Attentäter Null

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Immer unter Beobachtung. Niemals wirklich allein.

Doch eigentlich stimmte das nicht, bemerkte er. In diesem Moment fühlte er genau das Gegenteil – egal wie viele Leute um ihn waren, ihn berieten, ihn beschützten, ihn in eine Richtung oder die andere schubsten, er fühlte sich wirklich einsam.

Kapitel fünf

Null wachte auf und spürte, wie das warme Sonnenlicht auf seinem Gesicht durch die Jalousien drang. Er setzte sich auf und streckte seine Arme, fühlte sich ausgeruht. Doch etwas stimmte nicht. Sein Schlafzimmer war größer als es eigentlich sein sollte, doch bekannt. Statt einer einzelnen Kommode standen da jetzt zwei. Eine von ihnen war kleiner und hatte einen Spiegel auf ihr.

Das war nicht seine Wohnung in Bethesda. Dies war sein Schlafzimmer aus New York – ihr Schlafzimmer, in dem Haus, das sie teilten. Bevor… vor allem.

Und als er langsam seinen Kopf drehte, sah er, unmöglicherweise, dass sie da war. Sie lag neben ihm, die Bettdecke war halb über ihren Körper gezogen und sie schlief friedlich in einem weißen Unterhemd, wie sie es so oft tat. Ihr blondes Haar lag perfekt auf dem Kissen, auf ihren Lippen lag ein leichtes Lächeln. Sie sah traumhaft wie ein Engel aus. Sorglos. Friedlich.

Er lächelte und legte sich zurück auf das Kissen, beobachtete sie, während sie schlief. Er bemerkte die perfekten Umrisse ihrer Wangen, das kleine Grübchen auf ihrem Kinn, das sie Sara vererbt hatte. Seine Frau, die Mutter seiner Kinder, die größte Liebe seines Lebens.

Er wusste, dass es nicht real war, doch er wünschte, dass es das sein könnte, dass dieser Moment ewig andauern würde. Er griff nach ihr und berührte sanft ihre Schulter, ließ seine Fingerspitzen über ihre sanfte Haut hinunter bis zum Ellenbogen gleiten…

Er blickte finster.

Ihre Haut war kalt. Ihre Brust fiel und sank nicht beim Atmen.

Sie schlief nicht. Tot.

Umgebracht durch eine tödliche Dosis Tetrodotoxin, verabreicht durch einen Mann, den Null einen Freund genannt hatte, einen Mann, den Null hatte leben lassen. Eine Entscheidung, die er tagtäglich bereute.

“Wach auf”, murmelte er. “Bitte. Wach auf.”

Sie bewegte sich nicht. Sie würde es nicht, niemals mehr.

“Bitte wach auf.” Seine Stimme brach.

Es war seine Schuld, dass sie starb.

“Wach auf.”

Es war seine Schuld, dass sie ermordet wurde.

“WACH AUF!”

Null atmete schlagartig ein, als er sich aufrecht im Bett setzte. Es war ein Traum. Er war in seinem Schlafzimmer in Bethesda. Die Wände waren weiß und ungeschmückt, es gab nur eine Kommode. Er war sich nicht sicher, ob er geschrien hatte oder nicht, doch seine Kehle war rau und schlimme Kopfschmerzen brauten sich zusammen.

Er stöhnte und schaute auf seinem Telefon nach der Uhrzeit, während er sich wieder an die Realität gewöhnte. Die Sonne war aufgegangen, es war Thanksgiving. Er musste raus aus dem Bett. Er musste den Truthahn in den Ofen stellen. Er konnte nicht länger über den Alptraum nachdenken, denn das bedeutete, an die Vergangenheit zu denken, an…

An…

“Oh Gott”, murmelte er erschrocken. Seine Hände zitterten und sein Magen drehte sich ihm um.

Ihr Name. Er konnte sich nicht an ihren Namen erinnern.

Für eine lange Weile saß er so da, sein Blick flitze über die Bettdecke, als ob die Antwort auf ihr geschrieben stünde. Doch sie war nicht da und sie schien auch nicht in seinem Kopf zu sein. Er konnte sich nicht an ihren Namen erinnern.

Null riss die Bettdecke von seinem Körper und fiel praktisch aus dem Bett. Er ging auf Hände und Knie und griff unter das Bett, zog eine feuerfeste Sicherheitsbox von der Größe eines Aktenkoffers hervor.

“Schlüssel”, sagte er laut. “Wo ist der verdammte Schlüssel?” Er stand wieder auf und riss die oberste Schublade der Kommode auf, zog sie fast ganz heraus. Er schnappte sich den kleinen silbernen Schlüssel, der da zwischen Sockenknäueln und aufgerollten Gürteln lag und warf sich wieder zu Boden, um die Sicherheitsbox aufzuschließen.

Darin lag eine Sammlung an wichtigen Dokumenten und Gegenständen —unter ihnen waren die Pässe von seinen Mädchen und ihm, seine Geburtsurkunde und Sozialversicherungskarte, zwei Pistolen, tausend Dollar Bargeld und sein Ehering. Er zog das alles hervor und legte sie in einem kleinen Haufen auf den Boden, da er nichts davon suchte. Er hielt kurz bei einem Bild inne, einem Foto von allen vier in San Francisco während eines Sommers, als Maya fünf und Sara drei Jahre alt waren. Die Frau auf dem Foto war ihm sehr bekannt. Er konnte ihr spielerisches Lachen in seinem Kopf hören, ihren Atem auf seinem Ohr spüren, die warme Berührung ihrer Hand in seiner.

“Was war ihr verdammter Name?!” Seine Stimme wankte, als er das Foto zur Seite warf und weitergrub. Er musste hier drin sein. Viele seiner Sachen waren noch in Marias Keller, doch er war sich sicher, dass er ihn in die Sicherheitsbox gelegt hatte…

“Gottseidank.” Er erkannte den braunen Umschlag und riss ihn auf. Darin befand sich ein einzelnes Blatt aus dickem Papier, auf dem der Stempel eines New Yorker Standesamtes graviert war. Ihre Heiratserlaubnis.

Seine Kehle wurde trocken, als er den Namen anstarrte. “Katherine”, sagte er zu sich selbst. “Ihr Name war Katherine.” Doch er spürte dabei keine Erleichterung, nur Horror. Der Name kam ihm nicht bekannt vor in seiner Erinnerung. Er klang wie ein Fremdwort in seinem Mund. “Katherine”, sagte er erneut. “Katherine Lawson.”

Trotzdem klang er nicht richtig, obwohl er direkt vor seinen Augen in schwarz-weiß gedruckt war. War sie Katherine? Hatte er sie Katherine genannt? Oder vielleicht war es…

“Kate.”

Ein Riesenseufzer entrann ihn. Kate. Er hatte sie Kate genannt. Die Erinnerungen strömten so plötzlich zurück wie Leitungswasser, wenn man den Hahn aufdreht. Jetzt fühlte er Erleichterung, doch dennoch war die sehr wirkliche Tatsache, dass er für jene wenigen, angsteinflößenden Minuten komplett den Namen seiner Frau vergessen hatte – das war nicht etwas, das er als einen willkürlichen Aussetzer abtun konnte.

Null griff sein Handy und scrollte durch die Kontakte. Auch wenn man ihm einen internationalen Anruf in Rechnung stellen würde, er brauchte Antworten. Die Schweiz lag sechs Stunden vor ihnen. Dort wäre es jetzt früher Nachmittag, falls die Praxis geöffnet war.

“Geh dran”, bettelte Null. “Geh ran, geh dran…”

“Praxis Dr. Guyer.” Die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung war sanft und hatte einen leichten schweizerdeutschen Akzent. Wäre er nicht in Panik, hätte er sie vermutlich als sinnlich empfunden.

“Alina?” fragte er schnell. “Ich muss mit Dr. Guyer sprechen, es ist sehr wichtig —”

“Entschuldigung”, antwortete sie, “darf ich fragen, wer da ist?”

Stimmt. “Reid hier. Ich meine Kent. Kent Steele. Null.”

“Ah, Agent Steele”, sagte sie fröhlich. “Wie schön, von Ihnen zu hören.”

“Alina, es ist dringend.”

“Natürlich.” Ihr Tonfall änderte sich sofort. “Ich sage ihm Bescheid. Warten Sie bitte einen Moment.”

Dr. Guyer war ein brillanter schweizer Neurologe, vermutlich einer der besten der Welt – und ebenfalls der Mann, der den reiskorngroßen Gedächtnishemmer vier Jahre zuvor in Nulls Kopf eingepflanzt hatte, der alle Zusammenarbeit mit der CIA aus seinem Gedächtnis entfernte. Doch Guyer hatte auf Nulls eigene Bitte hin gehandelt und später war er ebenfalls der Arzt, der die Prozedur durchführte, die sein Gedächtnis wiederherstellte, wenn auch verspätet.

Die beiden waren das letzte Jahr über sporadisch in Kontakt. Der Doktor war hocherfreut darüber, dass Nulls Erinnerungen wieder zurückgekommen waren und wollte unbedingt weitere Tests durchführen. Doch dazu brauchte es eine Reise in die Schweiz, zu der Null weder die Zeit noch Energie hatte – allerdings war er sich vollkommen bewusst, dass er ihm das schuldete. Wenn ihm überhaupt jemand sagen könnte, was in seinem Kopf vor sich ging, dann war das Guyer.

“Agent Steele”, erklang eine tiefe Stimme, die ernst genug war, um anzunehmen, dass man die gewöhnlichen Freundlichkeiten überspringen könnte. “Alina sagte mir, dass Sie besorgt klangen. Wie kann ich Ihnen helfen?”

“Dr. Guyer”, antwortete Null. “Ich brauche Hilfe. Ich bin mir nicht sicher, was passiert, aber…” Er hielt inne, als ein weiterer, schrecklicher Gedanke in ihm aufging. Was, wenn dies kein privater Anruf war? Was, wenn sie abgehört würden? Die CIA hatte seine Privatleitungen schon zuvor abgehört. Und wenn sie all dies hörten…

Du bist paranoid. Werde nicht wieder zu dieser Person.

Trotz allem, nachdem er den Gedanken erst mal im Kopf hatte, bekam er ihn nicht wieder heraus. Vorsicht war schließlich die Mutter der Porzellankiste. Er war gerade wieder zur CIA zurückgekehrt und das fühlte sich gut an. Als ob sein Leben wieder einen Sinn hätte. Bekämen sie das mit, dann könnten sich die Dinge schnell für ihn ändern – und er wollte wirklich nicht wieder die antriebslose, deprimierte Episode erleben, die er in den letzten fünfzehn Monaten ertrug.

“Agent Steele? Sind Sie noch dran?”

“Ja. Entschuldigung.” Null gab sein Bestes, um mit gleichmäßiger und gelassener Stimme hervorzubringen: “Ich… äh, mir fällt es schwer, mich an einige Dinge zu erinnern.”

“Ahaaa”, erwiderte Guyer bedacht. “Kurz- oder Langzeiterinnerungen?”

“Mehr Langzeit, würde ich sagen.”

“Und Sie glauben, dass dies… beunruhigend ist?” Guyer wählte seine Worte sorgsam. Null wunderte sich, ob der Arzt dasselbe dachte, dass ihr Anruf vielleicht abgehört wurde. Jemand wie Guyer bekäme wirklich viele Schwierigkeiten für das, was er getan hatte – sicherlich verlöre er die Lizenz als Arzt, möglicherweise erwartete ihn auch eine Haftstrafe.

“ Ich würde Ihnen diesen Besuch gerne bald abstatten”, erklärte Null ihm.

“Verstehe.” Guyer wurde still und in diesem Moment war sich Null sicher, dass der Arzt genauso vorsichtig wie er war. “Na, da haben Sie aber Glück. Sie müssen gar nicht bis in die Schweiz kommen. Nächste Woche nehme ich an einer Konferenz bei Johns Hopkins in Baltimore teil. Da kann ich mich mit Ihnen treffen. Ich bin mir sicher, dass mir einer meiner Kollegen ein Behandlungszimmer ausleiht.”

 

“Perfekt.” Endlich spürte er wirkliche Erleichterung. Er vertraute, dass der Arzt wüsste, was zu tun wäre – oder ihm zumindest erklären könnte, was in seinem Kopf vor sich ging. “Schicken Sie mir die genaue Adresse und Uhrzeit, und wir treffen uns dort.”

“Das werde ich tun. Adieu, Agent Steele.” Guyer legte auf und Null setzte sich schwer auf den Bettrand. Seine Hände zitterten und sein Schlafzimmerboden war ein Durcheinander voll Nostalgie.

Vielleicht war es ja nur ein Aussetzer, sagte er sich. Vielleicht hat mich der Traum aufgerüttelt und es war nur ein wenig Vergesslichkeit am Morgen. Vielleicht bin ich umsonst in Panik ausgebrochen.

Natürlich glaubte er all die Lügen, die er sich selbst erzählte, nicht.

Doch was auch immer in seinem Kopf geschah, das Leben ging weiter. Er zwang sich dazu, aufzustehen, zog eine Jeans und ein Hemd an. Er legte die Gegenstände wieder in die Sicherheitsbox, verschloss sie und schob sie unter das Bett.

Im Badezimmer putzte er sich die Zähne und bespritzte sein Gesicht mit etwas kaltem Wasser, bevor er durch den Gang in die Küche ging – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Maya die Ofentür schloss und den digitalen Wecker einstellte.

Null zog die Stirn in Falten. “Was ist das?”

Sie zuckte mit den Schultern und strich sich das Haar von der Stirn. “Ich stell nur den Vogel in den Ofen.”

Er blinzelte. “Du machst den Truthahn? Bringen sie euch das in West Point bei?”

Maya grinste. “Nein.” Sie hielt ihr Handy hoch. “Aber Google bringt es mir bei.”

“Na… in Ordnung, dann. Ich schätze, ich trinke besser mal etwas Kaffee.” Er war erneut erfreulich überrascht darüber, dass sie schon eine Kanne vorbereitet hatte. Maya war schon immer genauso unabhängig wie intelligent, doch das hier ging ihm schon irgendwie etwas zu weit. Er wunderte sich, ob sie sich wegen Saras Situation genauso hilflos fühlte wie er. Vielleicht wollte sie so ihre Unterstützung zeigen.

Er entschied sich deshalb dazu, sie walten zu lassen, wie sie wollte. Er nahm den Hocker an der Theke und rührte seinen Kaffee, versuchte, die unangenehmen Ereignisse des Morgens zu verdrängen. Ein paar Minuten später schlurfte Sarah in die Küche. Sie war immer noch im Schlafanzug, ihre Augen halbgeöffnet und ihr rot-blondes Haar zerzaust.

“Guten Morgen”, sagte Maya fröhlich.

“Frohes Thanksgiving”, fügte Null hinzu.

“Pffff”, grummelte Sara, während sie sich zur Kaffeemaschine schleppte.

“Immer noch ein Morgenmuffel, was Mäuschen?” neckte Maya sie sanft.

Sara grummelte etwas anderes, doch dann sah er beim Klang ihres Kindheitskosenamen den Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen. Er fühlte eine Wärme in sich, die nicht nur vom Kaffee erzeugt wurde. Das war ein Gefühl, das er für lange Zeit vermisst hatte: das Gefühl, wirklich Zuhause zu sein.

Und dann wurde der Moment durch das Klingeln seines Handys unterbrochen.

Der Bildschirm zeigte ihm, dass Maria anrief und er zuckte zusammen. Er hatte vergessen, ihr eine SMS mit der Adresse und der Uhrzeit für heute zu schicken. Dann ergriff ihn erneut Panik. Das war sehr ungewöhnlich für ihn, so etwas zu vergessen. War dies ein weiteres Symptom seines erkrankten limbischen Systems? Was, wenn er es nicht wirklich vergessen hatte, sondern es verdrängt wurde, so wie Kates Name?

Beruhige dich, befahl er sich. Das ist nur ein wenig Zerstreutheit, das ist alles.

Er atmete tief ein und ging ans Telefon. “Es tut mir leid”, sagte er sofort. “Ich sollte dir eine SMS schicken und ich habe es komplett vergessen —”

“Das ist nicht der Grund meines Anrufs, Kent.” Maria klang ernst. “Und ich bin diejenige, die dich um Entschuldigung bitten sollte. Du musst kommen.”

Er legte die Stirn in Falten. Maya bemerkte es und ahmte seinen Gesichtsausdruck nach, während er vom Hocker aufstand und die relative Privatsphäre des danebenliegenden Wohnzimmers aufsuchte. “Kommen? Meinst du nach Langley?”

“Ja. Es tut mir leid, ich weiß, dass das echt ein schlechter Moment ist, doch es gibt ein Problem und ich brauche deine Anwesenheit bei dieser Einsatzbesprechung.”

“Ich…” Sein erster Instinkt war es, sich einfach zu weigern. Nicht nur war es ein Feiertag und nicht nur kümmerte er sich weiterhin um Saras Genesung, sondern Maya besuchte ihn das erste Mal seit langer Zeit. Wenn man dazu noch den fürchterlichen Gedächtnisverlust hinzuberechnete, dann hatte Maria recht. Es könnte kein schlechterer Moment sein.

Er platzte fast heraus “Muss ich?” doch biss sich auf die Zunge, um nicht wie ein bockiges Kind zu klingen.

“Ich will das genauso wenig wie du”, sagte Maria, bevor er eine Ausrede erfinden konnte. “Und ich möchte dich auch nicht herumkommandieren.” Null verstand diesen Teil laut und klar. Maria erinnerte ihn daran, dass sie jetzt die Chefin war. “Aber ich habe keine Wahl. Das stammt nicht von mir. Präsident Rutledge hat persönlich um dich gebeten.”

“Er hat um mich gebeten?” wiederholte Null matt.

“Nun, er fragte nach,dem Typen, der den Kozlovsky Fall aufdeckte’. Reicht das?”

“Damit könnte er Alan gemeint haben”, schlug Null hoffnungsvoll vor.

Maria kicherte halbherzig, doch es klang mehr wie ein heiseres Seufzen. “Es tut mir leid, Kent”, sagte sie zum dritten Mal. “Ich versuche, das Treffen kurz zu halten, aber…”

Aber das bedeutet, dass ich auf einen Einsatz geschickt werde. Die Botschaft war eindeutig. Und schlimmer noch, es gab keine Ausrede oder Abwehr, um den Einsatz abzulehnen. Wegen dem, was er getan hatte, war er der CIA jetzt mehr denn je zuvor ausgeliefert – und er konnte kaum dem Präsident nein sagen, der schließlich der Chef des Chefs seiner Chefin war.

“OK”, gab er nach. “Gib mir eine halbe Stunde.” Er legte auf und stöhnte leise.

“Ist in Ordnung.” Er drehte sich schnell um und sah, dass Maya hinter ihm stand. Die Wohnung war nicht groß genug, um den Anruf ungehört zu beantworten. Er war sich sicher, dass sie wusste, worum es ging, obwohl sie nur seine Seite des Gesprächs gehört hatte. “Geh, tu was du tun musst.”

“Was ich tun muss”, sagte er geradeheraus, “ist hier mit dir und Sara sein. Es ist Thanksgiving, verdammt noch mal…”

“Anscheinend haben das nicht alle mitgekriegt.” Sie tat dasselbe, was er für gewöhnlich tat. Sie versuchte, die Situation mit ein wenig Humor zu zerstreuen. “Ist schon OK. Sara und ich kümmern uns um das Essen. Komm einfach zurück, wann du kannst.”

Er nickte, war ihr dankbar für ihr Verständnis und wollte noch etwas sagen, doch letztendlich murmelte er nur “Danke” und ging in sein Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Es gab nicht mehr zu sagen – denn Maya wusste genauso gut wie er, dass sein Tag vermutlich in einem Flugzeug enden würde und nicht hier mit seinen Töchtern beim Abendessen.

Kapitel sechs

Sollte jemand über die Phrase “Mittleres Amerika” sinnieren, so glichen die Eindrücke, die dabei aufkämen, erschreckend Springfield in Kansas. Das Städtchen war von sanft abfallendem Farmland umgeben. Es war ein Ort, an dem es mehr Kühe als Einwohner gab, so winzig, dass man ihn mit einem einzigen Atemzug durchfahren konnte. Manche fänden ihn idyllisch. Manche nennten ihn charmant.

Samara fand ihn widerlich.

Es gab einundvierzig Gemeinden und Städte in den Vereinigten Staaten, die sich Springfield nannten, was dieses Städtchen nicht nur unscheinbar sondern geradezu einfallslos machte. Es gab um die achthundert Einwohner und die Hauptstraße bestand aus einer Post, einer Grillkneipe, einem Tante-Emma-Lädchen, einer Apotheke und einem Futtergeschäft.

Aus all diesen Gründen und noch mehr war sie perfekt.

Samara zog sich ihr hellrotes Haar zurück in einen Pferdeschwanz, entblößte dabei die kleine Tätowierung im Nacken, das einzelne, einfache Zeichen für,Feuer’ – was Pinyin Huŏ ausgesprochen wurde. Das war auch der Nachname, den sie nach dem Überlaufen angenommen hatte.

Sie lehnte sich gegen den kommerziellen Kastenwagen und überprüfte ihre Fingernägel, wartete auf den richtigen Moment. Sie konnte von dort aus die Musik hören, Jugendliche, die schlecht spielten, während sie zum Takt einer rasselnden Wirbeltrommel marschierten. Bald kämen sie an ihrem Standort an.

Hinter ihr, im Frachtraum des Wagens, befanden sich vier Männer und die Waffe. Der Angriff auf Havanna war erstaunlich gut, sogar einfach, abgelaufen. Mit ein wenig Glück würden die kubanische und amerikanische Regierung annehmen, dass es sich um Tests hielt, doch ihre Waffe war schon reichlich getestet worden. Der Zweck des Attentats auf Havanna war weitaus mehr, es sollte Chaos erzeugen. Verwirrung sähen. Die Illusion einer rechtzeitigen Warnung schaffen, während die Mächtigen sich an den Köpfen kratzten und wunderten.

In der Nähe saß Mischa auf dem Bordstein hinter dem bunten Kastenwagen und zupfte gelangweilt an welkem Unkraut, dass sich seinen Weg durch die Risse im Asphalt gebahnt hatte. Das Mädchen war zwölf, normalerweise ernst, pflichtbewusst, leise und herrlich tödlich. Sie trug Jeans, weiße Turnschuhe und, fast komisch, einen blauen Kapuzenpulli, auf den das Wort BROOKLYN in weißen Buchstaben gedruckt war.

“Mischa.” Das Mädchen schaute auf, ihre grünen Augen waren dumpf und passiv. Samara streckte eine Faust aus und das Mädchen öffnete ihre Hand. “Es ist fast Zeit”, sagte ihr Samara auf russisch, als sie zwei Gegenstände in die kleine Handfläche legte – elektronische Ohrstöpsel, entworfen, um einer bestimmten Frequenz entgegenzuwirken.

Die Waffe an sich war unbeachtlich, sogar hässlich. Sähen sie die Waffe, so hätten die meisten keine Ahnung, was sie da anblickten, und dass solch ein Gerät überhaupt eine Waffe war – was nur zu ihrem Vorteil war. Die Frequenz wurde durch eine breite schwarze Scheibe ausgestoßen. Sie hatte einen Durchschnitt von einem Meter und war mehrere Zentimeter dick. Das erzeugte die ultra-tiefen Schallwellen in einem unidirektionalen Kegel. Der stärkste Effekt wurde in einem Bereich von etwa einhundert Metern gespürt, doch die schädlichen Auswirkungen der Waffe konnte man bis zu dreihundert Meter entfernt spüren.

Die schwere Scheibe war auf einen sich drehenden Apparat montiert, der sie nicht nur aufrecht wie eine Satellitenschüssel hielt, sondern durch den man sie auch in jegliche Richtung drehen konnte. Der Apparat war hingegen auf einen Stahlwagen mit vier dicken Reifen geschweißt, auf dem sich auch die Lithium-Ionen-Batterie befand, welche die Waffe mit Strom versorgte. Die Batterie allein wog schon dreißig Kilo. Alles zusammen, mit dem Stahlwagen, wog die Ultraschallwaffe fast hundertfünfzig Kilo, weshalb solche Waffen normalerweise auf Schiffen oder Jeeps angebracht waren.

Brächte sie jedoch ihre Waffe auf einem Fahrzeug an, so wäre sie dadurch wesentlich weniger mobil und viel auffälliger, weshalb die vier Männer im Kastenwagen notwendig waren. Jeder von ihnen war ein hoch-trainierter Kommando, aber in ihren Augen waren sie kaum mehr als glorifizierte Umzugshelfer. Wäre die Waffe leichter, einfacher bewegbar, dann hätten Samara und Mischa diesen Einsatz allein durchführen können, war sie sich sicher. Doch sie mussten das nehmen, was sie bekommen konnten und die Waffe war so kompakt wie möglich, wenn man ihre Leistungsfähigkeit bedachte.

Samara hatte sich wegen der Logistik ein paar Sorgen gemacht, doch bisher hatten sie keine Probleme damit gehabt. Sofort nach dem Attentat in Havanna hatten sie die Waffe über eine Rampe auf ein Boot gebracht, das sie nördlich nach Key West brachte. Auf dem kleinen Flugplatz wurde sie rasch auf ein Frachtflugzeug mittlerer Größe umgeladen, das sie nach Kansas City brachte. Alles war schon Wochen zuvor arrangiert, gekauft und bezahlt. Jetzt mussten sie nur noch den gründlichen Plan durchführen.

Samara schlenderte gelassen zur Ecke des Häuserblocks, während die Musik der Blaskapelle anschwoll. Jetzt konnte man sie sehen, wie sie auf sie zumarschierten. Der Kastenwagen war auf dem Bürgersteig vor dem Tante-Emma-Laden geparkt, zwei Autolängen von der Ecke entfernt, an der orangefarbene Verkehrskegel die Straße blockierten, um Platz für den Umzug zu schaffen.

Samara hatte gut recherchiert. Jedes Jahr organisierte das Gemeindecollege von Springfield einen Thanksgiving-Umzug, der von ihrer Blaskapelle angeführt wurde und einer umschweifigen Route folgte, die an einem örtlichen Park begann, sich durch das Städtchen wand und dann wieder zu ihrem Ursprung zurückkehrte. Ganz vorne schritt ein junger Tambourmajor, der einen lächerlich hohen Hut trug und einen Taktstock herzlich in einer Faust schwang. Nach der Blaskapelle marschierte das erfolglose Footballteam des winzigen Colleges, das von seinem Cheerleading Team gefolgt wurde. Hinter ihnen fuhr ein Cabrio, in dem der Bürgermeister und seine Frau saßen und dahinter die örtliche Feuerwehr. Ganz am Ende befanden sich die Mitglieder der Fakultät und der Leichtathletikverein.

 

Es war alles so übelerregend amerikanisch.

“Mischa”, sagte Samara erneut. Das Mädchen nickte kurz und steckte sich die elektronischen Stöpsel in die Ohren. Sie stand vom Bürgersteig auf und nahm eine Position in der Nähe der Fahrerkabine des Wagens ein, lehnte sich gegen die Fahrertür, um den Bereich der Frequenz zu vermeiden.

Samara zog ein Funkgerät aus ihrem Gürtel. “Zwei Minuten”, sprach sie auf russisch hinein. “Schaltet sie ein.” Sie hatte dem Team selbst russisch beigebracht und darauf bestanden, dass sie nur diese Sprache in der Öffentlichkeit benutzten.

Ein alter Mann in einem Fleecepullover zog die Stirn in Falten, als er an ihr vorbeiging. Es war etwa so seltsam russisch in Springfield, Kansas zu hören, wie einen Shar-Pei-Hund dabei zu beobachten, kantonesisch zu sprechen. Samara schielte düster zu ihm hinüber und er beeilte sich, weiterzukommen, hielt erst inne, als er die Straßenecke erreichte, um den Umzug anzusehen.

Es schien, als ob alle Einwohner zu dem Ereignis gekommen wären. Gartenstühle waren entlang mehrerer Häuserblocks aufgereiht, Kinder warteten eifrig darauf, die Süßigkeiten aufzufangen, die aus den Eimern geworfen würden.

Samara blickte über ihre Schulter zu dem Mädchen. Manchmal wunderte sie sich, ob noch ein paar Überbleibsel aus ihrer Kindheit in ihr waren. Ob sie die anderen Kindern mit einer Sehnsucht nach dem, was hätte sein können, anblickte, oder ob sie ihr fremd waren. Doch Mischas Blick blieb kalt und distanziert. Sollte es Zweifel hinter diesen Augen geben, so hatte sie gelernt, ihn expertenhaft zu verstecken.

Die Blaskapelle kam um die Ecke, die Bläser schmetterten und die Trommeln rasselten. Sie hatten Samara und dem Kastenwagen den Rücken zugewandt, als sie den Häuserblock entlangmarschierten. Junge Männer in Trikots folgten zu Fuß – es war das College-Footballteam, das Süßigkeiten in die Menge warf. Kinder sprangen hervor und bückten sich in Gruppen, um es aufzuschnappen, wie Geier, die sich auf einen Kadaver stürzen.

Ein winziger Gegenstand segelte auf Samara zu und landete in der Nähe ihrer Füße. Sie hob ihn zögernd zwischen zwei Fingern auf. Es war ein Karamellbonbon. Sie musste einfach grinsen. Was war das nur für eine unglaublich bizarre Tradition: die Kinder des reichsten Landes der Welt warfen sich auf die billigste Süßigkeit, die faul vor ihnen auf das Pflaster geworfen wurde. Sie hielt das Bonbon hoch. Ein Flimmer von Neugier huschte über Mischas junges, passives Gesicht, während sie es entgegennahm.

“Spasiba,” murmelte das Mädchen. Danke. Doch anstatt es auszupacken und es zu essen, steckte sie es in ihre Jeanstasche. Samara hatte sie gut trainiert. Sie bekäme ihre Belohnung, wenn sie sie verdient hätte.

Samara erhob das Funkgerät erneut an ihren Mund. “Beginnt in dreißig Sekunden.” Sie wartete nicht auf eine Antwort. Stattdessen zog sie sich die Ohrstöpsel an, doch ein leises, helles Geräusch summte in ihnen. Die vier Männer im Laderaum des Wagens würden den Rest erledigen. Sie mussten die Waffe nicht herausholen, sie mussten nicht einmal die Rolltür am Ende des Wagens öffnen. Die Ultraschallfrequenz war fähig, durch Stahl und Glas zu dringen. Selbst Backstein beeinträchtigte nur wenig ihre Effizienz.

Samara verschloss die Hände vor sich und stand neben Mischa, zählte still mit. Sie konnte nicht mehr die Blaskapelle oder den Applaus der Zuschauer hören, sie hörte nur den elektronischen Heulton der Ohrstöpsel. Es war komisch, so viel zu sehen, doch nichts zu hören, wie ein Fernseher, bei dem man den Ton ausgeschaltet hatte. Für einen Augenblick dachte sie an das lächerliche Sprichwort: Wenn ein Baum im Wald umfällt und niemand ist in der Nähe, um ihn fallen zu hören, macht er dann einen Laut? Ihre Waffe machte kein Geräusch. Die Frequenz war zu tief, um vom menschlichen Gehör wahrgenommen zu werden. Doch trotzdem würden Leute fallen.

Samara hörte weder die Musik noch den generellen Lärm der Menschenmenge. Sie hörte auch nicht die Schreie, als sie begannen. Doch nur Momente, nachdem sie bis null gezählt hatte, sah sie, wie Körper auf den Asphalt fielen. Sie sah, wie die Bürger von Springfield in Kansas in Panik ausbrachen, rannten, aufeinander trampelten, wie die vielen Kinder, die zuvor auf die Süßigkeiten gesprungen waren. Manche wanden sich, andere übergaben sich. Instrumente krachten zu Boden und Eimer voller Bonbons fielen um. Nicht einmal fünfundzwanzig Meter von ihr entfernt fiel ein Footballspieler auf seine Hände und Knie und spuckte einen Mundvoll Blut aus.

Es lag eine solche Schönheit im Chaos. Samaras ganze Existenz war auf Regime, Protokoll und Übung aufgebaut – doch wussten nur Wenige so gut wie sie, wie unzuverlässig all das sein konnte, wenn Chaos unvorhersehbar ausbrach. In diesen Situationen zählten nur die Instinkte. In diesem Moment wurde man sich wahrhaftig über sich selbst bewusst, wozu man fähig war. Im Chaos, das sich still vor ihren Augen auftat, traten Familien auf ihre eigenen Angehörigen. Eheleute ließen ihre Partner stehen, um sich selbst zu retten. Es herrschte Verwirrung, Körper fielen um. Die Menge würde selbst mehr Schaden untereinander anrichten, als die Waffe es ihnen antäte.

Doch sie konnten nicht dort verweilen. Sie nickte Mischa zu, die um die Fahrerkabine ging und in den Beifahrersitz einstieg, während Samara sich hinter das Steuer setzte und den Schlüssel im Zündschloss umdrehte. Doch sie warf den Motor noch nicht an. Sie blieben noch eine weitere Minute – lange genug, damit man den Schaden des Attentats wirklich verheerend fände und damit jene, die sie verfolgen würden, komplett verwirrt über die Bedeutung von Springfield in Kansas wären.