Jagd Auf Null

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Kapitel zwei

Reid Lawson eilte die Treppen seines Zuhause in Alexandria, Virginia hinauf. Seine Bewegungen erschienen hölzern, seine Beine fühlten sich immer noch benommen an von dem Schock, der ihm nur Minuten zuvor widerfahren war, doch sein Blick hatte den Ausdruck verbissener Entschlossenheit. Er nahm zwei Stufen auf einmal auf dem Weg zum zweiten Stockwerk, jedoch hatte er Angst vor dem, was er dort oben finden würde – oder besser gesagt, was er dort nicht finden würde.

Unten und draußen wimmelte es vor lauter Tätigkeit. Auf der Straße, vor seinem Haus, standen nicht weniger als vier Polizeiautos, zwei Kranken- und ein Feuerwehrwagen, die bei einer Situation wie dieser zum Protokoll gehörten. Uniformierte Polizisten versiegelten seine Eingangstür mit Sicherheitsklebeband in Form eines X. Die Spurensicherung nahm Proben von Thompsons Blut im Foyer und Haarfollikel von den Kissen seiner Töchter.

Reid konnte sich kaum noch daran erinnern, überhaupt die Behörden gerufen zu haben. Er hatte kaum noch Erinnerung daran, der Polizei eine Aussage gemacht zu haben, ein stammelndes Flickwerk aus fragmentierten Sätzen, das durch seinen kurzen, keuchenden Atem unterbrochen wurde, während sein Gehirn von entsetzlichen Möglichkeiten überflutet wurde.

Er hatte das Wochenende außerhalb mit einem Freund verbracht. Ein Nachbar hatte auf die Mädchen aufgepasst.

Der Nachbar war jetzt tot. Seine Mädchen waren verschwunden.

Reid tätigte einen Anruf, als er im Obergeschoss ankam, außerhalb der Reichweite von neugierigen Mithörern.

“Du hättest uns zuerst anrufen sollen”, begrüßte ihn Cartwright. Der Deputy Direktor Shawn Cartwright war der Leitende der Sonderabteilung und inoffiziell Reids Chef bei der CIA.

Sie hatten schon davon gehört. “Woher wusstest du es?”

“Du bist gekennzeichnet”, sagte Cartwright. “Wir alle sind es. Jedes Mal, wenn unsere Info in einem System auftaucht – Name, Adresse, Steuernummer, egal was – dann wird sie automatisch mit Vorrang zur nationalen Sicherheitsbehörde geschickt. Verdammt, du brauchst nur einen Strafzettel zu bekommen, und die Agentur weiß schon Bescheid, bevor die Polizei dich weiterfahren lässt.”

“Ich muss sie finden.” Jede Sekunde, die auf der Uhr vorbei tickte, klang wie ein donnernder Chor, der ihn daran erinnerte, dass er seine Töchter vielleicht nie wieder sehen würde, wenn er nicht sofort, in diesem Moment, aufbräche. “Ich habe Thompsons Leiche gesehen. Er ist schon seit mindestens vierundzwanzig Stunden tot. Das ist ein wichtiger Hinweis für uns. Ich brauche eine Ausrüstung, und ich muss gehen. Jetzt.”

Als seine Frau, Kate, zwei Jahre zuvor an einem Hirninfarkt verstorben war, fühlte er sich komplett taub. Ein benommenes, unbeteiligtes Gefühl hatte sich seiner bemächtigt. Nichts fühlte sich echt an, als ob er jeden Moment von einem Alptraum erwachen würde, um herauszufinden, dass sich alles nur in seinem Kopf abgespielt hatte.

Er war nicht für sie dagewesen. Er hatte an einer Konferenz über antike europäische Geschichte teilgenommen – nein, das stimmte nicht. Es war nur seine Deckung, während er in Wirklichkeit bei einem CIA-Einsatz in Bangladesch war und einem Hinweis über eine Terrorzelle nachging.

Doch er war damals nicht für Kate dagewesen. Er war auch nicht für seine Mädchen da, als sie entführt wurden.

Doch todsicher würde er jetzt für sie da sein.

“Wir werden dir helfen, Null”, versicherte Cartwright ihm. “Du bist einer von uns, und wir kümmern uns um die unseren. Wir schicken Techniker zu dir nach Hause, damit sie der Polizei bei den Ermittlungen helfen. Sie werden sich als Personal der inneren Sicherheit ausgeben. Unsere Spurensicherer arbeiten schneller, wir sollten eine Spur binnen der nächsten —”

“Ich weiß, wer es war”, unterbrach ihn Reid. “Er war es.” Es gab für Reid keine Zweifel daran, wer dafür verantwortlich war, wer eingebrochen und seine Mädchen entführt hatte. “Rais.” Er brauchte nur den Namen laut nennen, um seinen Zorn erneut auflodern zu lassen. Er begann in seiner Brust und weitete sich auf jedes einzelne seiner Gliedmaße aus. Er ballte seine Hände zu Fäusten, damit sie nicht zitterten. “Der Amun Attentäter, der aus der Schweiz entkam. Er war es.”

Cartwright seufzte. “Null, solange wir keine Beweise haben, können wir das nicht mit Sicherheit behaupten.”

“Ich schon. Ich weiß es. Er hat mir ein Foto von ihnen geschickt.” Er hatte ein Foto erhalten, das von Saras Handy auf Mayas geschickt wurde. Das Foto war von seinen Töchtern, die immer noch Schlafanzüge trugen und zusammengekauert auf dem Rücksitz von Thompsons Wagen saßen.

“Kent”, warnte der stellvertretende Direktor vorsichtig, “du hast dir eine Menge Leute zum Feind gemacht. Das bestätigt nicht —”

“Er war es. Ich weiß, dass er es war. Dieses Photo bestätigt, dass sie noch leben. Er stichelt. Jeder andere hätte einfach…” Er konnte es nicht über die Lippen bringen, doch jeglicher von der Unzahl von Gegnern, die Kent Steele sich über den Lauf seiner Karriere gemacht hatte, hätte die Mädchen aus Rache einfach umgebracht. Rais tat dies, weil er ein Fanatiker war, der glaubte, dass es sein Schicksal war, Kent Steele zu töten. Das bedeutete, dass der Attentäter letztendlich von Reid gefunden werden wollte – und hoffentlich würden dabei auch die Mädchen wieder auftauchen.

Ob sie aber noch am Leben sind, wenn ich sie finde… Er griff sich mit beiden Händen an die Stirn, als ob er so vielleicht einen Gedanken aus seinem Gehirn zerren könnte. Bleib jetzt klar im Kopf. Du darfst so nicht denken.

“Null? “ erkundigte sich Cartwright. “Bist du noch dran?”

Reid atmete tief ein, um sich zu beruhigen. “Ich bin da. Hör mal, wir müssen Thompsons Wagen orten. Es ist ein neueres Modell und hat ein Navigationsgerät. Außerdem hat er auch Mayas Handy. Ich bin mir sicher, dass die Agentur ihre Nummer hat.” Sowohl den Wagen als auch das Telefon könnte man orten. Stimmten die Standorte überein und Rais hatte sich noch keinem der beiden entledigt, so hätten sie schon eine zuverlässige Richtung, in der sie suchen könnten.

“Kent, hör zu…” versuchte Cartwright einzuwenden, doch Reid unterbrach ihn sofort.

“Wir wissen, dass Amun Mitglieder in den Vereinigten Staaten hat”, quasselte er sofort weiter. Zwei Terroristen hatten seinen Mädchen schon zuvor auf der New Jersey Uferpromenade nachgestellt. “Es ist also möglich, dass es innerhalb der US Grenzen einen geheimen Unterschlupf von Amun gibt. Wir sollten H-6 kontaktieren und versuchen, Informationen von den Gefangenen dort herauszufinden.” H-6 war ein geheimes Gefängnis der CIA in Marokko, in dem verhaftete Mitglieder der Terrorgruppe zur Zeit festgehalten wurden.

“Null—”, versuchte Cartwright erneut in die einseitige Unterhaltung einzugreifen.

“Ich packe ein Tasche und verschwinde hier in zwei Minuten”, erklärte Reid ihm, während er in sein Schlafzimmer eilte. Jeder Moment, der verstrich, war ein Moment, der seine Mädchen weiter von ihm entfernte. “Die Transportsicherheitsbehörde sollte alarmiert werden, falls er versucht, sie außer Landes zu bringen. Gebt auch den Häfen und Bahnhöfen Bescheid. Und die Highway Kameras – zu denen haben wir Zugang. Schick mir jemanden zu einem Treffen, sobald wir einen Hinweis haben. Ich brauche ein Auto, ein schnelles. Und ein Handy von der Agentur, einen GPS-Orter, Waffen —”

“Kent!” schrie Cartwright ins Telefon. “Jetzt warte doch mal eine Sekunde, okay?”

“Warten? Es geht hier um meine kleinen Mädchen, Cartwright. Ich brauche Informationen. Ich brauche Hilfe…”

Der Deputy Direktor seufzte tief, und Reid wusste sofort, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.

“Du gehst nicht auf diesen Einsatz, Agent”, befahl ihm Cartwright. “Du bist da zu nah dran.”

Reids Brust bebte, seine Wut brach erneut aus. “Was redest du da?” fragt er leise. “Was für einen Mist redest du da? Ich gehe auf die Suche nach meinen Mädchen —”

“Das tust du nicht.”

“Das sind meine Kinder…”

“Hör dir doch einfach mal selbst zu”, antwortete Cartwright scharf. “Du zeterst. Du bist emotional. Das ist ein Interessenkonflikt. Wir können das nicht zulassen.”

“Du weißt genau, dass ich die beste Person dafür bin”, gab Reid eindringlich zurück. Niemand sonst würde auf die Suche nach seinen Kindern gehen. Das war seine Aufgabe. Er musste es tun.

“Tut mir leid, aber du hast einfach die Angewohnheit, die falsche Art von Aufmerksamkeit auf dich zu lenken”, sagte Cartwright, als sei dies eine Erklärung. “Die Bosse von oben versuchen, eine… wollen wir es eine Wiederholungsvorstellung nennen, zu vermeiden.”

Reid sträubte sich. Er wusste ganz genau, wovon Cartwright sprach, doch er konnte sich nicht wirklich daran erinnern. Vor zwei Jahren starb seine Frau, Kate, und Kent Steele vergrub seine Trauer in Arbeit. Er brach für Wochen alleine auf und unterbrach jegliche Kommunikation mit seinem Team, während er Mitglieder von Amun und Hinweise in ganz Europa verfolgte. Er weigerte sich, nach Hause zurückzukehren, als die CIA es ihm befahl. Er hörte auf niemanden – weder auf Maria Johansson, noch auf seinen besten Freund, Alan Reidigger. Soweit Reid verstand, hinterließ er einen Haufen Leichen in seinem Kielwasser, was die meisten nichts anderes als einen Amoklauf nannten. Dies war sogar der Hauptgrund, dass Aufrührer aus der ganzen Welt den Namen “Agent Null” mit genau so viel Angst wie Verachtung flüsterten.

Als es der CIA letztendlich zu viel wurde, schickten sie jemanden, um ihn stillzulegen. Sie schickten Reidigger nach ihm. Doch Alan brachte Kent Steele nicht um, er fand einen anderen Ausweg. Er verwendete einen experimentellen Gedächtnishemmer, der es ihm ermöglichte, alles über sein Leben in der CIA zu vergessen.

“Ich verstehe schon. Ihr habt Angst davor, was ich tun könnte.”

“Genau”, stimmte Cartwright ihm zu. “Damit triffst du den Nagel auf den Kopf.”

 

“Das solltet ihr auch.”

“Null”, warnte ihn der Deputy Direktor, “tu es nicht. Lass das einfach uns regeln, damit alles schnell, leise und sauber abläuft. Ich sage es dir nicht nochmal.”

Reid legte auf. Er würde seine Mädchen suchen, mit oder ohne die Hilfe der CIA.

Kapitel drei

Nachdem er das Gespräch mit dem Deputy Direktor abgewürgt hatte, stand Reid vor Saras Schlafzimmertür. Er hatte seine Hand am Türknauf. Er wollte nicht eintreten, doch er musste es tun.

Stattdessen lenkte er sich mit den ihm bekannten Details ab und ließ sie noch einmal vor sich abspielen: Reid hatte das Haus durch eine nicht abgeschlossene Tür betreten. Es gab keine Anzeichen von Einbruch, kein Fenster oder Türschloss war beschädigt. Thompson hatte versucht, ihn abzuwehren, es war zu einen Kampf gekommen. Letztendlich war der alte Mann jedoch an Messerstichen in der Brust erlegen. Keine Schüsse waren gefeuert worden, doch die Glock, die Reid in der Nähe der Eingangstür aufbewahrt hatte, war verschwunden. Das gleiche galt für die Smith & Wesson, die Thompson ständig an der Hüfte trug. Das bedeutete, dass Rais jetzt bewaffnet war.

Doch wohin würde er sie bringen? Keiner der Beweise am Tatort, zu dem sein Zuhause geworden war, führte zu einem Ziel.

In Saras Zimmer stand immer noch das Fenster offen und die Feuerleiter war weiterhin von der Fensterbank entrollt. Es schien, als hätten seine Töchter versucht, oder zumindest mit dem Gedanken gespielt, sie herunterzuklettern. Es war ihnen jedoch nicht gelungen.

Reid schloss seine Augen und atmete tief in seine Hände, er unterdrückte die sich androhenden weiteren Tränen, die neuen Angstgefühle. Stattdessen zog er das Aufladegerät ihres Handys, das immer noch neben ihrem Nachttisch angeschlossen war, aus der Steckdose.

Er hatte ihr Telefon auf dem Kellerboden gefunden, doch die Polizei darüber nicht informiert. Genauso wenig hatte er ihnen das Foto gezeigt, das auf das Handy geschickt wurde – das mit der Absicht geschickt wurde, es ihn sehen zu lassen. Er konnte das Handy nicht übergeben, obwohl es ganz klar ein Beweisstück war.

Er würde es vielleicht brauchen.

In seinem eigenen Schlafzimmer schloss Reid Saras Handy an die Steckdose, hinter seinem Bett, an. Er stellte es auf lautlos und aktivierte dann die Weiterleitung von Anrufen und Nachrichten zu seiner Nummer. Zum Schluss versteckte er es zwischen seiner Matratze und dem Lattenrost. Er wollte nicht, dass die Polizei es beschlagnahmte. Es musste aktiv bleiben, falls noch mehr Sticheleien ankämen. Sie würden zu seinen Anhaltspunkten werden.

Rasch stopfte er ein paar Kleidungsstücke in eine Tasche. Er wusste nicht, wie lange er wegbliebe, wie weit er gehen müsste. Bis zum Ende der Welt, falls notwendig.

Er zog seine Sportschuhe aus und wechselte zu Stiefeln. Er verstaute sein Portemonnaie in oder obersten Schublade seiner Kommode. In diesem Möbelstück, tief im Inneren eines Paar Herrenschuhen versteckt, befand sich ein Bündel von Banknoten, das er für einen Notfall zurückgelegt hatte. Es waren fast fünfhundert Dollar. Er nahm alles mit.

Auf der Kommode stand ein gerahmtes Foto seiner Mädchen. Seine Brust spannte sich beim bloßen Blick darauf an.

Maya hatte ihren Arm um Saras Schultern gelegt. Beide Mädchen hatten ein breites Lächeln auf den Lippen. Sie saßen ihm gegenüber in einem Fischrestaurant, während er dieses Foto gemacht hatte. Es stammte von einem Familienurlaub in Florida im letzten Jahr. Er konnte sich gut daran erinnern. Er hatte den Schnappschuss nur ein paar Momente, bevor ihr Essen serviert wurde, gemacht. Maya hatte einen Daiquiri ohne Rum vor sich. Sara einen Vanille-Milchshake.

Sie waren glücklich. Lächelten. Zufrieden. Sicher. Bevor er diese ganze Horrorgeschichte ausgelöst hatte, waren sie sicher. Als dieses Foto gemacht wurde, schien die reine Idee, dass sie von Radikalen verfolgt würden, die ihnen etwas antun wollten, von Mördern entführt, aus einer kranken Fantasiewelt zu stammen.

Das ist alles deine Schuld.

Er drehte den Rahmen um und riss die Rückseite auf. Während er dies tat, versprach er sich selbst etwas. Wenn er sie gefunden hatte – und er würde sie finden – dann wäre er fertig damit. Fertig mit der CIA. Fertig mit den geheimen Einsätzen. Fertig damit, die Welt zu retten.

Zum Teufel mit der Welt. Ich will einfach nur, dass meine Familie sicher ist und in Sicherheit bleibt.

Er würde weggehen, weit weg ziehen, ihre Namen ändern, falls notwendig. Das Einzige, was ihm für den Rest seines Lebens noch etwas bedeutete, wäre ihre Sicherheit, ihr Glück. Ihr Überleben.

Er nahm das Foto aus dem Rahmen, faltete es auf die Hälfte und steckte es in seine innere Jackentasche.

Er bräuchte eine Waffe. Er könnte wahrscheinlich eine in Thompsons Haus finden, direkt nebenan, würde er es schaffen, dort hineinzukommen, ohne dass die Polizei oder das Notfallpersonal ihn sähen —

Jemand räusperte sich lautstark im Flur, offensichtlich ein Warnsignal, das ihm galt, falls er einen Moment Zeit bräuchte, um sich zusammenzureißen.

“Mr. Lawson.” Der Mann trat in die Tür des Schlafzimmers. Er war klein und hatte einen Bauch, doch harte Falten standen in seinem Gesicht. “Mein Name ist Detective Noles von der Alexandria Polizeibehörde. Ich verstehe, dass dies ein besonders schwieriger Moment für sie ist. Ich weiß, dass sie den Kollegen vom Notdienst schon eine Aussage gemacht haben, doch ich habe noch einige weitere Fragen an Sie, die ich gerne in der Akte hätte. Würden Sie mich bitte auf das Revier begleiten?”

“Nein.” Reid griff nach seiner Tasche. “Ich werde jetzt meine Mädchen finden.” Er marschierte am Kriminalbeamten vorbei aus dem Zimmer.

Noles folgte ihm schnell. “Mr. Lawson, wir raten Bürgern stark davon ab, in Fällen wie diesen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Lassen Sie uns unseren Job machen. Am besten wäre es, Sie kämen an einem sicheren Ort unter, bei Freunden oder Familie, aber bleiben Sie bitte in der Nähe…”

Am Ende der Treppe hielt Reid an. “Detective, stehe ich bei der Entführung meiner eigenen Töchter unter Verdacht?” fragte er mit einer leisen, feindlichen Stimme.

Noles starrte geradeaus. Seine Nasenlöcher bliesen sich kurz auf. Reid wusste, dass der Beamte im Training gelernt hatte, diese Art von Situation feinfühlig anzugehen, um die Familien der Opfer nicht noch weiter zu traumatisieren.

Doch Reid war nicht traumatisiert. Er war wütend.

“Wie schon gesagt, ich habe nur ein paar weitere Fragen”, erklärte Noles vorsichtig. “Ich möchte Sie bitten, mich auf das Revier zu begleiten.”

“Ich lehne ihre Fragen ab”, gab Reid mit einem starren Blick zurück. “Ich steige jetzt in mein Auto ein. Wenn Sie mich irgendwo hinbringen wollen, dann müssen Sie das in Handschellen tun.” Er wollte diesen stämmigen Kriminalbeamten einfach nur loswerden. Für einen kurzen Moment dachte er sogar darüber nach, seine CIA-Referenzen zu erwähnen, doch er hatte nichts bei sich, mit dem er sie belegen könnte.

Noles sagte nichts, als Reid auf dem Absatz kehrt machte und das Haus in Richtung Auffahrt verließ.

Er folgte ihm dennoch durch die Tür und über den Rasen. “Mr. Lawson, ich werde Sie nur noch einmal darum bitten. Denken Sie doch einen Moment darüber nach, wie das aussieht, dass Sie ihre Tasche packen und aus dem Haus stürmen, das wir gerade durchsuchen.”

Ein Ruck von glühend heißem Zorn durchfuhr Reid, vom Ende seiner Wirbelsäule bis hoch in seinen Kopf. Fast hätte er seine Tasche zu Boden fallen lassen, um Detective Noles einen ordentlichen Kieferhaken zu verpassen, dafür, dass er auch nur entfernt darauf andeutete, dass er damit etwas zu tun gehabt hätte.

Noles war kein Anfänger; sicher konnte er die Körpersprache lesen, doch er drängte weiter. “Ihre Töchter werden vermisst und Ihr Nachbar ist tot. Das alles geschah, während Sie sich außer Hauses befanden, doch Sie haben kein handfestes Alibi. Sie können uns nicht erklären, wo oder bei wem Sie waren. Jetzt brechen Sie auf, als ob Sie etwas wüssten, von dem wir keine Ahnung haben. Ich habe Fragen, Mr. Lawson. Und ich werde meine Antworten bekommen.”

Mein Alibi. Reids wirkliches Alibi, die Wahrheit, war, dass er die letzten achtundvierzig Stunden damit verbracht hatte, einen verrückt gewordenen religiösen Anführer zu jagen, in dessen Besitz sich eine ausreichend große Ladung mutierter Pockenviren befand, um die Apokalypse auszulösen. Sein Alibi war, dass er gerade nach Hause zurückgekehrt war, nachdem er Millionen von Leben gerettet hatte, vielleicht sogar Milliarden, nur um herauszufinden, dass er die beiden Menschen, die ihm auf der ganzen Welt am wichtigsten waren, nirgendwo aufspüren konnte.

Doch er konnte nichts davon sagen, ganz egal, wie sehr er es wollte. Stattdessen schluckte Reid seinen Zorn hinunter und hielt sowohl seine Fäuste als auch seine Zunge unter Kontrolle. Er hielt neben seinem Auto an und drehte sich um, um den Kriminalbeamten anzusehen. Während er dies tat, bewegte sich die Hand des kleineren Mannes langsam auf seinen Gürtel – und seine Handschellen – zu.

Zwei uniformierte Polizisten, die draußen herumstanden, bemerkten die haarige Situation und traten ein paar vorsichtige Schritte näher, während auch ihre Hände sich in Richtung Gürtel bewegten.

Seitdem der Gedächtnishemmer aus seinem Kopf geschnitten wurde, fühlte sich Reid, als hätte er zwei Gehirne. Die eine Seite, die logische Professor Lawson Seite, riet ihm: Gib nach. Tu, was er von dir verlangt. Sonst stecken sie dich in den Knast, und dann kommst du nie zu deinen Mädchen.

Doch die andere Seite, seine Kent Steele Seite – der Geheimagent, der Abtrünnige, der Adrenalinsüchtige – war viel lauter. Sie schrie und wusste aus Erfahrung, dass jede Sekunde verzweifelt zählte.

Diese Seite gewann. Reid spannte sich an, bereit zu kämpfen.

Kapitel vier

Für einen scheinbar langen Augenblick bewegte sich niemand – weder Reid, noch Noles, noch die beiden Polizisten hinter dem Detective. Reid hielt seine Tasche fest in den Händen. Falls er versuchte, einzusteigen und wegzufahren, kämen die beiden Polizisten zweifellos auf ihn zu. Und er wusste, dass er dementsprechend reagieren würde.

Plötzlich hörte man Reifen quietschen. Alle wendeten ihren Blick auf einen schwarzen Geländewagen, der brüsk am Ende der Auffahrt, in einem neunzig Grad Winkel zu Reids eigenem Fahrzeug, anhielt und ihn somit blockierte. Jemand stieg aus und griff schnell ein, um die Situation zu entschärfen.

Watson? platzte Reid fast heraus.

John Watson war ebenfalls Agent im Außendienst, ein hochgewachsener Afroamerikaner, dessen Gesichtszüge immer passiv wirkten. Seinen rechten Arm trug er in einer dunkelblauen Schlinge, denn ein Irrläufer hatte ihn, nur einen Tag zuvor, in die Schulter getroffen, als er bei dem Einsatz mithalf, in dem es darum ging, die islamischen Radikalisten davon abzuhalten, den Virus freizusetzen.

“Detective.” Watson nickte zu Noles. “Mein Name ist Agent Hopkins, von der Behörde für innere Sicherheit.” Mit seiner gesunden Hand ließ er ein überzeugendes Abzeichen aufblinken. “Dieser Mann muss mit mir kommen.”

Noles runzelte die Stirn. Die Anspannung des vorherigen Moments hatte sich aufgelöst und wurde durch Verwirrung ersetzt. “Was ist jetzt los? Innere Sicherheit?”

Watson nickte ernst. “Wir glauben, dass die Entführung etwas mit einer noch nicht abgeschlossenen Ermittlung zu tun hat. Mr. Lawson muss mich begleiten. Jetzt sofort.”

“Jetzt warten Sie mal einen Moment.” Noles schüttelte den Kopf, immer noch verwirrt von dem plötzlichen Einmarsch und der schnellen Erklärung. “Sie können hier doch nicht einfach hereinplatzen und alles übernehmen —”

“Dieser Mann ist Gegenstand der Behörde”, unterbrach ihn Watson. Er sprach in einem leisen Tonfall, als würde er ein Geheimnis einer Verschwörung mitteilen, doch Reid wusste, dass es sich um einen Vorwand der CIA handelte. “Er ist ein WITSEC.”

Noles’ Augen weiteten sich so sehr, dass man meinen könnte, sie fielen ihm gleich aus dem Kopf. WITSEC, wusste Reid, war eine Abkürzung für das Zeugenschutzprogramm der Justizbehörde der USA. Doch Reid sagte gar nichts, er kreuzte nur seine Arme vor der Brust und schoss dem Polizeibeamten einen scharfen Blick zu.

“Trotzdem…” erwiderte Noles zögernd, “ich brauche hier mehr als nur ein beeindruckendes Abzeichen…” Plötzlich schrillte das Handy des Detectives mit einem lärmenden Klingelton.

“Ich nehme an, das wird die Bestätigung von meiner Behörde sein”, erklärte Watson, während Noles nach seinem Telefon griff. “Beantworten Sie diesen Anruf. Mr. Lawson, hier lang, bitte.”

Watson schritt weg und hinterließ einen verwirrten Detective Noles, der in sein Handy stammelte. Reid schulterte seine Tasche und folgte ihm, doch hielt inne, als sie den Geländewagen erreichten.

 

“Warte”, sagte er, bevor Watson auf der Fahrerseite einsteigen konnte. “Was soll das? Wohin geht es?”

“Darüber können wir sprechen, während wir fahren. Oder wir sprechen jetzt und vergeuden Zeit.”

Der einzige Grund, aus dem Reid sich Watsons Anwesenheit erklären konnte, war, dass die Agentur ihn gesandt hatte, um Agent Null abzuholen, damit sie ihn bewachen konnten.

Er schüttelte mit dem Kopf. “Ich gehe nicht nach Langley.”

“Ich auch nicht”, erwiderte Watson. “Ich bin hier, um dir zu helfen. Steig ein.” Er schlüpfte auf den Fahrersitz.

Reid zögerte für einen kurzen Moment. Er musste losfahren, doch er hatte kein Ziel. Er brauchte einen Hinweis. Und es gab keinen Grund, zu glauben, dass man ihn belog. Watson war einer der ehrlichsten und vorschriftsmäßigsten Agenten, die er jemals kennengelernt hatte.

Reid stieg auf der Beifahrerseite neben ihm ein. Seinen rechten Arm in der Schlinge musste Watson über seinen Körper hinweg greifen, um den Gang zu wechseln und mit einer Hand zu lenken. Sie fuhren binnen Sekunden ab und waren etwa zwanzig Stundenkilometer über der Höchstgeschwindigkeit. So kamen sie zwar schnell von der Stelle, doch vermieden eine Kontrolle.

Er warf einen Blick auf die schwarze Tasche, die auf Reids Schoß lag. “Wo wolltest du denn hin?”

“Ich muss sie finden, John.” Sein Blick verschwamm beim Gedanken an sie da draußen, alleine, in den Händen dieses mörderischen Verrückten.

“Allein? Unbewaffnet, mit einem zivilen Handy?” Agent Watson schüttelte den Kopf. “Du solltest es wirklich besser wissen.”

“Ich habe schon mit Cartwright gesprochen”, antwortete Reid bitter.

Watson schnaufte. “Glaubst du etwa, Cartwright stand alleine im Zimmer, als er mit dir sprach? Glaubst du, dass er eine sichere Leitung in einem Büro in Langley hat?”

Reid runzelte die Stirn. “Ich bin mir nicht sicher, dass ich dich verstehe. Es klingt, als ob du sagen wolltest, dass Cartwright möchte, dass ich genau das tue, was er mir verboten hat.”

Watson schüttelte den Kopf und nahm dabei nicht den Blick von der Straße. “Er weiß doch ganz genau, dass du das tun wirst, was er dir verboten hat, egal, ob er es will oder nicht. Er kennt dich besser als die meisten. Aus seiner Perspektive ist es am besten, weitere Probleme zu vermeiden, indem er dir dieses Mal Unterstützung bereitstellt.”

“Er hat dich geschickt”, murmelte Reid. Watson bestätigte es genauso wenig wie er es bestritt, doch das brauchte er gar nicht zu tun. Cartwright wusste, dass Null seine Mädchen suchen würde. Die Unterhaltung zwischen den beiden fand zu Gunsten anderer Ohren in Langley statt. Da Reid jedoch wusste, wie wichtig Protokoll für Watson war, verstand er nicht, warum er ihm half. “Und du? Warum tust du das hier?”

Watson zuckte nur mit den Achseln. “Da draußen sind zwei Kinder. Die haben Angst, sind allein und in schlechten Händen. Das gefällt mir nicht besonders.”

Das war keine wirkliche Antwort und vielleicht war es nicht mal die Wahrheit, aber Reid wusste, dass er von diesem stoischen Agenten keine weiteren Auskünfte bekäme.

Er war davon überzeugt, dass ein Teil von Cartwrights Einwilligung, ihm zu helfen, etwas mit Schuldbewusstsein zu tun hatte. Während seiner Abwesenheit hatte Reid den Deputy Direktor schon zwei Mal darum gebeten, seine Töchter in einen geheimen Unterschlupf zu bringen. Doch er hatte immer wieder Vorwände, sprach von Personalmangel, fehlenden Ressourcen… Und jetzt waren sie verschwunden.

Cartwright hätte das vermeiden können. Er hätte helfen können. Reid spürte erneut, wie sein Gesicht heiß vor Wut wurde, und erneut schluckte er die Wut hinunter. Das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Jetzt musste er sie suchen. Alles andere war egal.

Ich werde sie finden. Ich werde sie zurückbekommen. Und ich werde Rais töten.

Reid nahm einen tiefen Atemzug. Er atmete durch die Nase ein und stieß die Luft durch den Mund aus. “Also, was wissen wir bis jetzt?”

Watson schüttelte seinen Kopf. “Nicht besonders viel. Wir haben es kurz nach dir herausgefunden, als du die Polizei anriefst. Doch die Agentur arbeitet dran. Wir sollten bald einen Hinweis haben.”

“Wer arbeitet dran? Irgendjemand, den ich kenne?”

“Direktor Mullen hat es der Sondereinsatzabteilung übergeben, also steht Riker an der Spitze…”

Reid zischte erneut laut. Weniger als achtundvierzig Stunden zuvor überkam eine Erinnerung Reid, über sein ehemaliges Leben als Agent Kent Steele. Sie war noch neblig und bruchstückhaft, doch es ging um eine Verschwörung, eine Art von Regierungsvertuschung. Ein ausstehender Krieg. Vor zwei Jahren wusste er davon – oder zumindest einen Teil davon – und arbeitete darauf hin, einen Fall aufzubauen. Egal, wie wenig er wusste, er war sich sicher, dass wenigstens einige Mitglieder der CIA darin verwickelt waren.

Ganz oben auf seiner Liste stand die neu ernannte Deputy Direktorin Ashleigh Riker, Leiterin der Sondereinsatzabteilung. Ungeachtet seines fehlenden Vertrauens in sie, war er sich sicher, dass sie nicht gerade ihr Bestes gäbe, seine Kinder aufzuspüren.

“Sie setzte einen neuen Typen darauf an, jung aber fähig”, fuhr Watson fort. “Sein Name ist Strickland. Er ist ein ehemaliger Ranger der Armee, ein hervorragender Fährtenfinder. Wenn überhaupt jemand herausfinden kann, wer das getan hat, dann er. Abgesehen von dir, natürlich.”

“Ich weiß, wer das getan hat, John.” Reid schüttelte verbittert seinen Kopf. Er dachte sofort an Maria. Sie war ebenfalls Agentin, eine Freundin, vielleicht auch mehr – und definitiv eine der Personen, denen Reid vertrauen konnte. Als er das letzte Mal von ihr gehört hatte, war Maria Johansson auf einem Einsatz, bei dem Rais in Russland aufgespürt wurde. “Ich muss Johansson kontaktieren. Sie muss wissen, was geschehen ist.” Er wusste, dass die CIA sie nicht zurückziehen würde, bis er beweisen konnte, dass es Rais war.

“Das wird dir nicht möglich sein – nicht, solange sie im Einsatz ist”, antwortete Watson. “Aber ich kann versuchen, sie auf andere Weise zu informieren. Sie ruft dich an, sobald sie eine sichere Leitung findet.”

Reid nickte. Er mochte es nicht, dass er Maria nicht kontaktieren konnte, doch er hatte keine Wahl. Persönliche Telefone wurden niemals auf Einsätze mitgenommen, und die CIA würde höchstwahrscheinlich ihre Aktivität überwachen.

“Erklärst du mir jetzt, wo wir hinfahren?” Fragte Reid. Er wurde nervös.

“Zu jemandem, der helfen kann. Hier.” Er warf Reid ein kleines, silbernes Flip-Telefon zu – eines jener Apparate, die von der CIA nicht aufgespürt werden konnten, solange sie nichts davon wussten und die Nummer nicht hatten. “Da sind ein paar Nummern einprogrammiert. Eine davon ist eine sichere Leitung zu mir. Eine andere zu Mitch.”

Reid blinzelte. Er kannte keinen Mitch. “Wer zum Teufel ist Mitch?”

Anstatt zu antworten, lenkte Watson den Geländewagen von der Straße hinunter und in die Einfahrt eine Karosseriewerkstatt namens Third Street Garage. Er fuhr in eine geöffnete Garagenbucht und parkte dort. Sobald er den Motor abgestellt hatte, schloss sie die Garagentür rumpelnd hinter ihnen.

Sie stiegen beide aus dem Auto aus, Reids Augen gewöhnten sich an die relative Dunkelheit. Dann flackerten die Lichter an, grelle, fluoreszierende Birnen, die Punkte in seiner Sicht schwimmen ließen.

Neben dem Geländewagen stand ein schwarzes Auto, ein Trans Am aus den späten achtziger Jahren, in der zweiten Garagenbucht. Er war nicht viel jünger als er, doch die Lackierung schien glänzend und neu.

Außerdem war da auch ein Mann. Er trug einen dunkelblauen Overall, der nur mit Mühe und Not verspritzte Ölflecken verdeckte. Seine Gesichtszüge wurden durch eine verhedderte Menge braunen Barts und eine tief in seine Stirn gezogene, rote Baseballmütze, deren Rand durch angetrockneten Schweiß entfärbt war, verdeckt. Der Mechaniker wischte langsam seine Hände an einem dreckigen, ölbeschmierten Lappen ab, während er Reid anstarrte.