Attentäter Null

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Kapitel sieben

Null trat in das George Bush Center für Geheimdienst, das Hauptquartier der CIA, ein. Es lag in der Gemeinde von Langley, Virginia. Er schritt über den weiten Marmorboden, seine Schritte hallten, als er über das große runde Emblem ging. Es war ein Schild und ein Adler in grau und weiß, umrandet von den Worten “Central Intelligence Agency, United States of America”. Er schritt direkt auf die Aufzüge zu.

Es war kaum jemand da, nur die notwendigsten Sicherheitsbeamten und ein paar Verwaltungsassistenten, welche sich mit Büroarbeiten plagten. Er war immer noch ziemlich sauer darüber, dass man ihn hierher gerufen hatte, dass er an einem Feiertag von seinen Mädchen getrennt wurde. Er hoffte, dass die Einweisung kurz wäre.

Doch er wollte nicht darauf wetten.

“Halt die Tür auf”, rief eine bekannte Stimme, als Null auf den Knopf für das Untergeschoss drückte, wo das Treffen stattfand. Er hielt eine Hand aus, damit die Türen sich nicht schlossen und einen Moment später joggte Agent Todd Strickland neben ihn. “Danke, Null.”

“Die haben dich auch gerufen, was?”

“Ja.” Strickland schüttelte seinen Kopf. “Gerade, als ich im Veteranenkrankenhaus ankam.”

“Du verbringst Thanksgiving mit Veteranen?”

Strickland nickte einmal kurz, was Null als Anzeichen dafür verstand, dass er es nicht weiter besprechen wollte. Todd Strickland war Ende zwanzig, hatte einen dicken Nacken und war gut bemuskelt, bevorzugte immer noch den militärischen Haarschnitt, den er während seiner Zeit in der Armee hatte. Er hatte glänzende Augen, jungenhafte Gesichtszüge und seine glattrasierten Wangen gaben ihm eine jugendliche und zugängliche Erscheinung, doch Null wusste, dass sich hinter der Fassade eine Menge Kraft verbarg. Er war einer der besten, den die Rangers je gesehen hatten. Todd hatte fast vier Jahre seines jungen Lebens damit verbracht, Aufständische in den Wüsten des Nahen Ostens aufzuspüren. Dabei schlief er im Sand, kletterte durch Höhlen und führte Razzien in Lagern durch. Er war durch und durch ein Kämpfer und dennoch hatte er es geschafft, eine Anteilnahme zu bewahren, die genauso stark wie sein Pflichtbewusstsein war.

“Hast du eine Ahnung, worum es geht?” fragte Null, als die Fahrstuhltüren aufgingen.

“Wenn ich drauf wetten müsste, würde ich sagen, dass es sich womöglich um das Attentat in Havanna von letzter Nach dreht.”

“Es gab ein Attentat in Havanna letzte Nacht?”

Strickland kicherte ein wenig. “Du schaust echt keine Nachrichten, oder?” Er schritt einen leeren Gang entlang. Es schien, dass fast alle von Langley den Feiertag zu Hause mit ihren Familien verbrachten – außer ihnen natürlich.

“Ich war ein bisschen beschäftigt”, gab Null zu.

“Ach ja, wie geht’s den Mädchen denn?” Strickland kannte Maya und Sara. Als die Leben der beiden von einem psychopathischen Attentäter bedroht wurden, schwor der junge Agent, dass er auf sie aufpassen würde, egal ob Null da war oder nicht. Bisher hatte er sich an sein Wort gehalten.

“Sie…” Er wollte fast schon sagen “ihnen geht’s gut”, doch er hielt sich zurück. “Sie werden erwachsen. Verdammt, vielleicht sind sie es schon.” Null seufzte. “Ich muss ehrlich sein. Wenn die uns heute auf einen Einsatz schicken, dann bin ich mir nicht sicher, was ich mit Sara tun soll. Ihr geht es noch nicht gut genug, um sie allein zu lassen.”

Strickland hielt inne, als sie an der geschlossenen Tür des Konferenzraums ankamen, hinter der die Einweisung stattfände. Doch er verweilte kurz und griff in seine hintere Hosentasche. “Ich dachte an dasselbe.” Er gab Null eine Visitenkarte.

Der runzelte die Stirn. “Was ist das?” Die Karte war sehr einfach, elfenbeinfarben, auf ihr war eine Webseite, eine Telefonnummer und der Name,Seaside House Rehabilitatioszentrum’ graviert.

“Das ist ein Ort in Virginia Beach”, erklärte Strickland, “wo Leute wie sie hinkönnen, um… sich zu erholen. Ich habe dort selbst ein paar Wochen verbracht, vor langer Zeit. Das sind gute Leute. Die können helfen.”

Null nickte langsam, ein wenig erstaunt darüber, wie jeder außer ihm es zu sehen schien. Maya hatte ihm schon gesagt, dass Sara professionelle Hilfe bräuchte und anscheinend war es auch für Todd offensichtlich. Er wusste genau, warum er es nicht gesehen hatte. Er wollte fähig sein, ihr zu helfen. Er wollte derjenige sein, der sie da durchbrachte. Doch er hatte tief im Inneren schon gewusst, dass sie mehr brauchte, als er ihr bieten konnte.

“Ich hoffe, dass ich damit keine Grenzen überschritten habe”, fuhr Todd fort. “Doch äh… ich habe dort angerufen, um mich zu versichern, dass sie Platz haben. Sie kann da hin, wann immer sie will.”

“Danke”, murmelte Null. Er wusste nicht, was sonst sagen. Ganz sicher hatte er keine Grenzen überschritten, indem er etwas tat, zu dem Null vermutlich nicht den Mut gehabt hätte. Er steckte sich die Karte in die Hosentasche und zeigte auf die Tür. “Nach dir.”

Er hatte sehr viele Einweisungen während seiner Zeit als CIA Agent miterlebt, und keine glich der anderen.

Manchmal waren viele anwesend und es ging chaotisch zu, mit Repräsentanten von zusammenarbeitenden Agenturen und Videokonferenzen mit Experten der Themen. Andere Male waren sie klein, ruhig und vertraulich. Er war sich zwar sicher, dass diese Einweisung eine der ruhigen wäre, doch er war dennoch überrascht, dass er beim Eintreten in den Konferenzsaal nur eine Person vorfand, die am Tisch saß und ein einzelnes Tablet vor sich hatte.

Strickland schien genauso verwirrt, denn er fragte: “Sind wir zu früh dran?”

“Nein”, sagte Maria, während sie aufstand. “Genau rechtzeitig. Setzt euch.”

Null und Todd tauschten einen Blick aus und setzten sich auf jeweils eine Seite von Maria, die am Kopf des langen Tisches saß.

“Na”, murmelte der jüngere Agent, “wenn das mal nicht puschelig ist.”

“Es tut mir leid, dass ich euch aus dem Feiertag gerissen habe”, begann sie. “Ihr wisst, dass ich es nicht getan hätte, wenn ich die Wahl hätte.” Sie sagte es, als wäre es mehr an Null gerichtet. Maria wusste genau, wer und was auf ihn zu Hause wartete. Sie war schließlich auch eingeladen. “Ich komme gleich zur Sache”, fuhr sie fort. “Letzte Nacht gab es einen Vorfall am nördlichen Hafengebiet von Havanna. Wir haben guten Grund zu glauben, dass es sich um einen vorsätzlichen terroristischen Anschlag handelte.”

Sie erzählte ihnen alles, was sie wusste, dass mehr als einhundert Leute eine breite Palette an Symptomen spürten, und dass die Nähe jener, die es am schlimmsten getroffen hatte, auf die Verwendung einer Ultraschallwaffe schließen ließ, die sich in der Nähe des Ufers befand. Während sie die Sachlage erklärte, glitten ihre Finger über den Touchscreen des Tablets, zeigten auf Fotos der Notfalldienste in Kuba, welche den Opfern halfen. Einige von ihnen brauchten Unterstützung, um nur wieder aufzustehen, anderen liefen dünne Blutrinnsale aus den Ohren. Einige wurden auf Bahren fortgetragen.

“Es gab nur einen Todesfall”, schloss Maria, “eine junge amerikanische Frau im Urlaub. Und die Waffe wurde nicht gefunden, deshalb unsere Beteiligung.”

Null hatte schon von dieser Art von Ultraschallwaffe zuvor gehört, zumindest von etwas Ähnlichem, doch abgesehen von den winzigen Schallgranaten, die Bixby in seinem Labor zusammenbraute, hatte er keine weitere Erfahrung mit ihnen. Allerdings er musste zugeben, dass trotz der fehlenden visuellen Beweise von der Waffe oder den Tätern alles sehr nach einem Terrorattentat aussah – was das Ganze nur noch verwirrender machte.

“Kent?” drängte Maria. “Was denkst du?”

Er schüttelte seinen Kopf. “Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen perplex. Warum macht sich jemand die Mühe, eine solche Waffe zu bauen oder zu kaufen, wenn ein einzelnes Sturmgewehr und ein paar Magazine viel mehr Schaden angerichtet hätten?”

“Vielleicht ging es nicht um Schaden”, schlug Strickland vor. “Vielleicht war es eine Nachricht. Die Täter könnten ja sogar Kubaner gewesen sein. Sie wählten eine Touristengegend als Ziel. Vielleicht waren es Nationalisten und das war eine Art gewalttätiger Protest.”

“Das ist möglich”, gab Maria zu. “Aber wir brauchen Fakten – und bisher wissen wir nur, dass amerikanische Bürger betroffen wurden, von denen eine jetzt tot ist, und dass diese Waffe immer noch da draußen ist… und da kommt ihr zwei zum Einsatz.”

Null und Strickland blickten einander an und dann Maria. Für einen kurzen Moment hatte er schon gedacht, dass dies nur eine Informationseinweisung war, in der man sie darüber informierte, was in Kuba geschehen war, doch mit diesen wenigen Worten verstand er nun, was es wirklich bedeutete.

Es gab keinen Zweifel daran, er wurde wieder auf einen Einsatz geschickt.

“Warte mal”, erwiderte Strickland. “Du sagst also, dass irgendjemand, irgendwo auf der Welt eine ziemlich einfach bewegbare und starke Ultraschallwaffe hat, und was sollen wir jetzt tun? Einfach losziehen, um sie zu finden?”

“Ich verstehe, dass wir nicht gerade viele Anhaltspunkte haben…” begann Maria.

“Das sind überhaupt keine Anhaltspunkte.”

Null war ein wenig über Stricklands Einstellung überrascht. Tief in seinem Herzen war er immer noch ein Soldat und sprach niemals so zu einem Vorgesetzten, nicht einmal Maria. Doch er verstand ihn, denn während Strickland seine Verärgerung zum Ausdruck brachte, spürte Null eine Welle von Wut. Dafür hatte man ihn von Thanksgiving weggerissen, ihn davon abgehalten, sich mit seiner Familie wieder zu vereinigen? Ihm taten zwar die Opfer des Havanna-Attentats leid, doch seine Fähigkeiten kamen normalerweise zum Einsatz, um Nuklearkriege und Massentode zu vermeiden, nicht um auf eine wilde Jagd nach einer Waffe zu gehen, die ein einziges Leben gekostet hatte.

“Wir haben etwas”, sagte Maria Strickland. “Ein paar Augenzeugen am Hafen gaben an, dass sie eine Gruppe von Männern sahen, vier oder fünf von ihnen, die eine Art Schutzmaske oder – helm trugen und einen,seltsam aussehenden Gegenstand’ direkt nach dem Anschlag auf ein Boot luden. Die Details sind zwar nicht gerade genau, doch ein paar Leute berichteten auch, dass sie eine Frau mit hellrotem Haar unter ihnen sahen.”

 

“OK, das ist etwas”, stimmte Strickland ihr zu und schien jeglichen weiteren Protest, den er womöglich noch äußern wollte, zu unterdrücken. “Also gehen wir nach Havanna, informieren uns über das Boot, wem es gehört, wohin es fuhr, wo es jetzt ist und folgen der Spur.”

Maria nickte. “Ja, genauso steht es. Bixby arbeitet an etwas Technologie, die hilfreich sein sollte. Und ich will ja nicht drängeln, aber Präsident Rutledge verwendete die Worte,so schnell wie möglich’, also—”

“Können wir mal reden?” platzte Null plötzlich heraus, bevor Maria ihnen offiziell den Startschuss geben konnte. “Unter vier Augen?”

“Nein”, erwiderte sie kurz.

“Nein?” Null blinzelte.

Sie seufzte. “Es tut mir leid, Kent. Aber ich weiß, was du sagen willst und ich weiß, dass ich wahrscheinlich nachgeben würde und versuchen würde, dich freizustellen. Doch das hier kam vom Präsidenten. Nicht von mir, nicht von Direktor Shaw —”

“Und wo ist Direktor Shaw jetzt?” fragte Null erhitzt. “Zu Hause, schätze ich mal? Macht sich wohl gerade fertig, um Thanksgiving mit seiner Familie zu genießen?”

“Ja Null, genau dort ist er”, entgegnete sie ihm streng. Sie nannte ihn niemals Null. Aus ihrem Mund hörte es sich an, als ob er gerügt würde. “Weil es nicht seine Arbeit ist, hier zu sein. Es ist deine. Genauso wie es nicht meine Arbeit ist, immer wieder für dich den Hals herauszustrecken. Meine Arbeit ist es, dir zu sagen, wohin du gehen musst und was getan werden muss.” Sie tippte zwei Mal mit einem Finger auf das Tablet.

“Da gehst du hin. Das musst du tun.”

Null starrte auf den Tisch hinunter. Er war glatt und hochpoliert, so dass er reflektierend glänzte. Er hatte idiotischerweise geglaubt, dass er und Maria nach all dem, was sie zusammen durchgemacht hatten, noch weiter Freunde bleiben konnten. Doch letztendlich war es anders. Sie war seine Chefin und so fühlte es sich an, wenn man herumkommandiert wurde.

Ihm gefiel das Gefühl überhaupt nicht, genauso wenig, wie ihm die Idee gefiel, dass der Präsident verlangte, dass er auf den Fall angesetzt wurde. Seiner Meinung nach war das eine komplette Verschwendung seiner Fähigkeiten. Doch er machte sich nicht die Mühe, das zu sagen.

“Schaut euch doch einfach mal die Zustände an.” Marias Ton wurde sanfter, doch sie blickte keinem der beiden in die Augen. “Wir haben einen Handelskrieg mit China. Unsere Verbindungen mit Russland sind fast ganz gekappt. Die Ukraine sind nicht gerade von uns beeindruckt. Belgien und Deutschland sind immer noch sauer über das, was sie für einen unbestätigten Einsatz letzten Monat hielten. Niemand vertraut unseren Anführern – am wenigsten unser eigenes Volk. Wir haben noch nicht einmal einen Vizepräsidenten.” Sie schüttelte ihren Kopf. “Wir können uns die Möglichkeit eines Attentats auf amerikanischem Boden nicht leisten. Selbst wenn es sich nur um eine Möglichkeit handelt. Nicht, wenn wir es vermeiden können.”

Null wollte ihr widersprechen. Er wollte darauf hinweisen, dass die Effizienz von zwei Männern, egal ob sie hochtrainiert waren oder nicht, immer noch dürftig erschien, wenn man sie mit dem gemeinsamen Einsatz von Strafverfolgungsagenturen verglich. Er konnte verstehen, warum sie keine große, öffentliche Debatte daraus machen wollten, aber wenn sie diese Leute wirklich finden wollten, wenn sie wirklich dachten, dass ein Anschlag auf die USA wahrscheinlich war, dann könnten sie eine Fahndungsausschreibung herausgeben. Sie könnten an den Küstenregionen von Florida, Louisiana, Texas beginnen, das waren die wahrscheinlichsten Angriffsziele beträchtlich des Anschlags auf Havanna. Sie könnten die kubanische Regierung dazu auffordern, das vermisste Boot zu überprüfen. Sie sollten zusammenarbeiten, um die Bürger beider Nationen und alle anderen, die verletzt wurden, zu beschützen.

Null wollte all das gerade laut sagen, doch bevor er dazu kam, klingelte Marias Handy.

“Einen Moment”, sagte sie ihnen, bevor sie mit ihrem typischen Gruß antwortete: “Johansson.”

Ihr Gesicht wurde schlaff und ihre Blick traf Nulls. Er hatte diesen Ausdruck schon zuvor gesehen, viele Male – viel zu oft für seinen Geschmack. Es war ein Ausdruck von Schock und Entsetzen.

“Schick mir alles”, sagte Maria mit einem rauen Flüstern ins Telefon. Sie beendete den Anruf und er wusste schon, was sie ihnen erzählen würde, bevor sie damit anfing.

“Es gab einen Anschlag auf amerikanischem Boden.”

Kapitel acht

Schon? Null war fassungslos darüber, wie schnell ein weiteres Attentat geschehen war —er hatte offensichtlich die Schwere der Situation unterschätzt.

Doch er war noch schockierter, als Maria ihm sagte, wo es geschehen war.

“Der Anschlag fand auf ein kleines Städtchen im mittleren Westen statt.” Maria konzentrierte sich auf den Bildschirm des Tablets, scrollte durch die Information, sobald sie ankam. “Ein Ort namens Springfield in Kansas – achthunderteinundvierzig Einwohner.”

“Kansas?” wiederholte Null. Wenn sie seit dem Havanna-Attentat bis nach Kansas gekommen waren, so bedeutete das… “Sie müssen per Flugzeug gereist sein.”

“Was bedeutet, das dies geplant war”, fügte Strickland hinzu. Der junge Agent stand plötzlich auf, als ob es etwas gäbe, dass er in diesem Moment tun könnte. “Aber warum? Was könnte an einem Örtchen in Kansas bedeutend sein?”

“Keine Ahnung”, murmelte Maria. Dann griff ihre Hand an ihren Mund. “Oh mein Gott.” Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen zu Null. “Dort fand gerade ein Umzug statt. College-Studenten, Familien… Kinder.”

Null atmete tief ein, arbeitete hart daran, eine mentale Distanz zwischen dem Teil von ihm, der Vater und ehemaliger Professor, und jenem, der Agent war, zu schaffen. “Auswirkungen?”

“Unklar”, berichtete Maria und starrte wieder auf ihr Tablet. “Das hier geschah gerade erst. Der erste Anruf zum Rettungsdienst fand vor dreiundzwanzig Minuten statt. Doch…” Sie schluckte schwer. “Erste Berichte des Notfalldienstes geben an, dass es sechzehn Tote am Tatort gibt. Aber wahrscheinlich sind es mehr.”

Strickland schritt im Konferenzsaal wie ein Tiger hin und her, der darauf wartet, aus seinem Käfig gelassen zu werden. “Wir können nicht versichern, dass alle Todesfälle das direkte Ergebnis der Waffe sind. Einige könnten durch Panik ausgelöst worden sein.”

“Aber vielleicht geht es genau darum”, murmelte Null.

“Warte mal, da kommt ein Video” Maria drehte das Tablet und beide Männer drängten sich an ihre Schultern, um es zu sehen. Sie drückte auf Start und der Bildschirm füllte sich mit der wackeligen Perspektive von jemandem, der mit einem Handy filmte. Der Tatort war die Hauptstraße der Kleinstadt, die Kamera filmte den Häuserblock hinauf, nahm mit ihrer Linse die Bürgersteiger voller Leute und Stühle auf beiden Seiten der Allee auf.

Eine Gruppe junger Leute in weiß-grünen Uniformen kam um die Ecke – eine Blaskapelle, die mit erhobenen Instrumenten im Gleichschritt ging, die sich annähernde Musik übertönte den Lärm von Applaus und Jubel.

“Sie sind fast hier, Ben!” rief eine fröhliche, weibliche Stimme, vermutlich die Frau hinter der Handykamera. “Bist du soweit? Winke Maddie zu!”

Die Kamera ging kurz nach unten und zeigte einen kleinen Jungen, nicht älter als fünf oder sechs, der ein riesiges Lächeln auf dem Gesicht hatte, während er der sich annähernden Kapelle zuwinkte. Dann ging die Kamera wieder nach oben, zeigte eine Gruppe junger Männer in grünen Trikots, die hinter der Kapelle um die Ecke kam – ein Footballteam, schien es, das Süßigkeiten aus Eimern in die Menge warf.

Ein Knoten von Grauen wand sich in Nulls Magen, denn er wusste, dass es gleich zur Katastrophe käme.

Der Übergang war nicht plötzlich. Er war langsam und bizarr, fand während der nächsten Sekunden statt. Null lehnte sich näher an den Bildschirm, beunruhigt doch gespannt, während er weitersah.

Zuerst ging die Kamera ein wenig nach unten und er hörte kaum die Frau dahinter, als sie murmelte: “Spürt das sonst noch jemand? Was ist das…?”

Fast gleichzeitig hörten mehrere Mitglieder der Kapelle auf, zu spielen. Immer mehr Instrumente verstummten, als Keuchen und verwirrte Rufe sich mit dem Jubel vermischten.

Eine Trompete fiel auf die Straße. Dann ein Körper. Mitglieder der Kapelle taumelten. Hinter ihnen kippten junge Männer in Trikots um. Die Kamera wackelte fürchterlich, als die Frau sich nach links und rechts drehte, nach einer Quelle suchte oder vielleicht versuchte, zu verstehen, was da geschah.

“Ben?” schrie sie. “Ben!”

Schreie drangen aus der Menschenmenge, als sie in alle Richtungen drängte. Während der nächsten zwei Sekunden wurde Null zum Zeugen des absoluten Chaos. Menschen traten aufeinander, hielten sich die Köpfe oder die Mägen, fielen um. Dann fiel das Telefon auf die Straße und der Bildschirm wurde schwarz.

“Oh Gott”, murmelte Strickland.

Null rieb sich das Kinn, während er vom Tisch zurücktrat. Er hatte nur zur Hälfte recht gehabt. Es stimmte, das ein einzelnes Sturmgewehr mehr Schaden hätte anrichten können, doch dies – eine unsichtbare Kraft, eine versteckte Waffe, keine Angreifer in Sicht – dies war regelrecht fürchterlich. Es war einfach etwas wie eine langsame Brise durch die Straße gefahren, hatte hunderten von Menschen in Sekunden Schaden zugefügt. Wenn so etwas in die Öffentlichkeit geriete…

“Ist das Video öffentlich?” fragte er.

“Ich hoffe nicht”, antwortete Maria und dachte offensichtlich dasselbe wie er. “Es kam vom Polizeirevier Springfield, was…” Sie blickte wieder auf das Tablet. “Aus fünf Polizisten besteht. Wir tun, was wir können von unserer Seite aus, aber ich zweifle daran, dass sie es schaffen, es geheim zu halten.”

“Wenn das herauskommt, dann werden die Leute in Panik ausbrechen”, bemerkte Strickland.

“Genau”, stimmte Null ihm zu, als er laut eine Theorie austüftelte. “In Havanna haben sie ein volles Touristenviertel angegriffen. In Kansas eine Umzugsroute voller Menschen. Bewohnte Bereiche, die willkürlich erscheinen. Vielleicht versuchen sie, zu beweisen, dass ihre Waffe nur ein Katalysator ist, und dass die Leute sich gegenseitig genauso viel Schaden zufügen, wie sie es tun.”

“Also könnte es wirklich eine Nachricht sein”, stimmte Strickland zu, während er im Konferenzraum auf und ab ging.

Es war das Einzige, was in diesem Moment Sinn ergab. Ein Attentat auf eine solch kleine Stadt war ein Versuch, ihre Ziele willkürlich erscheinen zu lassen, um Panik und Verwirrung zu stiften. “Aber wenn das der Fall ist, was könnte dann geschehen, wenn sie dieses Ding nach New York City brächten? Oder Washington, DC?”

Strickland hielt inne. “Die verspotten uns regelrecht. Sagen uns, dass das nächste Ziel überall sein könnte. Zu jedem Zeitpunkt.”

“Bisher sind die örtlichen Behörden sich nicht sicher, was geschehen ist”, verkündete Maria. “Es scheint, als ob niemand außer uns diesen Vorfall mit dem Ultraschallattentat auf Havanna verknüpft – bisher.”

“Doch so bald sie das tun”, fügte Null hinzu, “fühlt sich niemand mehr sicher.” Er stellte es sich schon vor: etwas so einfaches, wie eine volle Straße entlangzugehen und in eine Ultraschallexplosion zu geraten. Nicht zu wissen, was geschah oder woher es kam oder was zu tun war oder wie man es aufhalten konnte.

Es war ein furchterregender Gedanke, selbst für ihn.

Plötzlich piepste Marias Tablet. Null blickte über ihre Schulter und sah, dass ein Anruf auf dem verschlüsselten Server der CIA ankam. Anstatt jedoch den Anrufer zu zeigen, stand da nur “GESICHERT”.

Maria atmete tief ein und antwortete. Es war ein Videoanruf. Eine smart gekleidete, braunhaarige Frau erschien plötzlich und sah so ernst wie eine Statue aus.

“Deputy Direktorin”, begrüßte sie die Frau.

“Ms. Halpern.”

Null erkannte nicht das Gesicht der Frau, doch er kannte den Namen. Tabitha Halpern war die Stabschefin des Weißen Hauses unter Präsident Rutledge. Und er kannte den Hintergrund hinter ihr sehr gut. Sie saß im Krisensaal, einem Ort, an dem er schon häufig zuvor gewesen war.

“Ich habe hier den Präsidenten bei mir”, sagte Halpern. “Er möchte Sie gerne sprechen.” Sie griff nach vorne und drehte den Bildschirm, bis er auf Jonathan Rutledge ruhte, der am Kopf des Konferenztisches saß. Er trug ein weißes Hemd, dessen Ärmel bis zum Ellenbogen hochgekrempelt waren, und eine blaue Krawatte war lose um seinen Hals gebunden. Auf seinem Gesicht trug er einen abgekämpften Ausdruck.

 

“Mr. Präsident”, nickte Maria. “Es tut mir leid, dass sie zwei Mal an einem Tag auf diesem Platz sitzen müssen.”

“Also haben Sie es schon gehört?” erwiderte Rutledge und übersprang die Formalitäten.

“Ja Sir. Gerade eben.”

“Ist er das hinter Ihnen? Ich will mit ihm sprechen.”

Null hatte nicht bemerkt, dass er teilweise im Blickfeld der Kamera war – hätte er gewusst, dass er an einer Videokonferenz mit dem Präsidenten teilnähme, so hätte er sich etwas besseres als ein T-Shirt und eine leichte Jacke angezogen. Maria reichte ihm das Tablet und er hielt es vor sich.

“Sie sind also derjenige, den man Null nennt”, sagte Rutledge kurz.

“Ja Sir, Mr. Präsident”, entgegnete er ihm mit einem kurzen Nicken. “Es ist bedauerlich, dass wir uns unter diesen Umständen kennenlernen.”

“Bedauerlich. Ja.” Rutledge rieb sich sein Kinn. Irgendetwas an ihm erschien… nun, Null erschien es nicht gerade präsidentiell. Er sah verloren aus. Er sah aus wie ein Mann, dem alles zu viel geworden war. “Haben Sie das Video des Attentates gesehen, Agent?”

“Das habe ich, Sir. Gerade eben.,Fürchterlich’ ist nicht gerade der richtige Ausdruck, doch es ist das erste Wort, was mir in den Sinn kommt.”

“Fürchterlich. Ja.” Der Präsident nickte, sein Blick war unscharf und weit weg. “Haben Sie Kinder, Agent Null?”

Das schien eine seltsame Frage – besonders, wenn man sie einem Geheimagenten stellte, dessen Identität vertraulich bleiben sollte, doch Null erwiderte ihm: “Ja. Zwei Töchter.”

“Ich auch, vierzehn und sechzehn.” Rutledge stützte seine Ellenbogen auf dem Tisch ab und blickte Null schließlich in die Augen, soweit das durch die Kamera möglich war. “Sie müssen diese Leute finden. Finden Sie diese Waffe. Halten Sie das auf. Bitte. Das kann nicht noch einmal geschehen.”

Selbst unter normalen Umständen, welche dies wirklich nicht waren, könnte Null einen Befehl des Präsidenten der Vereinigten Staaten nicht verweigern. Es war nicht notwendig, dass Rutledge ihn darum anflehte, einen Einsatz anzunehmen. Seitdem Maria das Attentat auf amerikanischem Boden verkündet hatte, wusste er, dass er dieser Angelegenheit nicht den Rücken zuwenden konnte. Es war in seine DNA einprogrammiert. Gäbe es etwas, das er dagegen tun könnte, dann täte er es.

“Das werde ich.” Er blickte hinüber zu Strickland und verbesserte sich. “Das werden wir, Sir.”

“Gut. Und sagen Sie Johansson, dass man Ihnen dafür jede Ressource zur Verfügung stellen soll.”

Darüber runzelte Null die Stirn. Es schien seltsam, wie er den Satz betonte. Das galt vermutlich eher Maria als ihm.

“Sei Gott mit Ihnen”, schloss Rutledge und beendete die Videokonferenz abrupt.

Null gab Maria das Tablet zurück, die sofort nach Neuigkeiten über den Tatort in Kansas suchte.

Strickland seufzte schwer. “Es gibt da nur ein Problem. Havanna ist jetzt eine Sackgasse und wenn die so schnell reisen können, wie sie es taten, dann finden wir in Kansas vermutlich auch nichts mehr. Wir haben jetzt noch weniger Anhaltspunkte als zuvor.”

“Das stimmt nicht ganz.” Maria blickte vom Tablet auf. “Ein Augenzeuge in Springfield, ein älterer Mann, berichtete, dass er kurz vor dem Attentat auf der Straße an einer Frau vorbeiging – eine weiße Frau mit hellrotem Haar. Genau wie in Kuba. Und dieser Mann gibt an, dass er hörte, wie sie russisch in ein Funkgerät sprach.”

“Russen?” wiederholte Null. Er sollte nicht darüber überrascht sein, nicht nach allem, was in den letzten eineinhalb Jahren geschehen war. Doch bei den vorherigen Verschwörungen gab es geheime Intrigen, riesigen Mengen Geld, mächtige Leute. Das hier fühlte sich ganz anders an und er konnte auch kein Motiv für diese Art von Attentat sehen, abgesehen von einer Art von Rache.

“Naja”, bemerkte Strickland, “,rothaarige Russin’ schränkt die Dinge wohl kaum ein.”

“Du hast recht.” Maria zog ihr Handy hervor. “Doch es gibt etwas, das die Dinge einschränken kann.” Sie drückte auf einen Knopf und sprach dann in ihr Telefon: “Ich komme runter. Ich brauche OMNI.”

“Was ist OMNI?” fragte Strickland, bevor Null die Möglichkeit dazu hatte.

“Das ist… kompliziert”, antwortete Maria rätselhaft. “Aber ich zeige es euch.” Sie stand von ihrem Stuhl auf und nahm das Tablet auf dem Weg zur Tür mit.

Null wusste, dass,runterkommen’ vermutlich bedeutete, Bixby in seinem Labor zu besuchen, der Forschungs- und Entwicklungsabteilung im Untergeschoss der Central Intelligence Agency. Sie waren selbst schon in einem Untergeschoss und der exzentrische Ingenieur befand sich einen weiteren Stock unter ihnen – zumindest soweit Null es wusste.

Er wusste ebenfalls, dass er nicht nach Hause ginge, nicht mit seinen Mädchen zu Abend essen würde. Als sie auf dem leeren Gang waren, sagte er: “Wartet mal. Darf ich einen Anruf machen?”

Maria zögerte, doch nickte: “In Ordnung. Beeil dich. Wir treffen dich am Aufzug.” Die beiden gingen den Gang entlang, während Null sein Handy herauszog – und auch die kleine weiße Karte, die Strickland ihm gegeben hatte.

Er hatte schon seinen Finger auf der Anruftaste, als er die Meinung änderte und stattdessen die Videoanrufanwendung öffnete und sein Handy so vor sich hielt, dass sein Gesicht in der Kamera erschien.

Es klingelte nur einmal, bevor Maya antwortete. Auf ihrem Gesicht stand Sorge und er konnte am Hintergrund erkennen, dass sie in der Küche stand. “Papa?”

“Maya. Es ist etwas geschehen.”

“Ich weiß”, sagte sie ernst. “Ich schaue die Nachrichten, seit du gegangen bist.”

“Es ist schon in den Nachrichten?”

“Es gibt da ein Video”, erklärte sie ihm, “von jemandem, der da war.”

Null zuckte zusammen. Wenn das Video schon an die Öffentlichkeit geraten war, dann gäbe es keinen Weg, um es geheimzuhalten. Jetzt war es wahrscheinlich schon in den sozialen Netzwerken, was bedeutete, dass es binnen Minuten viral würde, falls das noch nicht der Fall war. Auf Millionen von Bildschirmen würde man es teilen.

Doch wenn er Mayas Gesichtsausdruck richtig interpretierte, dann fand sie es genauso angsterregend wie er. Und wenn das der Fall war, dann würde sie verstehen, was er tun müsste.

“Papa, was zum Teufel war das?” fragte sie.

“Ich kann es nicht sagen”, antwortete er bewusst vage. “Doch wir müssen die Leute dahinter finden. Was bedeutet, dass du etwas für mich tun musst… und für deine Schwester.”

“Natürlich”, stimmte sie sofort zu. “Was immer du brauchst.”

“Danke. Aber zuerst… kannst du mir Sara geben?”

“Einen Moment.” Der Bildschirm bewegte sich plötzlich, als Maya das Handy weitergab und einen Augenblick später blickte ihn Sara auf dem winzigen Bildschirm an. Ihr Blick war stumpf und ihre Stimme leise. “Du kommst nicht heim, oder?”

“Sara. Du weißt, dass ich viel lieber mit euch zu Hause wäre…”

“Papa”, unterbrach sie ihn, “du musst nicht mit mir reden, als wäre ich ein kleines Mädchen.”

“Bitte”, flehte er sie an, “lass mich ausreden. Ich muss das sagen und ich habe nicht viel Zeit.” Er atmete tief durch und sammelte sich. “Ich wäre viel lieber mit euch zu Hause – und mir wäre es am liebsten, wenn du mit mir zu Hause wärst. Aber du hast recht. Du bist kein Kind mehr. Ich kann dich nicht so behandeln. Wir wissen beide, dass du mehr brauchst, als ich dir bieten kann.”

Sara verstand sofort, worauf er anspielte. “Ich will nicht an einen dieser Orte. Die sind nichts für Leute wie mich.”

Die sind gerade für Leute wie dich, dachte er, doch er wollte es nicht sagen, um keinen Streit heraufzubeschwören. “Dieser hier schon”, sagte er stattdessen. “Es ist ein netter Ort in Virginia Beach. Strickland hat ihn empfohlen. Er war selbst dort für eine Weile. Du vertraust ihm, oder nicht?”

Sara blieb still. Sie wusste, dass sie ihm vertraute, doch gäbe sie es zu, dann gäbe sie womöglich nach. “Ich will bei dir bleiben”, sagte sie schließlich. “Mir geht’s besser. Ich brauche keine Reha.”

“Doch, das tust du”, konterte Null mit sanfter Stimme. “Du willst es nur nicht, weil…” Ein dünnes, trauriges Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. “Weil du mir ähnlicher bist, als dir lieb ist. Du denkst wie ich. Du warst toll in diesen letzten vier Wochen, doch du hast dir immer einen Fluchtweg im Kopf bereitgehalten. Ich habe es in deinen Augen gesehen. Du hast darüber nachgedacht, wie du eine Dosis bekommen kannst. Wo du hinkönntest. Wie weit du kämst.”

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