Der Kandidat

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Aus der Reihe: Ein Luke Stone Thriller #5
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KAPITEL NEUN

21:15 Uhr

Ocean City, Maryland

„Wie sehe ich denn aus…“, sagte Luke laut zu sich selbst.

Er stand in einem Aufzug, der mit Teppich ausgekleidet und von Glaswänden umgeben war. Eine lange Doppelreihe an Knöpfen befand sich auf der Metallverkleidung an der Wand. Er blickte sein Spiegelbild in dem gewölbten Sicherheitsspiegel in der oberen Ecke an. Es war verzerrt und merkwürdig, wie in einem Spiegelkabinett, ganz anders als die Reflektion auf der Glaswand. Der normale Spiegel zeigte einen großen Mann Anfang 50, sehr durchtrainiert, mit Krähenfüßen, die sich langsam um seine Augen bildeten und Spuren von Grau, die sich durch seine blonden Haare zogen. Seine Augen sahen uralt aus.

Während er sich betrachtete, konnte er plötzlich eine Vision von sich selbst als alter Mann sehen, einsam und verängstigt. Er war ganz allein auf dieser Welt – einsamer, als er jemals zuvor gewesen war. Er hatte zwei Jahre gebraucht, um das zu erkennen. Seine Frau war tot. Seine Eltern waren schon seit langer Zeit nicht mehr da. Sein Sohn wollte nichts mehr von ihm wissen. Es gab niemanden in seinem Leben.

Vor kurzem, im Auto, kurz bevor er in den Aufzug getreten war, hatte er Gunners alte Telefonnummer herausgesucht. Er war sich sicher, dass er immer noch die gleiche Nummer hatte. Der Junge hätte sie selbst behalten, nachdem er zu seinen Großeltern gezogen und ein neues Handy bekommen hätte. Luke war sich sicher – Gunner hätte sie behalten, weil er wollte, dass sein Vater ihn kontaktieren konnte.

Luke hatte eine kurze Nachricht an die alte Nummer geschickt.

Gunner, ich hab‘ dich lieb.

Dann hatte er gewartet. Und gewartet. Nichts. Die Nachricht war in den Äther geschickt worden und er hatte keine Antwort erhalten. Luke wusste nicht einmal, ob es tatsächlich die richtige Nummer gewesen war.

Wie konnte es nur so weit kommen?

Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Aufzugtüren öffneten sich und er stand im Foyer des Apartments. Es gab keinen Flur. Keine anderen Türen außer der Doppeltür, die sich vor ihm befand, waren zu sehen.

Die Tür öffnete sich und Mark Swann stand vor ihm.

Luke sah ihn an. Groß und dünn, langes, sandfarbenes Haar und eine runde John Lennon Brille. Sein Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er war in den letzten zwei Jahren ganz schön gealtert. Er sah schwerer aus als vorher. Sein Bauch, sein Gesicht und sein Hals sahen dicker aus. Sein T-Shirt trug den Schriftzug SEX PISTOLS in Buchstaben, die aussahen, als hätte jemand einen Erpresserbrief mit ihnen geschrieben. Er trug blaue Jeans und gelb-schwarz karierte Sneakers.

Swann lächelte, aber Luke konnte leicht sehen, dass es ein erzwungenes Lächeln war. Swann war nicht besonders froh, ihn zu sehen. Er sah aus, als hätte er etwas Verdorbenes gegessen.

„Luke Stone“, sagte er. „Komm rein.“

Luke erinnerte sich an die Wohnung. Sie war groß und hypermodern. Sie war zweistöckig und offen, die Decke hing sechs Meter über ihnen. Eine Wendeltreppe führte in den zweiten Stock, wo sich ein Wohnzimmer mit einer großen weißen Couch befand. Beim letzten Mal, als er hier gewesen war, hing ein abstraktes Gemälde hinter dieser Couch – verrückte, wütende rote und schwarze Farbflecken, die auf einer 1,50 Meter großen Leinwand verteilt waren – Luke konnte sich nicht ganz erinnern, wie genau es ausgesehen hatte. Wie dem auch sei, es war jetzt verschwunden.

Die beiden Männer gaben sich die Hand und umarmten sich ein wenig unbeholfen.

„Albert Helu?“, sagte Luke und verwendete Swanns Decknamen, auf den er das Apartment ausgestellt hatte.

Swann zuckte mit den Achseln. „Wenn du magst. Du kannst mich Al nennen. Jeder hier nennt mich so. Möchtest du ein Bier?“

„Gerne. Danke.“

Swann verschwand durch die Tür in die Küche.

Rechts von Luke war Swanns Kommandozentrale. Dort hatte sich nur wenig verändert. Eine Glaspartition trennte sie vom Rest der Wohnung ab. Ein großer schwarzer Ledersessel stand an einem Schreibtisch, unter dem ein Haufen Festplatten zu sehen war. Drei Flachbildschirme standen auf ihm und Kabel wanden sich auf dem Boden wie Schlangen.

An der Wand am anderen Ende, gegenüber vom Sofa, hing ein großer Fernseher, der vielleicht halb so groß wie eine Kinoleinwand war. Er war stummgeschaltet. Auf dem Bildschirm waren etwa ein Dutzend Polizeiwagen zu sehen, die in einer Straße standen und dessen Sirenen wild am blinken waren. 50 Polizisten standen in einer Reihe. Gelbes Polizeiband war an verschiedensten Orten zu sehen. Eine riesige Menschenmenge stand hinter dem Band.

LIVE war als Schriftzug am unteren Rand zu sehen. CHINATOWN, NEW YORK CITY

Swann kam mit zwei Flaschen Bier zurück. Auf einmal wusste Luke instinktiv, warum Swann zugenommen hatte. Er verbrachte viel Zeit damit, Bier zu trinken.

Swann zeigte auf den Fernseher. „Hast du davon gehört?“, fragte er.

Luke schüttelte den Kopf. „Nein. Was ist passiert?“

„Vor vielleicht 45 Minuten haben ein paar Neonazis sowas wie einen Marsch quer durch Chinatown in New York City veranstaltet. Gathering Storm, schon mal von ihnen gehört?“

„Swann, ich habe die letzten zwei Jahre fast ausschließlich in Zelten verbracht.“

„Dann wohl nicht. Naja, sie sind jedenfalls offiziell eine gemeinnützige Einrichtung, die sich dem Erhalt und der Verbreitung kultureller… wie soll ich es sagen? Weißheit gewidmet haben, schätze ich. Amerikanischer Europa-ismus? Du weißt schon. Sie wollen Amerika sicherer für die Weißen machen. Jefferson Monroe ist ihr Hauptunterstützer – sie sind quasi seine moderne Version der Braunhemden. Es gibt wahrscheinlich ein halbes Dutzend Gruppen wie sie, aber ich glaube sie sind die größten.“

„Was ist passiert?“

Swann zuckte mit den Achseln. „Na was schon? Sie haben angefangen, Leute auf der Straße zusammenzuschlagen. Du solltest sie mal sehen. Sie sind ein einziger Schlägertrupp. Große Typen. Sie haben die Leute nur so durch die Gegend geworfen. Ein paar Einwohner haben sich das nicht gefallen lassen. Sie haben auf die Nazis gefeuert. Ein paar von ihnen wurden erschossen, fünf Tote heißt es aktuell. Die Schützen sind noch nicht gefasst. Die Situation entwickelt sich noch, sagen sie.“

„Die Opfer waren alles Nazis?“, fragte Luke.

„Sieht so aus.“

Luke zuckte mit den Achseln. „Naja…“

„Ja. Kein großer Verlust.“

Luke blickte vom Fernseher weg. Er hatte Schwierigkeiten, zu fassen, was gerade vor sich ging. Susan Hopkins glaubte, dass die Wahl gestohlen worden war. Ihr Gegner, der neue Präsident, unterstützte Neonazigruppierungen, die gerade einen Mini-Rassenkrieg in New York City ausgelöst hatten. War es so, wie es in Amerika jetzt aussah? Wann hatte sich alles so verändert? Scheinbar war Luke tatsächlich eine lange Zeit weggewesen.

„Was hast du so in der Zwischenzeit getrieben, Swann?“

Swann saß auf der großen weißen Couch. Er zeigte auf einen Stuhl, der gegenüber von ihm stand. Luke setzte sich. Das hatte gleichzeitig den glorreichen Vorteil, dass er nicht mehr auf den Fernseher blicken musste. Von hier aus konnte er die verdunkelten Glastüren sehen, die auf Swanns Balkon führten. Vom Whirlpool aus strahlte ein blassblaues Neonlicht hinein. Ansonsten war es draußen fast stockdunkel. Vor langer Zeit einmal hatte Luke auf diesem Balkon geschlafen. Er wusste, dass man tagsüber eine herrliche Aussicht auf den Atlantik hatte.

„Nicht viel“, sagte Swann. „Eigentlich nichts, um ehrlich zu sein.“

„Nichts?“

Swann schien einen Augenblick darüber nachzudenken. „Schau dich um. Ich bin dauerhaft krankgeschrieben. Als wir aus Syrien zurückgekommen sind, konnte ich… einfach nicht mehr zur Arbeit. Ich habe es ein paar Mal versucht. Aber im Geheimdienst ist es ganz schön hart. Mir hatte es nie etwas ausgemacht, wenn andere Menschen verletzt wurden. Aber nach Syrien? Ich hatte Panikattacken. Die abgetrennten Köpfe, weißt du? Eine Zeit lang habe ich sie ständig vor mir gesehen. Es war schlimm. Es war zu viel.“

„Das tut mir leid“, sagte Luke.

„Mir auch. Glaub mir. Und es ist noch nicht vorbei. Ich bin jetzt sowas wie ein Einsiedler. Ich habe meine alte Wohnung in D.C. noch, aber ich lebe hauptsächlich hier. Hier ist es sicher. Hier kann niemand rein, wenn ich es nicht zulasse.“

Stone dachte einen Augenblick darüber nach, sagte aber nichts. Swann hatte wohl größtenteils recht. Die meisten Menschen könnten hier nicht eindringen. Ehrliche Kleinverbrecher. Nette Menschen. Aber die Profis? Auftragsmörder? Spezialeinheiten? Die hätten kein Problem, hier einzusteigen.

„Ich gehe kaum raus“, sagte Swann. „Ich bestelle mein Essen im Internet. Ich lasse den Lieferjungen von hier aus rein und schaue per Kamera zu, wie er aus dem Aufzug kommt. Ich lasse ihm Trinkgeld im Flur, er stellt die Lieferung ab und ich schaue zu, wie er wieder runterfährt. Dann gehe ich raus und hole mein Essen. Ich weiß, dass es ein bisschen lächerlich ist.“

Luke sagte nichts. Es war traurig, was aus Swann geworden war, aber er würde es nicht lächerlich nennen. So etwas passierte nun mal. Vielleicht konnte er Swann dabei helfen, zurück in die echte Welt zu kommen, vielleicht auch nicht. Wie dem auch sei, es würde eine Menge Arbeit bedeuten und eine Menge Zeit. Und Swann müsste es selbst wollen. Manchmal verheilten psychologische Traumata wie das, was er durchgemacht hatte, niemals wirklich. Swann war ein Gefangener von ISIS gewesen. Wenn Luke und Ed Newsam nicht gewesen wären, hätte man ihn geköpft. Er war geschlagen worden und man hatte ihm vorgegaukelt, dass seine Hinrichtung bevorstand.

Stille machte sich zwischen ihnen breit, aber es fühlte sich nicht unangenehm an.

„Für eine Zeit lang habe ich dir die Schuld dafür gegeben, was mir passiert ist.“

„Okay“, sagte Luke. Wenn das Swanns Meinung war, wollte er ihm sie nicht absprechen. Aber Swann hatte sich freiwillig für die Mission gemeldet und Luke und Ed hatten ihr Leben riskiert, um ihn zu retten.

 

„Ich weiß, dass es keinen Sinn macht und ich glaube das auch nicht mehr, aber es hat monatelange Therapie gebraucht, bis ich das eingesehen habe. Du und Ed, ihr habt diese merkwürdige Aura. Als wärt ihr Superhelden. Selbst wenn ihr verletzt werdet, wirkt es nicht so, als wenn es euch wehtut. Wenn man euch zu nahesteht, fängt man selbst an zu glauben, dass man unbesiegbar ist. Aber das stimmt nicht. Normale Menschen werden verletzt und sterben manchmal.“

„Gehst du immer noch zur Therapie?“

Swann nickte. „Zwei Mal die Woche. Ich habe jemanden gefunden, der per Videokonferenz mit mir spricht. Er ist in seinem Büro, ich bin hier. Ist ziemlich gut.“

„Was sagt er dir so?“

Swann lächelte. „Er hat gesagt: ‚Was auch immer Sie tun, kaufen Sie keine Waffe.‘ Ich habe ihm gesagt, dass ich im 28. Stock lebe und einen Balkon habe. Ich brauche keine Waffe. Ich kann jederzeit sterben, wenn ich wollte.“

Luke entschied sich, das Thema zu wechseln. Darüber zu reden, auf welche Arten Swann Selbstmord begehen konnte… war nicht besonders angenehm.

„Triffst du dich manchmal mit Ed?“

Swann zuckte mit den Schultern. „Schon länger nicht. Er ist mit seiner Arbeit beschäftigt. Er ist Kommandant eines Geiselrettungsteams. Er ist viel im Ausland. Es gab eine Zeit, in der wir uns öfter getroffen haben. Er ist immer noch der Alte.“

„Wie stehst du zu einem neuen Job?“, fragte Luke.

„Ich weiß nicht“, sagte Swann. „Ich schätze das kommt darauf an, worum es sich handelt. Was ihr braucht, was ich tun müsste. Außerdem will ich das Geld nicht riskieren, das ich vom meiner Arbeitsunfähigkeitsversicherung bekomme. Bezahlt ihr unter der Hand?“

„Ich arbeite für die Präsidentin“, sagte Luke. „Susan Hopkins.“

„Wie niedlich. Wofür braucht sie dich?“

„Sie glaubt, dass die Wahl gestohlen wurde.“

Swann nickte. „Das habe ich auch schon gehört. Die Nachrichten überschlagen sich momentan, aber an der Sache könnte was dran sein. Sie will ihr Amt nicht abtreten. Also, wie passt du in das Bild? Und noch wichtiger, wie würde ich da reinpassen?“

„Naja, sie wird wahrscheinlich jemanden brauchen, der Infos für uns sammelt. Ich schätze, sie will ihrem Gegner irgendwelchen Dreck anhängen. Ich habe noch keine genauen Details.“

„Kann ich von hier aus arbeiten?“, fragte Swann.

„Ich schätze schon. Warum nicht?“

Luke hielt kurz inne. „Aber um ehrlich zu sein, bin ich ein bisschen besorgt. Du bist anders als früher. Das weißt du selbst. Ich würde erst sichergehen wollen, dass du immer noch das Zeug dazu hast.“

Swann schien unbeeindruckt. „Teste mich wie auch immer du es für richtig hältst. Ich bin Tag und Nacht hier, Luke. Was glaubst du, was ich die ganze Zeit mache? Ich hacke. Ich bin nicht eingerostet, ich habe sogar einige neue Tricks auf Lager. Ich bin so gut wie vielleicht noch nie. Und so lange ich nicht raus muss…“

Jetzt hielt Swann einen Moment inne. Er starrte auf das Bier, das er in der Hand hatte. Dann sah er Luke direkt in die Augen. Er sah ernst aus.

„Ich hasse Nazis“, sagte er.

KAPITEL ZEHN

12. November

08:53 Uhr Eastern Daylight Time

Westflügel

Das Weiße Haus, Washington, D.C.

„Es gab die ganze Nacht über gewalttätige Ausschreitungen“, sagte Kat Lopez. „Kurt hat die Details, aber am Schlimmsten war es in Boston, San Francisco und Seattle.“

„Warum erfahre ich erst jetzt davon?“, fragte Susan.

Sie gingen durch die Flure des Westflügels zum Oval Office. Ihre hohen Hacken klackerten auf dem Marmorboden. Susan fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr – erholt von einer langen Nacht. Sie hatte in ihrer privaten Küche gefrühstückt, ohne sich die Nachrichten anzusehen. Sie glaubte, dass sich die Dinge langsam zu ihren Gunsten entwickelten. Zumindest hatte sie das bis vor einer Minute noch geglaubt.

Kat zuckte mit den Schultern. „Ich wollte, dass Sie ein wenig Schlaf bekommen. Mitten in der Nacht hätten Sie sowieso nichts unternehmen können und ich habe damit gerechnet, dass heute ein langer Tag wird. Kurt war derselben Meinung.“

„Okay“, sagte Susan. Sie wusste, dass Kat sich nur Sorgen machte.

Ein Geheimdienstagent öffnete ihnen die Türen, während sie das Oval Office betraten. Kurt Kimball stand bereits da, Hemdärmel hochgekrempelt und bereit für was auch immer kommen mochte. Luke Stone saß in einem der Sessel, fast in der gleichen Position wie gestern Abend.

Stone trug ein schlichtes schwarzes T-Shirt, eine Lederjacke, Jeans und schicke Lederstiefel. Er sah frischer aus, weniger unnahbar, mehr bei der Sache als noch gestern. Seine Augen funkelten. Stone war wie ein Weltraumcowboy, dachte Susan. Manchmal war er einfach mit den Gedanken woanders, irgendwo im Äther verschwunden. Aber jetzt war er zurück.

„Hi, Kurt“, sagte Susan.

Kurt wandte sich ihr zu. „Susan. Guten Morgen.“

„Nette Stiefel, Agent Stone.“

Stone zog seine Jeans ein wenig hoch, um ihr mehr von den Stiefeln zu zeigen. „Ferragamo“, sagte er. „Meine Frau hat sie mir einst geschenkt. Sie sind sowas wie ein Liebhaberstück.“

„Mein Beileid wegen Ihrer Frau.“

Stone nickte. „Danke.“

Sie schwiegen einen Moment. Wenn sie gekonnt hätte, hätte Susan – oder Susans emotionale Hälfte – die nächsten 20 Minuten damit verbracht, Stone wegen seiner Frau auszufragen. Seine Beziehung zu ihr, wie er ihren Tod verarbeitet hatte, was er tat, damit er nicht depressiv wurde. Aber Susan hatte im Moment nicht die Zeit dafür. Ihre praktische Hälfte wusste, dass es Zeit war, den Plan für den heutigen Tag abzuarbeiten.

„Okay, Kurt, was haben Sie für mich?“

Kurt zeigte auf den Fernsehbildschirm. „Die Ereignisse überschlagen sich geradezu. So weit keine Überraschung. Gestern Nacht gab es eine Schießerei in New York Citys Chinatown. Eine große Gruppe Mitglieder von Gathering Storm sind um ungefähr 08:30 Uhr aufgetaucht und haben einen Marsch südlich von Canal Street veranstaltet. Natürlich war es eine Provokation. Innerhalb von Minuten gab es Schlägereien mit Einwohnern.“

„Gathering Storm, wie?“ Gathering Storm war eine der Organisationen, die Monroe unterstützte, von denen Susan ganz schlecht wurde. Sie fragte sich manchmal, was diese Leute dachten, dass sie taten. Natürlich hatten sämtliche Gewaltandrohungen bis jetzt ausschließlich im Internet stattgefunden. Doch jetzt war es real.

Kurt nickte. „Ja. Es scheint, als gäbe es eine Mindestgröße, um ihnen beitreten zu können. Die Schlägereien waren ziemlich einseitig, bis zwei Auftragsmörder der Triaden aus Hong Kong – die scheinbar für einen Auftrag in New York waren – das Feuer mit Uzi-Maschinenpistolen eröffnet haben. Aktuellen Zahlen zufolge gab es 36 Verletzte, einschließlich ein Dutzend Chinesen, die wahrscheinlich aus Versehen getroffen wurden, sowie sieben Tote, allesamt Mitglieder von Gathering Storm. Weitere drei Mitglieder schweben noch in Lebensgefahr.“

Susan war sich nicht sicher, was sie dazu sagen sollte. Gut so? Das war zumindest das Erste, was sie dachte.

„Die Triadenmitglieder?“

„Sind verhaftet aufgrund von mehrfachem Mord, versuchtem Mord und illegalem Waffenbesitz. Sie haben gerichtliche Übersetzer und so weit ich gehört habe, ist bereits ein Anwaltsteam aus Hong Kong unterwegs. Die Triaden haben tiefe Taschen, um es milde auszudrücken, und wir erwarten, dass die Anwälte versuchen werden, die Mordanklage auf Selbstverteidigung abzuschwächen und ein Plädoyer für die Waffen abzugeben.“

„Was denken Sie darüber?“, fragte Susan.

Kurt lächelte und schüttelte den Kopf. „New York hat keine Todesstrafe. Das ist so ziemlich das einzige Glück, was diese Typen momentan haben.“

„Was, wenn ich sie begnadige und sie mit Medaillen nach Hause schicke?“

„Ich glaube, wir haben genug Probleme.“

„Die da wären?“, fragte sie.

„Naja, als die Nachrichten aus New York sich verbreiteten, haben sich die Leute wohl ermutigt gefühlt. Gruppen an jungen Männern sind um ungefähr 10 Uhr in Bostons Chinatown auf die Straße gegangen und haben angefangen, Leute anzugreifen. Es handelte sich scheinbar um junge Männer, die in Bars unterwegs waren, da alle vier Verhaftete betrunken waren.“

„Vier Männer wurden verhaftet? Sie sagten, es seien Gruppen –“

„Ja. Es scheint, als wäre die Bostoner Polizei ein wenig großzügiger gewesen, als uns lieb wäre. Sie haben die meisten Täter mit einer Verwarnung davonkommen lassen.“

„Was noch?“

„Einige Mitglieder der Motorradgang Nazi Lowriders in Oakland ist in San Francisco in Chinatown eingedrungen und hat Leute auf offener Straße mit abgesägten Billard-Queues angegriffen. Mehr als 40 von ihnen wurden verhaftet. Zwei ihrer Opfer sind in kritischem Zustand im Krankenhaus.“

Susan seufzte und schüttelte den Kopf. „Großartig. Sonst noch was?“

„Ja. Wahrscheinlich die aufregendsten Neuigkeiten. Jefferson Monroe will heute Morgen auf einer Versammlung sprechen, vielleicht um die Gewalt letzte Nacht anzusprechen, vielleicht auch wieder, um Sie dazu aufzurufen, das Amt abzutreten. Niemand ist sich sicher, was er genau sagen wird. Aber das Beste ist, wo er seine Versammlung abhalten wird.“

Susan mochte es gar nicht, wenn Kurt nicht direkt mit der Sprache herausrückte.

„Na los, Kurt, raus damit. Wo?“

„Lafayette Park. Direkt auf der anderen Straßenseite.“

KAPITEL ELF

9:21 Uhr Eastern Daylight Time

Lafayette Park, Washington, D.C.

Es war wunderschön mit anzusehen.

Man nannte ihn auch Park des Volkes und heute war das Volk tatsächlich hier versammelt.

Nicht die gewöhnlichen Besucher des Parks. Nicht die zahllosen verwilderten, nutzlosen, radikalen, ungewaschenen Verlierer, die die Politik des Präsidenten protestierten, egal wer an der Macht war.

Nein. Nicht das Volk.

Das hier war sein Volk. Ein sprichwörtliches Meer an Menschen – tausende, zehntausende – die letzte Nacht die Nachricht über soziale Medien verbreitet hatten, dass er heute hier sein würde. Es war eine verdeckte Operation gewesen, ein Messer im Rücken, die Art von Aktion, die Gerry O’Brien besonders gut beherrschte. Er hatte die Erlaubnis der Stadt gestern Nachmittag kurz vor Feierabend bekommen und die Nachricht hatte sich über Nacht wie ein Lauffeuer verbreitet.

Jetzt waren sie alle hier in ihren riesigen Abraham Lincoln-Hüten und mit ihren Schildern – handbemalte Schilder, offizielle Schilder seiner Kampagne, oder professionell angefertigte Banner einer der dutzend Organisationen, die ihn unterstützten. Die meisten Menschen hatten sich in dicke Mäntel gehüllt, um sich vor der frühzeitigen Kälte zu schützen.

Jefferson Monroe blickte von der Bühne auf die Menschenmasse vor ihm – es sah aus wie ein Rock’n’Roll-Festival – und er wusste, dass er für diese Art von Moment wie geschaffen war. Er war 74 Jahre alt und hatte zahlreiche Siegestouren hinter sich: ob in seinen Anfängen als jugendlicher Schläger in Appalachia, oder als wütender junger Streikanzettler, als ambitionierter Firmenchef oder schließlich als wichtiger Aktionär und Vorsitzender der Kohleindustrie.

Später war er Senator West Virginias geworden und ein konservativer politischer Königsmacher, der stark von der Kohleindustrie unterstützt wurde, für die er einst gearbeitet hatte. Und jetzt… gewählter Präsidentschaftskandidat der Vereinigten Staaten. Lebenslange harte Arbeit, lange Jahrzehnte, in denen er die Leiter von ganz unten bis nach oben geklettert war. Und plötzlich, ganz überraschend (ein Ergebnis, dass niemand erwartet hatte, am wenigsten er selbst), war er der mächtigste Mann der Welt.

Hier war er jetzt, um die amtierende Präsidentin dazu anzuhalten, das Weiße Haus verfrüht zu verlassen und das Amt an ihn abzutreten. Etwas Gewagteres hatte kaum jemand bisher versucht. Hinter der Menschenmenge und über den Park hinweg konnte er das Weiße Haus sehen, wie es auf dem grünen Rasen hervorragte. Ob sie ihn wohl sehen konnte? Sah sie ihm zu?

Gott, er hoffte es.

Er wandte sich für einen Moment von der Menge ab. Hinter ihm auf der Bühne war ebenfalls eine kleine Menge versammelt. O’Brien war hier, der Drahtzieher hinter seiner Kampagne, der dunkle Herrscher der Weißen Rassistengruppen, ein Mann, der mindestens so viel Antrieb wie Monroe selbst hatte. Sogar in diesem Moment bellte er noch Anweisungen in sein Handy.

„Denkt an den Vogel“, schien Gerry der Hai zu sagen. Hatte er richtig gehört? Denkt an den Vogel? Was für eine merkwürdige Anweisung. Was meinte er damit?

 

„Sorgt dafür, dass er da ist, klar? Er soll genau so landen, wie wir besprochen haben. Sag mir, dass ihr das schafft. Okay? Gut. Wann?“

Monroe zuckte innerlich mit den Schultern. Mit Gerry zu arbeiten war mehr als eine Achterbahnfahrt – es war geradezu surrealistisch. Er entschied sich, seinen engsten Berater momentan zu ignorieren. Stattdessen wandte er sich an die anderen, die mit ihm auf der Bühne standen.

„Könnt ihr das sehen?“, sagte er, während er das Mikrofon mit seiner Hand abdeckte und auf die Menschenmenge deutete. „Könnt ihr das sehen?“

„Es ist das Schönste, was ich je gesehen habe“, sagte ein junger Assistent.

Hinter ihm fingen die Menschen an zu klatschen – kein Durcheinander, sondern ein rhythmisches Klatschen von tausenden von Händen gleichzeitig – KLATSCH, KLATSCH, KLATSCH, KLATSCH…

Ein Gesang stieg langsam auf. So fing es an, erst das Klatschen, manchmal ein Stampfen mit den Füßen. Und langsam kamen die Stimmen dazu.

„U-S-A! U-S-A! U-S-A!“

Das war ein guter Anfang.

Monroe nahm seine Hand vom Mikrofon und ergriff das Podium. Er hob die andere Hand und der Gesang hörte innerhalb weniger Sekunden auf. Es war, als würde er die Lautstärke eines Fernsehers oder eines Radios herunterdrehen. Aber es war kein Lautstärkeregler, es waren tausende von Menschen, die er kontrollierte, ganz selbstverständlich, mit nur einer Handgeste. Nicht zum ersten Mal bewunderte er selbst, was für eine Macht er hatte. Wie ein Superheld.

Oder ein Gott.

„Wie fühlt sich die globale Erwärmung so an?“, fragte er und seine Stimme hallte über das Parkgelände. Die Menge lachte. Monroe wusste von zahlreichen Klimawissenschaftlern, die seine Kampagne angestellt hatte, dass die globale Erderwärmung ein unwiderlegbarer Fakt war und innerhalb des nächsten Jahrhunderts oder bereits früher eine Bedrohung für die gesamte Menschheit werden würde. Als Präsident würde er nach Möglichkeiten suchen, die diese Bedrohung abschwächen konnten, ohne der Industrie zu sehr zu schaden. Gleichzeitig würden seine eigenen Firmen ihre Investitionen in erneuerbare Energien erhöhen – Solar-, Wind- und Geothermaltechnologien, in denen die Zukunft lag.

Doch seine Anhänger wollten davon nichts wissen. Sei wollten hören, dass die globale Erwärmung nur ein Schwindel war, der zum großen Teil von Chinesen verbreitet wurde. Also war das, was Monroe ihnen sagen würde. Gib den Leuten, was sie wollen. Und es war sowieso kalt heute, unverhältnismäßig kalt für einen frühen Novembertag und das war doch Beweis genug – niemand konnte guten Gewissens behaupten, dass sich hier irgendetwas erwärmte.

„Heute ist unser Tag, wisst ihr das?“

Die Menge jubelte in lauter Zustimmung.

„Wir haben uns aus dem Nichts hochgearbeitet, ihr und ich. Okay? Wir sind aus dem Nichts gekommen. Wir sind nicht in teuren Penthäusern in Manhattan, San Francisco oder Boston aufgewachsen. Wir sind nicht auf besondere Privatschulen für besondere Menschen gegangen. Wir schlürfen keinen teuren Café Latte oder lesen die New York Times. Wir kennen diese Welt nicht. Wir wollen sie gar nicht kennen. Ihr und ich, wir haben unser ganzes Leben lang hart gearbeitet und verdient, was wir jetzt haben und was wir jemals haben werden. Und heute ist unser Tag.“

Ihr Jubeln war wie eine Explosion – ein Erdbeben. Es schien, als würde sich ein riesiges Ungeheuer unter der Erde bewegen, das seit Jahrhunderten geschlummert hatte und nun jeden Moment erwachen und voller Gewalt hervorbrechen würde.

„Heute ist der Tag, an dem wir eine der korruptesten Regierungen der amerikanischen Geschichte stürzen werden. Ja, ich weiß, ich weiß. Sie hat gesagt, sie will nicht gehen, aber ich sage euch etwas. Das wird nicht lange halten. Sie wird gehen und zwar viel schneller, als auch nur irgendwer momentan vermutet. Es wird auf jeden Fall schneller geschehen, als sie es vermutet, so viel ist sicher.“

Der Jubel ging weiter und weiter. Er wartete darauf, dass die Menge sich beruhigte. Monroes Anhänger hassten Susan Hopkins. Sie hassten sie und alles, wofür sie stand. Sie war reich, sie war schön, sie war verwöhnt – ihr hatte es in ihrem gesamten Leben an nichts gefehlt. Sie war eine Frau in einem Amt, das seit jeher ein Mann besetzt hatte.

Sie stand Einwanderern freundlich gesinnt gegenüber, und den Chinesen, deren billige Arbeitspraktiken den amerikanischen Way of Life zerstört hatten. Sie war eine Hedonistin, ein ehemaliges It-Girl und sie schien alle Vorurteile zu bestätigen, die konservative Familien über Prominente hatten. Um Gottes Willen, ihr Ehemann war schwul! Er war ein gebürtiger Franzose. Konnte es auch nur irgendetwas unamerikanischeres geben als einen schwulen Franzosen?

Susan Hopkins war in den Augen dieser Menschen ein Monster. In den Untiefen von Verschwörungsforen im Internet gab es sogar Leute, die behaupteten, dass sie und ihr Mann Mörder waren oder vielleicht sogar Schlimmeres. Sie waren Teufelsanbeter. Sie gehörten einem satanistischen Kult der Ultrareichen an, der kleine Kinder entführte und opferte.

Nun ja, heute würde Monroe auf zumindest auf die Mörder-Theorie eingehen. Er wünschte sich so sehr, dass er in das Oval Office blicken könnte, um ihr Gesicht zu sehen, wenn er die Neuigkeiten ankündigte.

Die Menge hatte sich inzwischen beruhigt. Sie warteten auf ihn.

„Ich möchte, dass ihr mir gut zuhört“, sagte er. „Denn was ich euch jetzt erzähle, mag ein wenig kompliziert sein und es ist nicht leicht mit anzuhören. Aber ich werde es euch verraten, da die Wahrheit ans Licht kommen muss. Ihr, das amerikanische Volk, ihr wahren Patrioten, verdient es, die Wahrheit zu hören. Das ist sehr wichtig. Es geht um unsere Zukunft.“

Jetzt hatte er sie in der Hand. Sie waren so weit. Er war kurz davor, die Bombe zu zünden. Jefferson Monroe machte sich innerlich bereit.

„Fünf Tage vor der Wahl wurde eine Leiche nahe des Tidal Basin, genau hier in Washington, D.C. aufgefunden.“

Die Menge war still. Eine Leiche? Das war neu. Das war nicht gerade ein typisches Thema für eine Jefferson Monroe Wahlveranstaltung. Es schien, als würden ihn tausende Augen gleichzeitig anstarren. Nein, es schien nicht nur so, das war tatsächlich, was gerade passierte. Erzähl uns mehr, schienen diese großen, leeren Augen zu schreien. Erzähl uns alles.

„Zuerst schien es so, als hätte der Mann Selbstmord begangen. Er wurde in den Kopf geschossen, die Waffe wurde nahe der Leiche gefunden und sie war voll mit seinen Fingerabdrücken. Sein Tod schaffte es nicht gerade in die Schlagzeilen – Menschen sterben jeden Tag und viele von ihnen nehmen sich selbst das Leben. Doch ich wusste es einfach. Ich wusste schon da, dass dieser Mann keinen Selbstmord begangen hat.“

Die Augen wichen nicht von ihm ab. Tausende und abertausende Augen.

„Woher ich das wusste?“

Niemand sagte auch nur ein Wort. Jefferson Monroe hatte noch nie eine so große Menschenmenge gesehen, die so still war. Sie spürten, dass etwas Großes auf sie zukam.

„Ich wusste, dass er keinen Selbstmord begangen hat, da ich den Mann persönlich kannte. Ich würde fast sagen, dass er mein Freund war. Sein Name war Patrick Norman.“

Jefferson war es gewohnt, Lügen zu erzählen. Doch trotzdem spürte er, im Gegensatz zu manch anderem Politiker, jedes Mal ein innerliches Zwicken. Es war kein Schuldbewusstsein. Es war eher die Tatsache, dass irgendwo da draußen irgendjemand die Wahrheit kannte, und dass diese Person unermüdlich daran arbeiten würde, dass diese Wahrheit ans Licht kam. Tatsächlich waren mindesten drei Personen direkt hinter ihm, die die Wahrheit kannten. In der Organisation waren insgesamt bestimmt noch ein Dutzend weitere. Sie wussten, dass Jeff Monroe noch nie in seinem Leben mit Patrick Norman gesprochen hatte.

Er erzählte weiter.

„Patrick Norman hatte keine Selbstmordgedanken – bei weitem nicht. Ganz im Gegenteil, er war einer der besten und erfolgreichsten Privatdetektive in den ganzen USA und er hat eine Menge Geld verdient. Ich weiß, was er verdient hat, da ich ihn selbst bezahlt habe. Er arbeitete für meine Kampagne, als er ermordet wurde.

„Wahlkampagnen sind ein dreckiges Geschäft, meine Freunde. Ich habe keine Hemmungen, das zuzugeben. Manchmal tut man Dinge, auf die man nicht stolz ist, um einen Vorteil gegenüber seinen Gegnern zu erhaschen. Und ich hatte Patrick angestellt, damit er den Dreck ausgräbt, den die Hopkins-Regierung und die Geschäfte des Ehemanns der bald ehemaligen Präsidentin, Pierre Michaud, am Stecken haben. Okay? Versteht ihr langsam, worauf ich hinauswill?“