Der Kandidat

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Aus der Reihe: Ein Luke Stone Thriller #5
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KAPITEL DREI

08:03 Uhr Eastern Standard Time

Das Oval Office

Das Weiße Haus, Washington, D.C.

„Dieser Bastard“, sagte jemand im Zimmer. „Er hat sie gestohlen, ganz einfach.“

Susan Hopkins stand in der Mitte des Oval Office und starrte auf den großen Flachbildschirm an der Wand. Sie war wie betäubt, als hätte sie einen Schock erlitten. Auch wenn sie konzentriert zuschaute, hatte sie Schwierigkeiten, klare Gedanken zu fassen. Es war einfach zu viel, um es verarbeiten zu können.

Sie war sich ihrer Kleidung nur zu bewusst. Ein dunkelblauer Anzug und eine weiße Bluse. Sie fühlte sich unwohl. Vor langer Zeit hatte er ihr wie angegossen gepasst – es war ein Maßanzug – aber heute war ihr klar, dass sich ihr Körper verändert hatte. Der Anzug saß nicht mehr. Die Schultern des Jacketts waren zu lose, die Hose zu eng. Ihre BH-Träger schnitten unangenehm in ihren Rücken.

Zu viele Mitternachtssnacks. Zu wenig Schlaf. Zu wenig Sport.

Sie seufzte tief. Ihre Arbeit würde sie noch ins Grab bringen.

Zur gleichen Zeit gestern, kurz nachdem die Wahlbüros geöffnet hatten, war sie eine der ersten Personen in den Vereinigten Staaten gewesen, die ihre Stimme abgegeben hatten. Sie war mit einem breiten Lächeln auf den Lippen aus der Kabine gekommen und hatte ihre Faust gen Himmel gereckt – ein Bild, das zahlreiche TV-Kameras und Fotografen eingefangen hatten. Sie war voller Optimismus auf den Wahltag zugegangen und die Umfragen hatten mehr als 60 Prozent für sie vorhergesagt – ein überwältigender Sieg.

Und jetzt das.

Während sie zuschaute, erklomm ihr Gegner, Jefferson Monroe, das Podium in seinem Hauptquartier in Wheeling, West Virginia. Auch wenn es erst acht Uhr morgens war, war eine Menge Mitarbeiter und Förderer noch da. Überall wo die Kameras hinzeigten, waren große rot-blau-weiße Abraham Lincoln-Hüte zu sehen – sie waren zu so etwas wie einem Markenzeichen für Monroes Kampagne geworden. Sie und die aggressiven Schilder, auf denen der Kriegsschrei seiner Kampagne stand: AMERIKA GEHÖRT UNS!

Uns? Was sollte das überhaupt bedeuten? Im Gegensatz zu wem? Wem sonst sollte es gehören?

Aus dem Zusammenhang schien es klar: Den Minderheiten, nicht-Christen, Homosexuellen… was einem nur einfiel. Außerdem war es klar, an wen es insbesondere gerichtet war – an chinesische Einwanderer und chinesisch-stämmige Amerikaner. Erst vor ein paar Wochen hatte die chinesische Regierung damit gedroht, amerikanische Schulden zurückzufordern und damit einen Staatsbankrott auszulösen. Diese Tatsache hatte es Monroe ermöglicht, die Angst vor den Chinesen in den letzten Tagen vor der Wahl besonders zu schüren. Monroe kam diese Angst zugute. Laut ihm war jeder Einwanderer ein Geheimagent für die imperialistischen Absichten der Regierung in Peking, oder für chinesische Oligarchen, die amerikanische Immobilien und Unternehmen aufkauften. Laut ihm musste man mit eiserner Faust handeln, damit die Chinesen Amerika nicht übernahmen.

Und seine Anhänger glaubten ihm nur zu gern.

Jefferson Monroes Erzfeinde, und damit die Erzfeinde seiner Anhänger, waren die Chinesen. Die Chinesen waren Amerikas große Nemesis und das blauäugige ehemalige Model im Weißen Haus war entweder zu dumm, das zu erkennen, oder sie war selbst von den Chinesen eingekauft worden.

Monroe blickte mit seinen tiefliegenden stahlblauen Augen über die Menge. Er war 74 Jahre alt, hatte weiße Haare und ein Gesicht, das von tiefen Linien gezeichnet war – ein Gesicht, das viel älter schien als es war. Wenn man allein nach dem Gesicht ging, könnte man ihn auf 100 schätzen, oder auf 1000. Aber er war groß und stand aufrecht da. Er schlief nur drei bis vier Stunden pro Nacht und schien auch nicht mehr zu brauchen.

Er trug ein frisch gebügeltes Anzughemd ohne Krawatte, dessen Kragen weit offenstand – eines seiner Markenzeichen. Er war ein Milliardär, oder zumindest fast, aber natürlich war er ein Mann des einfachen Volkes. Ein Mann, der sich aus dem Nichts hochgearbeitet hatte. Er kam aus armen Verhältnissen aus den Bergen von West Virginia. Ein Mann, der, trotz seines neuen Reichtums, sein ganzes Leben lang die Reichen und Schönen verabscheut hatte. Ein Mann, der nichts mehr verabscheute als die Liberalen, insbesondere aus dem Nordosten, insbesondere aus New York. Er würde es sich nicht bieten lassen, für die Jungs aus Washington, D.C. in einen extravaganten Anzug mit Krawatte gesteckt zu werden. Praktischerweise überspielte er die Tatsache, dass er selbst zu Washington, D.C. gehörte. Seit 24 Jahren war er bereits im Senat tätig.

Susan schätzte, dass zumindest ein Kern an Wahrheit in seinem öffentlichen Bild steckte. Er kam tatsächlich aus ärmlichen Verhältnissen in Appalachia – so viel war bekannt. Und er hatte sich von dort aus hochgearbeitet. Aber er war alles andere als ein Mann des Volkes. Um dorthin zu kommen, wo er heute war, hatte er sich schon früh mit zwielichtigen Gestalten angefreundet. Als junger Mann war er ein Schläger für die Pinkerton-Agentur gewesen und hatte Kohlearbeiter mit Schlagstöcken eingeschüchtert. Er hatte seine gesamte frühe Karriere damit verbracht, die Interessen der Kohleindustrie zu vertreten und für weniger Regulierungen gekämpft, weniger Sicherheit am Arbeitsplatz und weniger Arbeiterrechte. Und er war reich für seine Bemühungen belohnt worden.

„Ich habe es euch gesagt“, sagte er ins Mikrofon.

Die Menge explodierte vor lautem Jubel.

Monroe beruhigte sie mit nur einer Handbewegung. „Ich habe euch gesagt, dass wir Amerika zurückerobern werden.“ Der Jubel ging erneut los. „Ihr und ich!“, rief Monroe. „Wir haben es geschafft!“

Die Jubelrufe veränderten sich und verwandelten sich langsam in einen Chor, den Susan nur zu oft gehört hatte. Die Rufe hatten eine seltsame Rhythmik an sich, wie ein Walzer oder eine Art Ruf-und-Antwort Gesang.

„AMERIKA! GEHÖRT UNS! AMERIKA! GEHÖRT UNS! AMERIKA! GEHÖRT UNS!“

Es ging weiter und weiter. Susan wurde ganz schlecht. Aber wenigstens sangen sie nicht mehr „Schmeißt sie raus!“ – das war eine Zeit lang ebenfalls beliebt gewesen. Das erste Mal, als sie das gehört hatte, hatte sie fast geweint. Sie wusste, dass viele von ihnen wahrscheinlich nur mitgerissen wurden. Aber wenigstens ein paar dieser Verrückten wollten sie vermutlich wirklich hängen sehen, weil sie angeblich eine Verräterin war und mit den Chinesen unter einer Decke steckte. Dieser Gedanke machte ihr schwer zu schaffen.

„Genug mit leeren Fabriken!“, rief Monroe. Er streckte eine Faust triumphant gen Himmel. „Genug mit den unkontrollierten Verbrechen in unseren Städten! Genug mit dem menschlichen Abschaum! Genug mit den chinesischen Verrätern!“

„GENUG!“, antwortete die Menge vereint, ein weiterer ihrer Lieblingsschreie. „GENUG! GENUG! GENUG!“

Kurt Kimball, ausgeruht, aufmerksam, groß und stark wie immer, mit seinem glatt rasierten Kopf, stellte sich vor den Bildschirm und schaltete mit der Fernbedienung den Ton aus.

Es war, als wäre ein Zauberspruch von Susan abgefallen. Plötzlich war sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst. Sie war zusammen mit Kurt, seiner Beraterin Amy, Kat Lopez, dem Verteidigungsminister Haley Lawrence und ein paar weiteren Personen hier in der Sitzecke des Oval Office. Die Anwesenden waren Susans engste Vertraute.

Marybeth Horning, Susans Vizepräsidentin, war ebenfalls per Videokonferenz zugeschaltet. Nach dem Vorfall am Mount Weather hatten sie die Sicherheitsprotokolle verändert. Marybeth und Susan sollten zu keiner Zeit am selben Ort sein. Was eine Schande war.

Marybeth war Susans Heldin. Die ultraliberale ehemalige Senatorin aus Rhode Island hatte mehr als zwei Jahrzehnte an der Brown University gelehrt. Sie wirkte schüchtern und zerbrechlich mit ihrem grauhaarigen Bob und der runden Großmütterchen-Brille.

Aber in diesem Fall täuschte das Aussehen. Sie war jemand, der sich eifrig für Arbeiter-, Frauenrechte sowie Rechte für Homosexuelle und die Umwelt einsetzte. Aus ihrer Feder stammte die Gesundheitssysteminitiative, die Susans Regierung ins Leben gerufen hatte. Marybeth war gleichzeitig ein bescheidenes Genie, eine Geschichtsgelehrte, sowie eine würdige politische Gegnerin, die sich zu wehren wusste.

Ein weiterer trauriger Fakt war, dass Marybeth in Susans altem Haus, dem Marineobservatorium, lebte. Das Haus war einer von Susans liebsten Orten auf der ganzen Welt. Es wäre schön, wenn sie ab und zu dort vorbeischauen könnte.

„Das ist ein Problem“, sagte Kurt Kimball, während er auf den stummen Fernseher zeigte.

Susan lachte fast laut auf. „Kurt, ich habe schon immer Ihr Talent für Untertreibungen bewundert.“

Jefferson Monroe hatte ein Wahlversprechen abgegeben – ein Versprechen! – dass er an seinem ersten Amtstag den Kongress um eine Kriegserklärung gegen China ersuchen würde. Tatsächlich, und die meisten nahmen ihn nicht ernst, wenn er das sagte, hatte er impliziert, dass der erste Zug des amerikanischen Militärs ein taktischer Nuklearschlag gegen Chinas künstliche Inseln im Südchinesischen Meer sein würde. Er hatte außerdem versprochen, dass er Sicherheitsmauern um die Chinatowns in New York, Boston, San Francisco und Los Angeles errichten würde. Er hatte behauptet, dass er das gleiche von den Kanadiern in Vancouver und Calgary verlangen würde.

Die Kanadier hatten diese Idee natürlich verworfen.

„Das Land ist verrückt geworden“, sagte Kurt. „Und wir erwarten, dass Monroe Sie erneut dazu auffordern wird, eine Abdankungsrede zu halten, Susan.“

Kat Lopez schüttelte ihren Kopf. Als Susans Stabschefin war Kat in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht gewachsen. Sie war außerdem um ungefähr zehn Jahre gealtert. Als sie ihre Arbeit angetreten war, war sie unverhältnismäßig schön und jugendhaft für ihre 37 Jahre gewesen – jetzt sah man ihr ihre 39 Jahre deutlich an. Falten waren auf ihrem Gesicht aufgetaucht, grau hatte sich unter das schwarz ihrer Haare gemischt.

 

„Damit sollten Sie noch warten, Susan“, sagte sie. „Wir haben Hinweise auf massenweise Wahlunterdrückung in fünf südlichen Staaten. Außerdem gibt es Hinweise auf Manipulierung der Wahlmaschinen in Ohio, Pennsylvania und Michigan. Die Ergebnisse sind noch zu eng, als dass man sie als definitiv betrachten kann – nur weil die Nachrichtensender ihn in vielen Staaten zum Sieger erklärt haben, heißt das nicht, dass wir das auch tun müssen. Wir können dafür sorgen, dass sich diese Sache noch Wochen, wenn nicht Monate, hinzieht.“

„Und damit eine Präsidentschaftskrise auslösen“, sagte Kurt.

„Das können wir durchstehen“, sagte Kat. „Wir haben schon schlimmeres überlebt. Die Amtseinführung ist erst am 20. Januar. Wenn es so lange dauert, dann ist es halt so. Wir haben Zeit. Wenn es tatsächlich Betrug gab, werden unsere Analysten ihn entdecken. Wenn es Wahlunterdrückung gibt, wie wir vermuten, werden wir klagen. In der Zwischenzeit sind wir immer noch die Regierung.“

„Ich stimme Kat zu“, schaltete sich Marybeth per Monitor ein. „Ich sage wir kämpfen bis zum Schluss.“

Susan blickte zu Haley Lawrence. Er war groß und schwer und hatte ungepflegte blonde Haare. Sein Anzug war so voller Falten, als hätte er in ihm geschlafen. Er sah aus, als wäre er erst vor zehn Minuten aus einem Alptraum erwacht. Abgesehen von ihrer ähnlichen Größe war er das genaue Gegenteil von Kurt Kimball.

„Haley, Sie sind der einzige Republikaner in diesem Raum“, sagte Susan. „Monroe gehört zu Ihrer Partei. Ich möchte hören, was Sie denken, bevor ich eine Entscheidung treffe.“

Lawrence nahm sich Zeit, bevor er antwortete. „Ich würde nicht sagen, dass Jefferson Monroe wirklich ein Republikaner ist. Seine Ideen sind viel radikaler als konservativ. Er umgibt sich mit wütenden und nachtragenden Menschen. Er ist eine Gefahr für den Weltfrieden, unsere soziale Ordnung und die Ideale, auf denen unser Land basiert.“

Haley atmete tief ein. „Ich würde es hassen mit ansehen zu müssen, wie er und seine Leute das Oval Office und diese Gebäude besetzen, selbst wenn es sich herausstellt, dass er tatsächlich gewonnen hat. Wenn ich Sie wäre, würde ich mich ihm so lange es geht in den Weg stellen.“

Susan nickte. Das war, was sie hören wollte. Es war Zeit, in den Kampf zu ziehen. „Okay. Ich werde nicht abdanken. Wir gehen nirgendwo hin.“

Kurt Kimball hob seine Hand. „Susan, ich mache bei allem mit, was Sie für richtig halten, so lange Sie sich der Konsequenzen bewusst sind.“

„Die da wären?“

Er begann sie an seiner Hand abzuzählen, in keiner bestimmten Reihenfolge.

„Indem Sie nicht freiwillig abdanken, brechen Sie mit einer zweihundert Jahre alten Tradition. Man wird Sie eine Verräterin nennen, eine Thronräuberin, eine Möchtegern-Diktatorin und vielleicht Schlimmeres. Sie werden das Gesetz brechen und könnten angeklagt werden. Wenn sich herausstellt, dass die Wahl nicht manipuliert wurde, werden Sie eitel und töricht erscheinen. Sie könnten Ihren Eintrag in den Geschichtsbüchern der Zukunft ruinieren – im Moment noch ist Ihr Vermächtnis lupenrein.“

Jetzt hob Susan ihre Hand.

„Kurt, mir sind die Konsequenzen klar“, sagte sie und seufzte ausgiebig.

„Und ich sage, wir machen weiter.“

KAPITEL VIER

11. November

16:15 Uhr Eastern Standard Time

Mount Carmel Friedhof

Reston, Virginia

Eine einzelne frisch geschnittene Rose lag auf dem braunen Gras. Luke starrte den Namen und die Widmung an, die in den schwarzen Marmor geritzt waren.

REBECCA ST. JOHN

Leben, Lachen, Lieben

Der trostlose wolkige Tag ging bereits zu Ende und es wurde langsam Nacht. Ein Zittern fuhr ihm durch den ganzen Körper. Er war von der langen Reise nach Osten erschöpft. Er hatte sich glattrasiert, sein Haar war wieder kurz – keine lange Mähne mehr, die ihn vor der Kälte schützte. Er blickte über den Friedhof, über die vielen Reihen an Grabsteinen, die die Hügel in einem stillen Vorort von Washington, D.C. bedeckten.

Er blickte in den silberfarbenen Himmel. Als sie geheiratet hatten, hatte Becca seinen Namen angenommen. Scheinbar hatte sie unter ihrem Mädchennamen ins Grab gehen wollen. Das tat weh. Damit war ihr Bruch komplett. Er schüttelte fast seine Faust in Richtung Himmel, in Beccas Richtung, wo auch immer sie jetzt sein mochte.

Hasste er sie? Nein. Aber sie machte ihn sehr, sehr wütend. Sie hatte ihm die Schuld für alles gegeben, was in ihrer Ehe falsch gelaufen war, bis hin zu ihrem eigenen Tod am Krebs.

Auf der Zufahrt zum Friedhof am Fuße des Hügels, nur etwa 100 Meter entfernt, fuhr eine schwarze Limousine vor und parkte neben Lukes unscheinbarem Mietwagen. Er schaute zu, während ein Chauffeur in einer schwarzen Jacke und Mütze die Hintertür des Fahrzeugs öffnete.

Zwei Gestalten kamen zum Vorschein. Eine von ihnen war jung und männlich, groß wie sein Vater. Der Junge trug Jeans, Sneakers, ein Anzughemd und eine Windjacke. Die andere Gestalt war alt und weiblich, ging ein wenig gebeugt und trug einen langen schweren Wollmantel, um sich vor der feuchten Herbstluft zu schützen. Luke musste nicht lange überlegen, wer sie waren – er wusste es bereits.

Luke hatte gemogelt. Natürlich hatte er das. Vor fünfzehn Minuten hatte er genau diese Limousine verfolgt. Als er erkannte, wohin sie unterwegs war, hatte er sich dazu entschlossen, sie zu überholen. Die beiden Personen kamen jetzt langsam den Gehweg hinauf, Arm in Arm. Audrey, Beccas 72-jährige Mutter und Gunner, Luke und Beccas 13 Jahre alter Sohn.

Luke blickte für einen Moment zur Seite, während sie sich näherten. Er suchte den Horizont ab, als wäre etwas Interessantes dort zu finden. Als er zurückblickte, waren sie fast da. Er beobachtete, wie sie sich näherten. Audrey bewegte sich langsam und sah vorsichtig auf ihre Füße – sie wirkte älter, als sie war. Gunner passte sich ihr an und stützte sie. Es schien, als würde die langsame Geschwindigkeit ihm zu schaffen machen – als wäre er ein junger Hengst voll mit ungenutzter Energie, der in einem engen Stall gefangen war. All die Frustration, die sich angestaut hatte und die nur darauf wartete, zu explodieren.

Gunner starrte Luke für ein paar Sekunden verwirrt an. Es waren fast zwei Jahre vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten – eine lange Zeit für einen Jungen seines Alters – und für einen Moment schien er nicht zu wissen, wer vor ihm stand. Seine Züge verdunkelten sich, als er erkannte, dass er seinen Vater anblickte. Dann sah er zu Boden.

Audrey erkannte Luke sofort.

„Können wir dir helfen?“, sagte sie, bevor sie überhaupt am Grab standen.

Du nicht“, sagte Luke. Audrey und ihr Mann, Lance, hatten ihn nie als Schwiegersohn akzeptiert. Ihr Einfluss war bereits toxisch gewesen, bevor Becca und er überhaupt ihr Ehegelübde ausgetauscht hatten. Luke hatte Audrey nichts zu sagen.

„Was machst du hier, Dad?“, fragte Gunner. Seine Stimme war tiefer. Luke konnte den Anflug eines Adamsapfels erkennen – das war neu.

„Die Präsidentin hat mich hergerufen. Aber ich wollte euch zuerst sehen.“

„Deine Präsidentin hat verloren“, sagte Audrey. „Sie hat sich wie eine Verrückte im Weißen Haus verschanzt und weigert sich, ihre Niederlage zuzugeben. Ich habe schon immer gewusst, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Jetzt kann es die ganze Welt sehen. Hat sie etwa gehofft, Kaiserin zu werden?“

Luke sah Audrey an. Er nahm sich Zeit und betrachtete sie von oben bis unten. Sie hatte tiefliegende Augen, die so dunkel waren, dass man sie fast für schwarz halten konnte. Sie hatte eine Hakennase, die wie ein Schnabel aussah. Ihre Schultern waren gekrümmt und ihre Hände wirkten unglaublich zerbrechlich. Sie erinnerte ihn an einen Vogel – an eine Krähe, oder vielleicht an einen Geier. Auf jeden Fall an einen Aasfresser.

„Sie hat verloren“, sagte Audrey erneut. „Sie sollte darüber hinwegkommen und sich darauf vorbereiten, die Macht an den Gewinner abzutreten.“

„Gunner?“, sagte Luke und ignorierte Audrey. „Können wir reden?“

„Ich habe Rebecca gesagt, sie soll dich nicht heiraten. Ich habe ihr gesagt, dass es in einer Katastrophe enden würde. Aber ich hätte mir niemals ausgemalt, dass es so schlimm sein würde.“

„Gunner?“, wiederholte Luke, aber sein Sohn sah in nicht an. Luke sah, wie eine Träne an seiner Wange herunterlief. Er schluckte schwer.

„Ich will mich einfach nur entschuldigen.“

Das wirkte nicht richtig. Eine Entschuldigung? Das wäre nicht annähernd genug. Das wusste Luke. Es würde mehr als nur eine Entschuldigung benötigen, damit er alles wiedergutmachen konnte, falls das überhaupt möglich war. Das war es, was er Gunner sagen wollte. Er wollte ihm sagen, dass er alles tun würde, einfach alles, wenn das nur bedeuten würde, dass er wieder ein Teil seines Lebens werden konnte.

Er hatte einen schrecklichen Fehler begangen. Er würde den Rest seines Lebens daran arbeiten, ihn wiedergutzumachen.

Gunner sah ihn an und weinte jetzt. Tränen strömten über sein Gesicht. „Ich will nicht mit dir reden.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich will dich nicht sehen. Ich will dich einfach nur vergessen, verstehst du das nicht?“

Luke nickte. „Okay. Okay, das kann ich respektieren. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich dich liebe und dass ich immer da sein werde. Hast du meine Nummer noch? Du kannst mich anrufen, wenn du deine Meinung änderst.“

„Ich habe deine Nummer nicht mehr“, sagte Gunner. „Und ich werde meine Meinung auch nicht ändern.“

Luke nickte erneut. „Dann lasse ich dich in Ruhe.“

Audrey rief Luke hinterher, während er den Weg entlangging. „Das ist eine gute Idee“, sagte sie.

„Lass den Jungen in Ruhe.“ Dann lachte sie, ein verrücktes Gackern, das fast wie ein Hustenanfall klang, wenn Luke es nicht besser gewusst hätte.

„Lass uns mit unseren Toten in Ruhe.“

Luke stieg in sein Auto, legte den Gang ein und fuhr durch die Friedhofstore, während er selbst anfing zu weinen.

KAPITEL FÜNF

16:57 Uhr Eastern Standard Time

Bubba’s Lounge

Chester, Pennsylvania

Niemand erinnerte sich daran, wer Bubba gewesen war.

Die kleine Bar stand seit dem Zweiten Weltkrieg hier an der Straßenecke am südöstlichen Ende von Chester, nahe des Flusses. Zehn verschiedene Besitzer hatten sich die Klinke in die Hand gegeben und sie hatte schon immer Bubba’s geheißen, so weit man sich erinnerte. Doch niemand wusste genau warum.

„Schätze sie wird aufgeben“, sagte ein Mann an der Bar.

„Wurde auch Zeit“, sagte ein anderer.

Marc Reeves arbeitete heute. Marc war ein Oldtimer, 67 Jahre alt. Er hatte über die letzten 25 Jahre hinweg immer mal wieder an dieser Bar Bier ausgeschenkt und hatte drei verschiedene Geschäftsführer miterlebt. Er war hier gewesen, während diese Stadt langsam den Bach runterging. In einer Stadt, in der fast jedes andere Geschäft früher oder später zugenagelt wurde, war Bubba’s ein Erfolgsgeschäft. Aber trotzdem blieben die Besitzer nie lange.

Der Laden holte seine Ausgaben wieder rein – das war das Problem. Er schrieb weder rote noch schwarze Zahlen. Hier zu arbeiten oder hier zu trinken war besser, als die Bar zu besitzen. Wenigstens bekam man so etwas für seine Mühen.

In der Ecke hinter der Bar stand sich ein großer alter Farbfernseher. Zu dieser Tageszeit befanden sich vier oder fünf Tagtrinker auf den Hockern, die ihre Sozialversicherungschecks und was auch immer von ihren Lebern übrig war verschwendeten. Normalerweise lief der Sportsender. Heute war es jedoch anders. Heute hielt die Präsidentin ihre erste Pressekonferenz, seitdem sie die Wahl verloren hatte.

Marc war skeptisch gewesen, als sie ihr Amt angetreten hatte, insbesondere wenn man die Umstände bedachte, unter denen es geschehen war. Aber er hatte sie liebgewonnen. Insgesamt dachte er, dass sie gute Arbeit geleistet hatte. Sie und das Land als Ganzes hatten einige Schwierigkeiten überstanden. Also hatte er gestern etwas getan, was er nur selten tat – er hatte seine Stimme für sie abgegeben. Es war das erste Mal seit zwölf Jahren, dass er in einem Wahllokal gewesen war.

Nicht jeder war seiner Meinung.

„Ich mag den Neuen“, sagte ein dicker Mann an der Bar. Man nannte ihn Skipper. Aber wahrscheinlich hatte er in seinem Leben noch nie einen Fuß auf ein Schiff gesetzt. „Was hat Susan Hopkins je für Chester, Pennsylvania getan? Das will ich mal wissen. Es ist Zeit, dass jemand diese ganzen Chinesen davon abhält, in unser Land zu kommen.“

„Und unsere Jobs zurückbringt, wenn er schon dabei ist“, sagte ein Mann namens Steve-O. Steve-O war so dürr, dass Marc unwillkürlich an einen Pfeifenreiniger denken musste, wenn er ihn sah. Er kam jeden Tag her und trank Bier und Bourbon. Marc hatte noch nie gesehen, wie Steve-O auch nur einen Bissen fester Nahrung zu sich nahm. Es schien, als würde er sich nur von Alkohol ernähren.

 

Marc trocknete gerade Biergläser ab, die aus dem Geschirrspüler kamen. „Steve-O, du bekommst doch seit zwanzig Jahren Behindertengeld.“

„Ich meinte ja nicht meinen Job“, sagte Steve-O.

Ein paar der Anwesenden lachten.

Auf dem Fernsehbildschirm tauchte jetzt ein leeres Podium auf. Es war umgeben von amerikanischen Flaggen.

„Meine Damen und Herren“, sagte eine leise Stimme, „die Präsidentin der Vereinigten Staaten.“

Susan Hopkins kam von rechts auf die Bühne. Sie trug einen beigefarbenen Hosenanzug und trug ihr Haar in einem kurzen blonden Bob. Wunderschön. Marc erinnerte sich an eine Zeit, in der sie Model gewesen war. Insbesondere an eine gewisse Sports Illustrated Badeanzug-Ausgabe von vor 25 Jahren. Damals war er ein Mann mittleren Alters gewesen, verheiratet und Familienvater. Ihre Bilder waren nahezu herzzerreißend gewesen – sie war himmlisch, unerreichbar, wie von einer anderen Welt. Er konnte nicht in Worte fassen, wie sie auf ihn gewirkt hatte. Und wenn überhaupt, dann sah sie jetzt noch besser aus – bodenständiger, reifer. Marc mochte Frauen, die ein wenig Erfahrung hatten.

„Zieh dich aus, Baby!“, sagte Steve-O, woraufhin erneut einige Anwesende kicherten.

Marc hatte Steve-O heute sechs Shots und sechs Biere in den letzten Stunden serviert. Steve-O war sichtlich angetrunken. Und er fing an, Marc auf die Nerven zu gehen. „Bald gibt’s nichts mehr für dich, Steve-O.“

Steve-O schaute ihn an. „Was?“

„Halt die Schnauze oder geh nach Hause, hab‘ ich gesagt.“

Marc drehte sich zurück zum Fernseher. Hopkins hatte noch nichts gesagt. Es schien, als müsste sie ihre Emotionen unter Kontrolle bringen. Das war es also. Sie würde ihr Amt abtreten. Es hatte so gewirkt, als wäre sie beliebt gewesen, aber letzten Endes hatte sie nur eine Amtszeit regiert – und noch nicht mal eine volle.

„Meine verehrten Mit-Amerikaner“, sagte sie.

Die Bar war still. Auch der Raum, in dem sie ihre Rede hielt, war fast still – Marc konnte lediglich das Surren und Klicken von Kameras hören.

„Ich werde mich kurzfassen. Wir haben eine harte Kampagne hinter uns, in der zwei sehr unterschiedliche Visionen von Amerika miteinander gekämpft haben. Eine dieser Visionen ist voll von Optimismus, Verständnis und Stolz dafür, was wir als Nation geschafft haben. Die andere ist eine Vision voll mit Wut, Verzweiflung, Ressentiment und sogar Paranoia. Sie stellt unsere Nation als ruinierte Landschaft dar, die nur durch einen Mann gerettet werden kann. Und sie verspricht uns Gewalt – Gewalt gegen unseren wichtigsten Handelspartner, sowie Gewalt gegen unsere eigene Gesellschaft, gegen unsere Nachbarn und gegen unsere Freunde.

„Ich bin mir sicher, Sie wissen, für welche Vision ich einstehe. Ich kann keine Weltanschauung akzeptieren, die auf Rassismus, Vorurteilen und Misstrauen basiert. Und doch wäre meine Aufgabe unter normalen Umständen, trotz aller Bedenken, dem augenscheinlichen Gewinner dieser Wahl zu gratulieren und ihn willkommen zu heißen, damit die Macht friedlich in seine Hände übergehen kann, so wie es unsere Demokratie will.“

Sie machte eine Pause. „Doch dies sind keine normalen Umstände.“

Marc richtete sich auf. Er spürte, wie ein Kribbeln seinen Rücken hinunterlief. Er schaute sich um und blickte die Männer an, die an seiner Bar saßen. Jeder einzelne von ihnen klebte geradezu am Bildschirm. Jeder von ihnen war plötzlich aufmerksam geworden, wie Tiere, die spürten, dass sich ein Gewitter nähert. Was wollte sie damit sagen?

„Meine Kampagne hat Beweise dafür gefunden, dass es in mindestens fünf Staaten Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe gab, einschließlich Wahlunterdrückung, aber ebenfalls offene Manipulation und eventuelles Hacken von Wahlmaschinen. Wir haben Grund zur Annahme, dass die Wahl gestohlen wurde, nicht nur von unserer Kampagne, sondern vom amerikanischen Volk. Wir haben das FBI sowie das Justizministerium bereits kontaktiert und erwarten eine vollständige, unabhängige Untersuchung. Bis diese Untersuchung abgeschlossen ist – egal wie lange es dauert – kann und werde ich die Ergebnisse dieser Wahl nicht anerkennen und werde meinen Pflichten als Präsidentin der Vereinigten Staaten und meinem Amtseid nachgehen, unsere Konstitution zu wahren und sie zu schützen. Vielen Dank.“

Präsidentin Hopkins ging zurück nach rechts und verließ die Bühne. Die Stimmen der Reporter überschlugen sich, schrien Fragen in den Raum und versuchten, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Blitzlichter blinkten wie wild. Der Kamerawinkel wechselte und fokussierte sich auf die Präsidentin, während sie durch eine Seitentür hinter einem Meer von riesigen Geheimdienstagenten verschwand. Sie hatte keine einzige Frage beantwortet.

„Was soll das bedeuten?“, fragte Steve-O. „Kann sie das einfach so machen?“

Niemand antwortete ihm.

Marc trocknete weiter seine Biergläser ab. Auf diese Frage wusste er selbst keine Antwort.