Jagd Auf Null

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Kapitel sechs

Reid fuhr Richtung Süden auf der Bundesstraße und versuchte verzweifelt, nicht zu rasen, aber dennoch zügig voranzukommen, während er sich auf die Raststätte zubewegte, an der Thompsons Wagen zurückgelassen wurde. Trotz seiner Ungeduld, einen Hinweis, eine Spur zu finden, begann Optimismus sich in ihm auszubreiten, jetzt, wo er endlich auf der Straße war. Seine Trauer war immer noch da, sie lag ihm so schwer im Magen, als hätte er eine Kegelkugel verschluckt, doch nun war sie in einer Hülle von Entschlossenheit und Hartnäckigkeit verkapselt.

Er spürte jetzt schon, wie das bekannte Gefühl seiner Kent Steele Rolle die Zügel übernahm, während er den Highway in dem schwarzen Trans Am hinunterjagte, den Kofferraum voller Waffen und Geräte, die ihm zur Verfügung standen. Es gab eine Zeit und einen Ort, um Reid Lawson zu sein, doch dies war nicht der richtige Moment. Kent war ebenfalls ihr Vater, ob die Mädchen das wussten oder nicht. Kent war Kates Gatte. Und Kent war ein Mann, der handelte. Der wartete nicht darauf, dass die Polizei einen Hinweis fand, oder dass ein anderer Agent seinen Job übernahm.

Er würde sie finden. Er musste nur herausfinden, wohin sie fuhren.

Die Bundesstraße durch Virginia war vorwiegend gerade, zwei Spuren, auf beiden Seiten mit dichten Bäumen bepflanzt und absolut monoton. Reids Frust wuchs mit jeder Minute, die verstrich, in der er nicht schnell genug an sein Ziel kam.

Warum Richtung Süden? Dachte er. Wohin würde Rais sie bringen?

Was täte ich, wenn ich er wäre? Wohin würde ich fahren?

“Das ist es”, sagte er laut zu sich selbst, als eine Erkenntnis ihn wie ein Schlag auf den Kopf traf. Rais wollte gefunden werden – aber nicht von der Polizei, dem FBI oder einem anderen CIA Agenten. Er wollte einzig und allein von Kent Steele gefunden werden.

Ich darf nicht darüber nachdenken, was er täte. Ich muss darüber nachdenken, was ich täte. Was würde ich tun?

Die Agentur würde annehmen, dass Rais die Mädchen weiter in den Süden brächte, weil der Wagen südlich von Alexandria gefunden wurde. “Was bedeutet, dass ich…”

Seine Gedanken wurden von dem lautstarken Klingeln des Prepaid-Handys in der mittleren Konsole unterbrochen.

“Fahr Richtung Norden”, sage Watson sofort.

“Was hast du rausgefunden?”

“Dass es nichts an der Raststätte zu finden gibt. Dreh zuerst um. Dann reden wir weiter.”

Das musste man Reid nicht zwei Mal sagen. Er legte das Handy zurück in die Konsole, schaltete auf den dritten Gang zurück und schwang das Lenkrad nach links. Sonntags, um die Uhrzeit, waren nicht viele Autos auf dem Highway. Der Trans Am überkreuzte die leere Spur und rutschte seitwärts auf den grasigen Mittelstreifen. Die Reifen quietschten nicht gegen den Asphalt oder verloren ihren Halt, als der Boden unter ihnen weich wurde – Mitch musste wohl Hochleistungsradialreifen eingebaut haben. Der Trans Am schlingerte über den Mittelstreifen, das Vorderteil drehte sich nur ein wenig, als er eine Staubwolke hinter sich aufwühlte.

Reid steuerte das Auto geradeaus, während er den kargen, dünnen Streifen zwischen dem Highway überquerte. Als das Gefährt wieder Asphalt unter die Reifen bekam, kuppelte er, schaltete hoch und trat aufs Gas. Der Trans Am raste auf der entgegengesetzten Spur vorwärts wie ein Lichtblitz.

Reid kämpfte mit dem plötzlichen Rausch, der in seiner Brust aufkam. Sein Gehirn reagierte stark auf alles, was Adrenalin erzeugte. Es sehnte sich nach der Aufregung, der flüchtigen Möglichkeit, die Kontrolle zu verlieren und dem aufschreckenden Genuss, sie wieder zurückzuerlangen.

“Ich bin auf dem Weg nach Norden”, bestätigte Reid, als er das Handy wieder hochnahm. “Was hast du rausgefunden?”

“Einer meiner Techniker überwacht die Ätherwellen der Polizei. Mach dir keine Sorgen, ich vertraue ihm. Ein blauer Limousinenwagen wurde heute morgen auf einem Zweitwagengelände als verlassen gemeldet. In ihm fand man eine Handtasche, mit Papieren und Karten, die zu der Frau passen, die an der Raststätte umgebracht wurde.”

Reid runzelte die Stirn. Rais hatte das Auto gestohlen und sich ihm dann schnell entledigt. “Wo?”

“Darum geht’s ja. Etwa zwei Stunden nördlich von deinem jetzigen Standort, in Maryland.”

Er schnaufte sich vor Frust. “Zwei Stunden? Ich kann doch nicht so viel Zeit verplempern. Der hat schon einen Riesenvorsprung.”

“Ich arbeite dran”, sagte Watson rätselhaft. “Noch was. Der Händler sagte, dass ein Auto von seinem Gelände fehlt —ein weißer Kombi, acht Jahre alt. Wir können ihn mit nichts verfolgen, wir müssen abwarten, bis man ihn sichtet. Satellitenbilder wären da wie eine Nadel im Heuhaufen…”

“Nein”, meinte Reid. “Mach dir nicht die Mühe. Der Kombi ist wahrscheinlich nur eine weitere Sackgasse. Der spielt mit uns. Ändert die Richtung, versucht, uns davon abzuhalten, herauszufinden, wo er wirklich mit ihnen hin will.”

“Woher weißt du das?”

“Weil ich das tun würde.” Er dachte einen Moment nach. Rais war ihnen schon einen Schritt voraus. Sie müssten Vorsprung bei seinem Spiel gewinnen, oder zumindest mit ihm gleichziehen. “Lass deinen Techniker alle in den letzten zwölf Stunden zwischen hier und New York gestohlenen Fahrzeuge überprüfen.”

“Da wirfst du ein ganz schön weites Netz aus”, bemerkte Watson.

Er hatte recht. Reid wusste, dass in den USA etwa alle fünfundvierzig Sekunden ein Auto gestohlen wurde, was sich zu hunderttausenden jedes Jahr summierte. “OK, du kannst die zehn häufigsten gestohlenen Modelle davon ausnehmen”, erwiderte er. So lästig es ihm auch war, es zuzugeben, aber Rais war clever. Er wusste vermutlich, welche Autos er besser vermeiden und welche er anvisieren sollte. “Nimm alle teuren und prunkigen Wagen von der Liste, alle, die zu grelle Farben oder kennzeichnende Merkmalen haben, alle, die von der Polizei leicht zu finden sind. Und natürlich alle, die neu genug sind, um mit GPS ausgestattet sein zu können. Konzentrier dich auf Orte, an denen vermutlich nicht viele Leute sind —leere Gelände, geschlossene Geschäfte, Industrieparks, sowas.”

“Verstanden”, antwortete Watson. “Ich rufe dich zurück, wenn ich die Info habe.”

“Danke.” Er legte das Telephon zurück in die mittlere Konsole. Er konnte keine zwei Stunden damit vergeuden, den Highway abzufahren. Er brauchte schneller etwas, oder einen besseren Hinweis darauf, wo seine Mädchen sich aufhalten könnten. Er fragte sich, ob Rais wieder die Richtung gewechselt hatte, vielleicht nördlich gefahren war, nur um anschließend in Richtung Westen, Land einwärts zu fahren, oder vielleicht sogar wieder die Route südlich aufgenommen hatte.

Er warf einen Blick hinüber, auf die Fahrspuren Richtung Süden. Ich frage mich, ob sie vielleicht grade an mir vorbeifahren, direkt neben mir. Ich würde es nicht mal bemerken.

Plötzlich wurden seine Gedanken durch ein schrilles, doch bekanntes, Geräusch übertönt – das stetige Schwellen und Fallen einer Polizeisirene. Reid fluchte leise, als er in den Rückspiegel blickte und bemerkte, wie ein Polizeiwagen mit blinkendem Blaulicht sich ihm an die Fersen geheftet hatte.

Das hat mir jetzt grade noch gefehlt. Der Polizist hatte ihn wahrscheinlich dabei beobachtet, wie er den Mittelstreifen überquerte. Er schaute noch mal. Der Wagen war ein Caprice. 5,7 Liter Motor. Höchstgeschwindigkeit zweihundertdreißig Stundenkilometer. Ich zweifle, dass der Trans Am da mithält. Trotz allem hatte er nicht vor, anzuhalten und wertvolle Zeit zu vergeuden.

Stattdessen trat er wieder aufs Gas und beschleunigte von den vorherigen hundertdreißig zu runden hundertsechzig Stundenkilometern. Der Polizeiwagen hielt dem Tempo stand und beschleunigte mühelos. Trotzdem behielt Reid beide Hände ruhig am Steuer, die Vertrautheit und Spannung einer Hochgeschwindigkeitsjagd im Auto kehrte zu ihm zurück.

Nur, dass er dieses Mal derjenige war, der gejagt wurde.

Das Telefon klingelte erneut. “Du hattest recht”, gab Watson zu. “Ich habe einen… warte mal, höre ich da etwa eine Sirene?”

“Richtig gehört”, brummelte Reid. “Kannst du da was tun?”

“Ich? Nicht bei einem inoffiziellen Einsatz.”

“Ich kann ihn nicht abschütteln…”

“Abschütteln nicht, aber austricksen”, antwortete Watson. “Ruf mal Mitch an.”

“Mitch anrufen?” wiederholte Reid verdutzt. “Und was genau soll ich dem sagen…? Hallo?”

Watson hatte schon wieder aufgelegt. Reid fluchte leise und überholte einen Minitransporter. Mit einer Hand schwang er zurück auf die linke Spur, während er mit dem Daumen der anderen das Flip-Telefon traktierte. Watson hatte erwähnt, dass er die Nummer des Mechanikers in das Gerät einprogrammiert hatte.

Er fand eine Nummer, die nur mit dem Buchstaben “M” markiert war und rief sie an, während die Sirene hinter ihm weiter heulte.

Jemand antwortete, aber sprach nicht.

“Mitch?” fragte er.

Der Mechaniker grummelte seine Antwort.

Hinter ihm ging der Polizist auf die rechte Spur und beschleunigte in einem Versuch, neben ihn zu kommen. Reid ruckte schnell am Steuer, der Trans Am schlüpfte einwandfrei in die Spur und blockierte somit den Polizeiwagen. Hinter den geschlossenen Fenstern und dem tosenden Motor konnte er leise das Echo einer Lautsprechanlage hören, durch die der Polizist ihn aufforderte, anzuhalten.

“Mitch, ich, äh…” Was soll ich dem bloß sagen? “Ich fahre hier ungefähr hundertachtzig auf der I-95 und werde von einem Bullen verfolgt.” Er blickte in den Rückspiegel und stöhnte, als er sah, wie ein zweiter Polizeiwagen, von einer Radarfalle aus, auf den Highway fuhr. “Nee, es sind schon zwei.”

“OK”, gab Mitch ruppig zurück. “Warte mal eine Minute.” Er klang müde, als sei eine Hochgeschwindigkeitspolizeijagd nicht aufregender als ein Gang zum Supermarkt.

“Auf was?”

“Ablenkung”, grummelte Mitch.

“Ich bin mir nicht so sicher, dass ich noch eine Minute habe”, protestierte Reid. “Die haben wahrscheinlich schon das Nummernschild.”

 

“Mach dir keine Sorgen darüber. Das ist eine Fälschung. Unregistriert.”

Das wird sie sicher nicht dazu inspirieren, die Jagd aufzugeben, dachte Reid verdrießlich. “Was denn für eine Ablenkung… Hallo? Mitch?” Ärgerlich warf er das Telefon auf den Beifahrersitz.

Mit beiden Hände wieder am Steuer lenkte Reid um einen Transporter herum, zurück auf die Überholspur und trat das Gaspedal bis zum Anschlag nach unten durch. Der Trans Am reagierte eifrig und zog volle Fahrt voraus, während die Tachonadel auf zweihundert sprang. Er flitzte um den viel langsameren Verkehr herum, benutzte dabei beide Spuren und den Haltestreifen, doch die beiden Polizeiwagen hielten mit ihm mit.

Ich kann sie nicht abhängen, aber austricksen. Komm schon Kent. Gib mir was. Das war ihm während des letzten Monats schon mehrmals geschehen. Seitdem der Gedächtnishemmer entfernt wurde, kam eine besondere Fähigkeit aus seinem früheren Leben als CIA-Agent plötzlich zurück, gerade dann, wenn er sie brauchte. Er wusste nicht, dass er arabisch sprach, bis er mit Terroristen konfrontiert war, die ihn folterten, um Informationen aus ihm herauszukriegen. Er wusste nicht, dass er drei Mörder im Handgefecht abwehren konnte, bis er um sein Leben kämpfen musste.

Das ist es. Ich muss mich nur in eine verzweifelte Lage bringen.

Reid griff die Handbremse hinter der Gangschaltung und zerrte sie nach oben. Plötzlich hörte man ein fürchterliches Kreischen aus dem Inneren des Trans Am und es roch, als ob etwas brennte. Gleichzeitig rissen seine Hände das Steuer nach rechts und der Trans Am schlingerte leicht. Sein Ende überkreuzte wieder den Mittelstreifen, als ob er versuchen würde, in die entgegengesetzte Richtung zu fahren.

Die beiden Polizeiwagen taten es ihm gleich, traten auf ihre Bremsen und versuchten, eine enge Wende zu vollbringen. Doch als sie auf die Bremsen traten und in Richtung Süden drehten, vollendete Reid seine Drehung um dreihundertsechzig Grad. Er ließ die Handbremse los, legte den Gang ein und drückte wieder aufs Gas. Der Sportwagen raste erneut voran und ließ die verwirrten Gesetzeshüter wortwörtlich im Staub zurück.

Reid stieß einen Jubelschrei aus, während sein Herz lautstark in seiner Brust klopfte. Seine Freude war jedoch nur von kurzer Dauer. Er hatte seinen Fuß fest auf dem Gaspedal und versuchte, seine Geschwindigkeit beizubehalten. Der Trans Am jedoch verlor an Kraft. Die Tachonadel sank auf hundertfünfzig, dann hundertvierzig und fiel weiter. Er war im fünften Gang, doch sein Handbremsenmanöver musste wohl einen Zylinder zerfetzt oder vielleicht Dreck in den Motor geschleudert haben.

Das ohrenbetäubende Heulen der Sirenen machte die schlechten Nachrichten noch schlimmer. Die beiden Polizeiwagen waren hinter ihm und holten schnell auf, jetzt stieß auch noch ein dritter hinzu. Der Verkehr auf dem Highway bewegte sich zur Seite, um Platz zu machen, während Reid von einer Spur zur andern wechseln musste. Er versuchte verzweifelt, seine Geschwindigkeit zu halten, doch es nützte nichts.

Er stöhnte. So wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, die Patrouille abzuhängen. Sie waren schon auf sechzig Meter herangekommen und holten immer schneller auf. Die Wagen bildeten ein Dreieck, jeder auf einer Spur, und der Dritte fuhr in der Mitte hinter ihnen.

Die werden das PIT Manöver ausprobieren – sie wollen mein Auto umzingeln und mich zur Seite drängen.

Komm schon Mitch, wo ist meine Ablenkung? Er hatte keine Ahnung, was der Mechaniker geplant hatte, doch er konnte wirklich Hilfe brauchen, als die Polizeiwagen sich immer weiter an das versagende Sportauto annäherten.

Einen Moment später bekam er seine Antwort, als etwas Riesiges in seinen Blickfeld sprang.

Von der südwärts gerichteten Seite des Highways sprang ein Sattellaster mit mindestens hundertzehn Stundenkilometern über den Mittelstreifen. Seine enormen Reifen hüpften gewaltsam über die Furchen des Grases. Als er wieder auf Asphalt stieß – dieses Mal als Geisterfahrer – taumelte er gefährlich, wobei der silberne Tank, den er zog, seitwärts umfiel und ihn niederdrückte.

Kapitel sieben

Für einen Augenblick verfloss die Zeit langsamer, als Reid und das gesamte Auto sich im Schatten einer achtzehn-Räder-Maschine befanden, die fast vom Boden abhob.

Während dieses seltsam stillen Momentes konnte er ganz deutlich die großen, blauen Buchstaben lesen, die auf die Seite des Tanks schabloniert waren —“TRINKBAR” stand darauf – währender der Laster herunterkrachte, bereit, ihn, den Trans Am und alle Hoffnung, seine Mädchen zu finden, zu zerquetschen.

Sein Großhirn, das Zerebrum, schien sich im Schatten des riesigen Lasters abgeschaltet zu haben, doch seine Gliedmaßen bewegten sich, als hätten sie einen eigenen Willen. Sein Instinkt übernahm die Kontrolle, als seine rechte Hand wieder die Handbremse ergriff und daran zog. Seine linke Hand drehte das Steuer im Uhrzeigersinn und sein Fuß drückte das Gaspedal bis in die Gummifußmatte. Der Trans Am drehte sich seitlich und sprintete heraus, parallel zum Laster, zurück ins Sonnenlicht und aus seinem finsteren Schatten.

Reid spürte den Aufprall des Lasters gegen die Straße mehr, als er ihn hörte. Der silberne Tanker schlug auf das Pflaster zwischen den Trans Am und die Polizeiwagen und ließ ihnen weniger als dreißig Meter Bremsraum. Die Bremsen quietschten und die Wagen rutschten seitwärts, als der gewaltige Tank an den genieteten Nähten aufbrach und seine Last entleerte.

Vierunddreißigtausend Liter sauberes Wasser schossen heraus und flossen über die Polizeiwagen, schoben sie zurück wie eine aggressive Flutwelle.

Reid wartete nicht ab, um dieses Spektakel zu beobachten. Der Trans Am erreichte gerade noch hundertzwanzig Stundenkilometer mit dem Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten, also fuhr er besser geradeaus weiter den Highway hoch, so gut wie möglich. Die durchtränkten Polizisten würden sicherlich das verdächtige Auto mit den gefälschten Nummernschildern melden. Wenn er nicht bald von der Straße verschwände, gäbe es noch mehr Probleme.

Dann klingelte das alte Handy, auf dem Bildschirm erschien nur der Buchstabe M.

“Danke, Mitch”, antwortete Reid.

Der Mechaniker grummelte, es schien seine hauptsächliche Kommunikationsmethode.

“Du wusstest, wo ich war. Du weißt, wo ich jetzt bin.” Reid schüttelte den Kopf. “Du ortest das Auto, nicht wahr?”

“Johns Idee”, gab Mitch kurz zurück. “Er dachte, dass du in Probleme geraten würdest. Er hatte recht.” Reid begann zu widersprechen, doch Mitch unterbrach ihn. “Fahr die nächste Abfahrt hinunter. Bieg am River Drive rechts ab. Da ist ein Park mit einem Baseballplatz. Warte dort.”

“Auf was?”

“Transport.” Mitch legte auf. Reid schnaubte frustriert. Bei der Sache mit dem Trans Am ging es darum, geheim zu bleiben, erst gar nicht ins Netz der Agentur zu geraten – und nicht, die CIA mit jemand anderem auszutauschen, der ihn orten könnte.

Aber ohne die Ortung wärst du jetzt schon gefangen worden.

Er schluckte seine Wut herunter und folgte den Anweisungen. Er lenkte das Auto einen weiteren Kilometer später vom Highway herunter und auf den Park zu. Er hoffte, dass was auch immer Mitch für ihn bereit hielt, schnell war. Er musste rasch eine lange Strecke zurücklegen.

Im Park waren nur wenige Leute für einen Sonntag. Auf dem Baseballfeld spielten ein paar Kinder ein Aufsammelspiel, weshalb Reid den Trans Am auf dem Kieselparkplatz außerhalb des Maschendrahtzaunes hinter der ersten Basis parkte und wartete. Er wusste nicht, was er suchte, doch er wusste, dass er schnell weiterkommen musste. Darum öffnete er den Kofferraum, zog seinen Seesack heraus und wartete neben dem Auto auf das, was Mitch geplant hatte.

Er hatte die Vermutung, dass der raubärtige Mechaniker mehr als nur ein CIA-Helfer war. Er war ein “Experte in Fahrzeugbeschaffung”, hatte ihm Watson erklärt. Reid fragte sich, ob Mitch eine Ressource war, jemand wie Bixby, der exzentrische CIA-Ingenieur, der sich auf Waffen und mobile Ausrüstung spezialisiert hatte. Falls das der Fall sein sollte, wieso half er dann Reid? Mitchs ruppiges Aussehen und grummelndes Auftreten löste keine Erinnerung in Reids Kopf aus, wenn er an ihn dachte. Gab es da eine vergessene Geschichte?

Das Telefon klingelte in seiner Tasche. Es war Watson.

“Alles OK?” fragte der Agent.

“So OK wie möglich, wenn man die Umstände bedenkt. Mitchs Vorstellung von einer,Ablenkung’ ist allerdings vielleicht ein wenig übertrieben ehrgeizig.”

“Er macht nur seine Arbeit. Wie auch immer, deine Vermutung hat gestimmt. Mein Informant hat einen Report über einen zwölf Jahre alten Caddy gefunden, der heute morgen aus einem Industriepark in New Jersey gestohlen wurde. Er nahm eine Satellitenaufnahme von dem Ort. Rate mal, was er gesehen hat?”

“Den vermissten weißen Kombi”, riskierte Reid.

“Genau”, bestätigte Watson. “Der stand da auf dem Parkplatz eines Schrotthaufens namens Starlight Motel.”

New Jersey? Seine Hoffnung fiel. Rais hatte seine Mädchen noch weiter nördlich gebracht —seine zweistündige Fahrt hatte sich gerade um mindestens weitere neunzig Minuten verlängert, falls es überhaupt noch eine Hoffnung gab, sie einzuholen. Er könnte sie nach New York bringen. Ein großes Ballungszentrum, wo man leicht untertauchen kann. Reid musste sich ihm ein ganzes Stück annähern, bevor dies geschah.

“Die Agentur weiß noch nicht, was wir wissen”, fuhr Watson fort. “Sie haben keinen Grund, den gestohlenen Caddy mit deinen Mädchen in Verbindung zu bringen. Cartwright hat bestätigt, dass sie nur den Hinweisen folgen, die sie haben und Strickland in Richtung Norden nach Maryland schicken. Doch es ist nur eine Frage der Zeit. Fahr zuerst hin, damit du einen Vorsprung vor ihm hast.”

Reid überlegte einen Moment. Er vertraute Riker nicht, das war glasklar. Er war sich sogar nicht mal besonders sicher, was seinen eigenen Boss, den Deputy Direktor Cartwright betraf. Doch… “Watson, was weißt du über diesen Agenten Strickland?”

“Ich habe ihn nur ein oder zwei Mal getroffen. Er ist jung, gibt sich ein bisschen zu viel Mühe, zu gefallen, doch scheint ganz ordentlich. Vielleicht sogar vertrauenswürdig. Warum, worüber denkst du nach?”

“Ich überlege…” Reid konnte selbst nicht glauben, was er gleich vorschlagen würde, doch es ging um seine Töchter. Ihre Sicherheit war das Wichtigste, egal, was die wahrgenommenen Kosten wären. “Ich denke drüber nach, dass wir vielleicht nicht die einzigen mit diesen Informationen sein sollten. Wir brauchen alle Hilfe, die wir bekommen können. Ich vertraue zwar nicht drauf, dass Riker das Richtige tut, doch vielleicht tut es ja Strickland. Könntest du ihm die Info anonym zukommen lassen?”

“Ich glaube schon. Ich müsste sie durch eine meiner Ressourcen-Verbindungen einfiltrieren, doch das ist durchaus machbar.”

“Gut. Ich will, dass er unsere Info bekommt – doch erst nachdem ich da war, um es selbst zu sehen. Ich will nicht, dass er einen Vorsprung vor mir hat. Ich will nur, dass jemand weiß, was wir wissen.” Genauer gesagt wollte er, dass jemand, der nicht Cartwright war, wusste, was sie wussten. Denn sollte ich scheitern, dann brauche ich jemanden, der es schafft.

“Wie du wünscht.” Watson war einen Augenblick lang still. “Kent, es gibt da noch was. Strickland hat etwas an der Raststätte gefunden…”

“Was? Was hat er gefunden?”

“Haare”, erklärte Watson ihm. “Braunes Haar, an dem immer noch das Follikel hing. An der Wurzel ausgerissen.”

Reids Kehle trocknete aus. Er glaubte nicht, dass Rais die Mädchen umbringen wollte – er konnte es sich nicht erlauben, das zu glauben. Der Attentäter bräuchte sie lebendig, wenn er wollte, dass Kent Steele sie fände.

Doch der Gedanke war nur wenig tröstlich, als unwillkommene Bilder Reids Gedanken invadierten. Es waren Szenen, in denen Rais seine Tochter bei ihrem Haarschopf packte und sie dazu zwang, dorthin zu gehen, wohin er es befahl. Dass er sie verletzte. Und wenn er sie auch nur das kleinste Bisschen verletzte, dann würde Reid es ihm tausendfach zurückzahlen.

“Strickland dachte, es sei nichts besonderes”, fuhr Watson fort, “Doch die Polizei fand noch mehr auf dem Rücksitz des Autos der toten Frau. Als ob jemand sie dort absichtlich hinterlassen hätte. Wie eine…”

“Wie eine Spur”, murmelte Reid. Es war Maya. Er wusste es einfach. Sie war schlau, schlau genug, um etwas zu hinterlassen. Schlau genug, um zu wissen, dass der Tatort sorgfältig untersucht und ihre Haare gefunden würden. Sie war bei lebendigem Leibe – oder zumindest war sie das, als sie dort waren. Er war gleichzeitig stolz, dass seine Tochter so ein kluges Köpfchen hatte und reumütig, dass es überhaupt soweit gekommen war.

 

Oh Gott. Eine neue Erkenntnis machte sich sofort breit: wenn Maya ihr Haar absichtlich im WC der Raststätte hinterlassen hatte, dann war sie auch dort gewesen, als es geschah. Sie hatte dem Monster dabei zugesehen, wie er eine unschuldige Frau ermordet hatte. Und wenn Maya dort war… dann könnte auch Sara dabei gewesen sein. Sie beide waren von den Begebenheiten im Februar auf der Uferpromenade mental und emotional betroffen worden. Er wollte gar nicht an das Trauma denken, das jetzt durch ihre Köpfe ging.

“Watson, ich muss schnell nach New Jersey gelangen.”

“Ich arbeite dran”, gab der Agent zurück. “Bewege dich nicht, es ist gleich da.”

“Was ist gleich da?”

Watson antwortete, doch seine Antwort wurde durch das plötzliche, erschreckende Aufheulen einer Sirene, direkt hinter ihm, übertönt. Er drehte sich um, als ein Polizeiwagen über den Kieselsteinparkplatz auf ihn zu knirschte.

Ich habe jetzt keine Zeit dafür. Er ließ dass Telefon zuschnappen und steckte es sich in die Tasche. Das Fenster auf der Beifahrerseite war heruntergerollt, er konnte sehen, dass zwei Polizisten darin saßen. Das Auto fuhr direkt neben seines und die Tür ging auf.

“Mein Herr, legen sie den Sack zu Boden und ihre Hände auf den Kopf.” Der Polizist war jung, hatte einen Militärschnitt, trug eine Pilotensonnenbrille auf der Nase. Reid bemerkte, dass eine seiner Hände auf dem Halfter seiner Service-Pistole lag, der Knopf geöffnet.

Der Fahrer stieg ebenfalls aus. Er war älter, hatte etwa Reids Alter und einen kahl rasierten Kopf. Er stand hinter seiner offenen Tür und auch seine Hand befand sich in der Nähe seines Gürtels.

Reid zögerte, er war sich nicht sicher, was er tun sollte. Die örtliche Polizei musste wohl den Bericht der Highwaypolizei gehört haben. Es konnte nicht besonders schwer gewesen sein, den Trans Am mit den gefälschten Nummernschildern, der so offensichtlich neben dem Baseballplatz geparkt war, zu finden. Er rügte sich selbst dafür, so kopflos gewesen zu sein.

“Mein Herr, legen sie den Sack zu Boden und ihre Hände auf ihren Kopf!” schrie der junge Polizist lautstark.

Reid hatte nichts, mit dem er ihnen drohen konnte. Seine Waffen waren in dem Beutel und selbst, wenn er eine in der Hand hätte, dann würde er jetzt niemanden erschießen. Diese Polizisten dachten, sie würden einfach nur ihre Arbeit machen, den Flüchtling einer Highwayverfolgung festnehmen, der drei Wagen außer Gefecht gesetzt hatte, welche höchstwahrscheinlich weiterhin die Spuren der I-95 in Richtung Norden blockierten.

“Das ist hier nicht, was ihr denkt.” Während er dies von sich gab, legte er langsam den Seesack auf den Kieselboden. “Ich versuche nur, meine Töchter zu finden.” Er hielt beide Arme hoch, seine Fingerspitzen berührten sich knapp hinter seinen Ohren.

“Drehen Sie sich um”, befahl ihm der junge Polizist. Reid befolgte seinen Befehl. Er hörte das bekannte Klicken von Handschellen, als der Polizist ein Paar offene aus seiner Gürteltasche zog. Er wartete darauf, den kalten Biss von Stahl an seinen Handgelenken zu spüren.

“Sie haben das Recht zu schweigen…”

Sobald er Hautkontakt verspürte, wurde Reid aktiv. Er drehte sich um, griff das rechte Handgelenk des Polizisten mit seinem eigenen und drehte es in einem Winkel nach oben. Der Polizist schrie vor Schreck und Überraschung auf, doch Reid achtete vorsichtig darauf, es nicht so weit zu drehen, dass es brach. Er wollte die Polizisten nicht verletzen, wenn es irgendwie zu vermeiden war.

Mit derselben Bewegung schnappte er die offene Handschelle mit seiner linken Hand und schloss sie um das Handgelenk des Polizisten. Der Fahrer hatte sofort seine Waffe gezückt und brüllte verärgert.

“Zurück! Auf den Boden, jetzt!”

Reid stieß den jungen Polizisten mit beiden Armen nach vorne, der taumelnd in die offene Tür fiel. Sie fiel zu – oder versuchte das zumindest und rempelte dabei den älteren Polizisten nach hinten um. Reid rollte sich ab und kam auf seinen Knien direkt neben dem Mann an. Er zog die Glock aus dem Griff des Polizisten und warf sie über seine Schulter.

Der junge Polizist stand auf und versuchte, seine Pistole vom Halfter zu zerren. Reid ergriff die leere, baumelnde Hälfte der Handschelle, die vom Handgelenk des Polizisten hing und zog daran, was den Mann wiederum das Gleichgewicht kostete. Er fädelte die Handschellen durch das offene Fenster, riss den Polizisten in die Tür und ließ die offene Schelle um das Handgelenk des älteren Beamten zuschnappen.

Während die beiden gegeneinander und mit der Tür des Polizeiwagens kämpften, zog Reid die Pistole des jüngeren Polizisten heraus und zielte auf die beiden. Sie waren sofort still.

“Ich werde euch nicht erschießen”, erklärte er ihnen, während er seinen Seesack wieder aufhob. “Ich möchte nur, dass ihr still seid und euch für eine Minute oder so nicht bewegt.” Er zielte mit der Pistole auf den älteren Polizisten. “Nehmen Sie bitte ihre Hand herunter.”

Die freie Hand des Polizisten fiel von dem Funkgerät, das auf seiner Schulter angebracht war.

“Jetzt legen Sie doch bitte die Waffe weg”, gab der junge Beamte zurück und hielt seine freie Hand in einer beruhigenden Geste hoch. “Eine weitere Einheit ist auf dem Weg. Die werden Sie erschießen, wenn sie Sie sehen. Ich glaube nicht, dass das in Ihrem Interesse liegt.”

Blufft der? Nein, Reid konnte die Sirenen von weit weg hören. Vielleicht eine Minute weit weg. Mit viel Glück auch neunzig Sekunden. Was auch immer Mitch und Watson geplant hatten, es musst jetzt ankommen.

Die Jungs auf dem Baseballplatz hatten ihr Spiel unterbrochen und versteckten sich nun hinter dem nächsten Betonunterstand, von wo aus sie verängstigt die Szene beobachteten, die nur ein paar Meter entfernt von ihnen stattfand. Reid bemerkte aus seinem Augenwinkel, dass einer der Jungs auf einem Handy sprach, wahrscheinlich berichtete er den Vorfall.

Zumindest filmen sie es nicht, dachte er düster und hielt immer noch die Waffe auf die beiden Polizisten gerichtet. Jetzt mach schon, Mitch…

Der jüngere der beiden Beamten runzelte die Stirn in Richtung seines Partners. Sie schauten einander an und blickten dann gen Himmel, während ein neues Geräusch sich mit dem entfernten Heulen der Sirenen verband —ein jaulendes Brummen, wie ein grell heulender Motor.

Was ist das? Sicher kein Auto. Aber nicht laut genug für einen Hubschrauber oder ein Flugzeug…

Reid blickte ebenfalls hoch, doch er wusste nicht, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Er musste sich nicht lange darüber wundern. Von der linken Seite des Baseballplatzes aus kam ein winziges Objekt in sein Blickfeld, es flog schnell durch die Luft, wie eine summende Biene. Seine Form konnte man nicht erkennen, es schien weiß zu sein, doch es war schwer, es direkt anzusehen.

Die Unterseite ist mit einer Reflexionsschicht bemalt, sagte Reids Gehirn ihm. Es hält die Augen davon ab, es anzuvisieren.

Das Objekt verlor an Höhe, gerade so, als würde es aus der Luft fallen. Während es über den Pitcherhügel flog, fiel etwas anderes aus ihm raus – ein Stahlkabel mit einer kurzen Stange am Ende, wie etwa eine einzige Leitersprosse. Ein Abseilkabel.

“Das muss wohl mein Gefährt sein”, murmelte er. Während die Polizisten ungläubig das wortwörtliche UFO anblickten, das da auf sie zuflog, warf Reid die Pistole auf die Kieselsteine. Er stellte sicher, dass er seinen Seesack fest im Griff hatte und als die Leitersprosse auf ihn zu schwang, griff er danach und hielt sich fest.

Er zog seinen Atem ein, weil er sofort in den Himmel gerissen wurde, sechs Meter binnen Sekunden, dann zehn, dann fünfzehn. Die Jungs auf dem Baseballplatz riefen und zeigten auf das fliegende Objekt, während dieses das Kabel schnell einzog und dabei gleichzeitig immer höher flog.

Er blickte hinunter und sah, dass zwei weitere Polizeiwagen mit kreischenden Reifen auf dem Parkplatz eintrafen, die Fahrer ausstiegen und nach oben schauten. Er war schon über fünfzig Meter in der Luft, als er das Cockpit erreichte und sich auf den einzelnen Platz setzte, der dort auf ihn wartete.