängt ihn wieder an die Pumpe zurück. »Ich bin abfahrbereit.«

»Super«, meint Lu. »Stevie?«

»Alles Eins A, Lu«, antwortet US-Marshal Steven LeDeaux vom Bus direkt hinter dem von Lu. Mit seinen dürren Beinen, über denen ein riesiger Bierbauch hängt, sieht Stevie aus, als würde er dank seines ungleichgewichtigen Körpers jeden Moment vornüberfallen. So manch ein flüchtender Sträfling hatte schon den Fehler begangen, die Geschwindigkeit dieser dürren Beine gewaltig zu unterschätzen.

»Weißt du überhaupt, was das bedeutet, Stevie?«, erkundigt sich Lu lachend.

»Keinen blassen Schimmer«, antwortet Stevie grinsend. »Ist bloß etwas, das meine Tante Jessie immer gesagt hat.«

Lu dreht sich um und sieht zu dem Bus, der vor ihrem steht. »Tony? Alles klar?«

»Alles Okay, Boss«, antwortet US-Marshal Anthony Whipple. Tony ist der Jüngste unter den Marshals und sieht mit seinen blonden Haaren, den blauen Augen und der glatten Haut eher wie ein erfolgreicher Quarterback aus. Er schiebt seine Sonnenbrille hinunter und zwinkert Lu zu.

Sie schiebt ihre Sonnenbrille ebenfalls runter und starrt zurück, während der Winterwind um die Tankstelle peitscht und die Asche und den Schnee durcheinanderwirbelt, der mittlerweile ganz Salt Lake City bedeckt. Tony zwinkert erneut, schiebt seine Brille wieder hoch, zieht dann den Benzinschlauch vom Bus und hängt ihn wieder an die Pumpe zurück. Lu hört daraufhin ein lautes Klicken und macht dasselbe mit ihrem Schlauch, bevor sie ihre Jacke enger um sich zieht und zu dem kleinen Geschäft der Tankstelle geht.

»Wo befinden sich die Toiletten?«, fragt Lu.

Der Kassierer zeigt nach hinten, wobei er wütend auf die Straße vor seiner Tankstelle starrt. Dutzende von Autos stehen an der Straße, wo National Guard Soldaten mit M-16s in der Hand vor dem Eingang der Tankstelle patrouillieren und den Zugang zu dem wertvollen Benzin blockieren.

»Sind Sie da draußen mal langsam fertig?«, fragt der Kassierer wütend. »Ich muss die ganzen Leute auch noch tanken lassen, damit ich hier bald wegkann.«

»Wir haben für fast tausend Dollar getankt«, meint Lu daraufhin. »Das sollte Sie doch eigentlich entschädigen.«

»Es geht mir nicht ums Geld, Lady«, murrt der Kassierer. »Es geht ums Leben.«

Lu verdreht die Augen, geht zur Damentoilette und knipst dort das schwache Licht an. Dann verriegelt sie die Tür und macht ihre Jeans auf, nimmt vorsichtig ihre Pistole aus dem Halfter und legt diese auf das kleine Waschbecken neben der Toilette. Dann erledigt sie ihr Geschäft und geht anschließend zum Händewaschen vor den Spiegel.

Groß und rothaarig wie ihre Mutter und eine natürliche Schönheit, hätte sie, genau wie ihre Mutter ein Model sein können – nur ist ihre offensichtlich schon einmal gebrochene Nase schief zusammengewachsen, und Lu hat sich die Karriereleiter zu ihrem Posten in der Denver-Abteilung der US-Marshals hochkämpfen müssen. Niemand nimmt in ihrem Berufsfeld eine Frau mit ihrem Aussehen ernst. Sofort wird dann nämlich angenommen, dass sie eine Lesbe mit Lippenstift ist, die nur angeheuert worden ist, um der Frauenquote gerecht zu werden. Umso mehr weiß sie es zu schätzen, dass sie sich ihre Crew selbst hatte aussuchen dürfen, als sie den Auftrag erhalten hatte, fünfzig der gefährlichsten Bundesgefangenen vom Hochsicherheitstrakt in Florence, Colorado, quer durch den Westen nach Seattle zu transportieren.

 

Das Wissen, das die anderen Marshals sie respektieren und ihr vertrauen, hilft ihr angesichts der Tatsache, dass die auf die fünf Busse verteilten fünfzig Männer keinerlei Problem damit hätten, ihr sofort den Kopf abzuschlagen und in ihren Halsstumpf zu scheißen.

Sie bindet sich ihren Pferdeschwanz neu und holt dann einmal tief Luft. Nun ist sie bereit, wieder hinauszugehen und sich auf den Weg nach Coeur d'Alene zu machen.

»Wo ich gerade daran denke«, sagt sie lachend, denn in dem Moment, als sie die Damentoilette verlässt, klingelt ihr Handy. Sie nimmt es von ihrem Gürtel und ihr Herz schlägt ihr sofort bis hoch in die Kehle, als sie die Nummer sieht. »Mom? Mom, was ist passiert? Ist etwas mit Kyle? Ist er verletzt? Wieso rufst du mich auf dieser Nummer an?«

»Immer mit der Ruhe, Sweetheart«, antwortet Terri. »Kyle geht's gut. Wir hatten zwar gerade ein Erdbeben, das uns etwas nervös gemacht hat, aber wir sind beide okay.«

»Ihr habt das auch gespürt?«, fragt Lu alarmiert. »Verdammt, wenn das von Yellowstone kommt, sitzen wir mächtig in der Scheiße.«

Lu hört, wie ihre Mutter wegen der Schimpfwörter einmal tief durchatmet, aber sie wird nicht zurechtgewiesen – es ist nichts, über das sie jetzt noch streiten.

»Pass auf, Lu, der Plan hat sich etwas geändert«, sagt Terrie nun. »Kyle und ich fahren mit dem Bronco, bis wir euch treffen. Wir sind jetzt im Auto auf dem Weg zu Bonner`s Ferry und fahren dann gleich durch Champion.«

»Ihr fahrt?«, fragt Lu irritiert, während sie dem Kassierer zunickt und nach draußen in die kalte Winterluft tritt. »Ist denn einer der Busse kaputt? Oder sind die zu schnell voll gewesen?«

»Nein, an den Bussen liegt es nicht«, erklärt Terrie. »Da läuft alles pünktlich und glatt nach Plan.«

»Okay, woran liegt's dann, Mom?«, fragt Lu aufgeregt. »Du machst mir langsam Angst.«

Lu hebt eine Hand und wirbelt mit den Fingern durch die Luft. Hal sieht es, dreht sich um und pfeift laut. Alle Gefängniswärter, die die Busse zur Verstärkung begleiten, laufen jetzt mit den US-Marshals zu ihren Fahrzeugen.

»Ich will dir auf keinen Fall Angst einjagen, okay«, sagt Terrie. »Versprich mir, dass du keine Angst bekommst!«

Lu kann Kyles Stimme im Hintergrund hören, aber Terrie sagt ihm, dass er still sein und fahren soll.

»Verdammt noch mal, Mom! Jetzt spuck's endlich aus!«, ruft Lu entnervt.

Talley sieht sie an und runzelt die Stirn, aber Lu schüttelt nur den Kopf und zeigt auf seinen Bus. Er springt mit zwei Gefängniswärtern hinein, und die Bustüren schließen und verriegeln sich daraufhin hinter ihnen. Lu wartet darauf, dass ihre zwei Wärter ebenfalls in den Bus steigen, und folgt ihnen sofort hinein. Drinnen sitzt der Fahrer sicher in seinem Stahlkäfig, hinten noch zwei Wärter ebenfalls in einem Stahlkäfig am Ende des Busses, und zehn Insassen sind in der Mitte des Fahrzeugs mit Handschellen an ihre Sitze gefesselt. Lu setzt sich neben die zwei Wärter, die mit ihr den Bus bestiegen haben, und starrt durch den Stahldraht hindurch, der keine dreißig Zentimeter vor ihrem Gesicht hängt.

Alle Augen sind nun auf sie gerichtet und sie muss sich anstrengen, nicht unwillkürlich zu erschaudern.

»Er hat Champion gefunden«, sagt Terrie mit ruhiger und kühler Stimme. »Uns hat er zwar nicht aufgespürt, aber er ist definitiv hier.«

Lu verliert ihren Kampf gegen das Erschaudern und beginnt zu zittern. Einer der Insassen fängt ihren Blick auf und lächelt. Sie schiebt ihre Sonnenbrille hinunter, starrt ihn wütend an und zeigt ihm den Mittelfinger. Sein Lächeln wird daraufhin nur noch breiter.

Es hupt laut und der Fahrer sieht über seine Schulter zu Lu.

»Sind wir abfahrbereit, Marshal?«, fragt der Fahrer daraufhin.

»Ja«, antwortet Lu. »Wir sind bereit. Fahren Sie los.« Sie wendet ihre Aufmerksamkeit wieder dem Telefonanruf zu. »Pass auf, Mom, ich werde dich zurückrufen müssen. In spätestens fünfzehn Minuten sollte es klappen. Ich muss nur sichergehen, dass wir zurück auf die I-15 kommen und zu euch unterwegs sind.«

»Ich verstehe, Sweetheart«, antwortet Terrie. »Ich kenne das ja. Mach du nur deinen Job und sei dir sicher, dass ich meinen mache. Ich werde den Mann niemals an unseren Jungen heranlassen, hörst du?«

»Ich höre«, erwidert Lu. »Danke, Mom.«

»Mir brauchst du nicht zu danken, dass ich diese Familie beschütze«, antwortet Terrie. »Das ist die Pflicht jeder Mutter, und genau dafür hat Gott mich auf diese Erde gesetzt.«

»Ich ruf dich in fünfzehn Minuten zurück«, sagt Lu und drückt das Gespräch weg.

Es kostet sie ihre ganze Kraft, die Tränen und einen Schrei zu unterdrücken. Sie kann es sich einfach nicht leisten, vor den Gefangenen Schwäche zu zeigen. Männer wie diese können Schwäche förmlich riechen, und selbst mit Handschellen würden sie noch einen Weg finden, diese Schwäche zu ihrem Vorteil auszunutzen.

Der Buskonvoi fährt jetzt auf die Straße und stoppt nur kurz, sodass die National Guard Soldaten ihn passieren lassen können, und ist dann auf dem Weg zur I-15 Auffahrt, und weiter nach Norden zur I-90 und Coeur d'Alene unterwegs.

Er hat sie gefunden, denkt Lu. Wie in aller gottverdammten Scheißwelt konnte er …? Scheiße …

Sie sieht auf ihr Handy und wird sich plötzlich bewusst, dass das einzige Mal, das sie je die Sicherheitsvorkehrungen gebrochen hatten, der Grund dafür sein musste. Lu hofft nur, dass die in Wochen, Tagen oder auch nur Minuten bevorstehende Eruption des Supervulkans den Mann auf seiner Jagd behindern wird.

Sie hofft es, aber sie macht sich nichts vor, denn dafür kennt sie den Mann leider zu gut.

***

Linder steigt gerade aus dem letzten Bus, als der Bronco die Straße heruntergefahren kommt. Er dreht sich um, wirft einen Blick auf das Auto und schaut dann den Fahrer kurz an: Ein Teenager, dessen riesiger Hund auf dem Beifahrersitz thront. In Montana vermutlich keine Seltenheit. Er wünscht dem Jungen gerade insgeheim Glück, es aus dieser Aschewüste herauszuschaffen, als er Sheriff Stieglitz dabei ertappt, den Bronco ganz genau zu beobachten.

Anschließend dreht sie sich um und sieht ihm intensiv ins Gesicht.

Linder zwingt sich, zu seinem Auto zurückzugehen, und keinen Blick mehr über seine Schulter auf den Bronco zu werfen. Wäre dies ein Pokerspiel, dann hätte Sheriff Stieglitz schon verloren, da sie ihren Bluff ganz offensichtlich verraten hat.

»Danke für Ihre Hilfe, Sheriff«, sagt Linder nun, während er die Asche vom Seitenfenster auf der Fahrerseite wischt, die Tür öffnet und einsteigt.

»Keine Ursache, Agent Linder«, erwidert Stephie. »Hoffentlich schaffen Sie's noch ohne Probleme nach Sacramento zurück.«

Für den Bruchteil einer Sekunde hält Linder inne, dann nickt er, lässt den Motor an und fährt los. Er lenkt den Wagen in die Richtung, aus der er gekommen ist, was dieselbe Richtung ist, in die auch der Bronco unterwegs ist, winkt Sheriff Stieglitz zu und fährt davon.

Sein erster Gedanke ist es, woher Sheriff Stieglitz wohl wusste, dass er für das Sacramento Office arbeitet, obwohl er es ihr nicht gesagt hatte. Er zieht sein Handy aus der Tasche und sieht, dass er inzwischen über dreißig Nachrichten hat, von denen die meisten in der letzten halben Stunde hinterlassen worden sind.

»Das Miststück hat mir hinterhergeschnüffelt«, sagt Linder lachend zu sich selbst. »Was sie sich wohl einbildet, damit zu erreichen? Mir eine Abmahnung einzubrocken? Dass ich gefeuert werde? Für so was ist es schon viel zu spät.«

Er macht die Stereoanlage an und beginnt, Hank Williams' Cold, Cold Heart mitzusingen.

***

»Er verfolgt euch«, sagt Stephie in der Sekunde, in der Terrie das Gespräch annimmt.