Menschen der Tiefe

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Und ich, der ich mit Kopf und Schultern meine beiden Begleiter überragte, mußte an meinen eigenen üppigen Westen und die kerngesunden Männer denken, die ich selber dort beneidet hatte. Aber dennoch: wenn ich den Knirps mit dem Mut eines Löwen betrachtete, fühlte ich, daß es solche Männer waren, die, wenn die Gelegenheit kam, Barrikaden bauten und der Welt zeigten, daß Männer noch zu sterben verstanden.

Da sagte mein anderer Begleiter, ein achtundzwanzigjähriger Mann, der eine unsichere Existenz in einer finsteren Werkstatt fristete: »Ich bin doch ein Kerl. Nicht so einer wie die andern in der Werkstatt; die haben auch Respekt vor mir. Ich wiege hundertfünfundzwanzig Pfund.«

Ich schämte mich direkt, ihnen zu erzählen, daß ich hundertfünfzig Pfund wog, und begnügte mich damit, ihn im stillen zu betrachten. Armseliger, verkrüppelter kleiner Mensch! Er hatte eine ungesunde Hautfarbe, sein Körper war gebückt und verzerrt, die Brust eingefallen, die Schultern von der langen Arbeitszeit unwiderruflich gebeugt, der Kopf saß nicht, wo er sitzen sollte, sondern hing vornüber. Ein Kerl – er?

»Wie groß bist du?« fragte ich.

»Fünf Fuß zwei Zoll«, antwortete er stolz. »Und die andern in der Werkstatt ...«

»Zeig' mir die Werkstatt«, sagte ich.

Es sollte zu dieser Zeit niemand in der Werkstatt sein, aber ich wollte sie doch gern sehen. Wir ließen die Leman-Straße liegen, bogen links in die Spitalfield-Straße ein und kamen hierauf in die Fryingpan-Gasse. Ein Haufen Kinder kroch auf dem schlüpfrigen Bürgersteig herum, wie Frösche auf dem Grunde eines ausgetrockneten Teiches.

In einer schmalen Haustür saß eine Frau mit einem Säugling an der Brust, die so entblößt war, daß es der Mutterwürde alle Heiligkeit raubte. Wir mußten über sie hinwegschreiten, um hineinzugelangen, und in dem finsteren, engen Gang hinter ihr mußten wir gleichsam durch ein Gewimmel kleiner Kinder waten, bis wir eine noch engere und finsterere Treppe erreichten. Die Treppe hatte drei Absätze, jeder drei Fuß groß und mit allerlei Abfall überhäuft.

Sieben Räume hatte dieses sogenannte Haus. In sechs von ihnen kochten und brieten, aßen, schliefen und arbeiteten über zwanzig Menschen beiderlei Geschlechts und jeden Alters. Durchschnittlich maßen die Zimmer acht Fuß nach jeder Seite, vielleicht neun nach der einen. Wir betraten den siebenten Raum, in dem fünf Mann arbeiteten. Er war sieben Fuß breit und acht lang, der Arbeitstisch nahm den größten Teil des Raumes ein. Auf diesem Tisch standen fünf Leisten, und fünfzehn Mann hatten kaum Platz genug, um zusammen zu arbeiten, denn der übrige Raum war von Pappe, Leder, Bündeln von Kappen und einer reichhaltigen Auswahl an Material zur Zusammensetzung von Oberleder und Sohlen besetzt.

Im anstoßenden Zimmer wohnte eine Frau mit sechs Kindern. In einem andern Loch wohnte eine Witwe mit ihrem sechzehnjährigen Sohn, der an Tuberkulose dahinsiechte. Die Frau verkaufte Brustbonbons auf der Straße, wie man mir erzählte, und konnte meistens nicht so viel verdienen, daß sie dreiviertel Liter Milch kaufen konnte, die der Sohn täglich haben sollte. Dieser schwache, sterbende Sohn bekam nur einmal wöchentlich Fleisch zu schmecken, und die Beschaffenheit dieses Fleisches kann man sich nicht vorstellen, wenn man nie Schweinefutter gesehen hat.

»Es ist schrecklich, wie er hustet«, meinte mein Freund. »Wir hören ihn den ganzen Tag hier, wenn wir arbeiten. Es ist ganz entsetzlich.«

In bezug auf diesen Husten und diese Brustbonbons offenbarte sich mir eine neue Gefahr, die auf die Kinder des Armenviertels lauerte.

Wenn mein Freund Arbeit hatte, schaffte er also in diesem sieben zu acht Fuß großen Zimmer. Im Winter mußte er fast den ganzen Tag Licht brennen, und die Lampe verschlechterte noch die dunstige Luft, die nie erneuert, sondern immer wieder eingeatmet wurde.

In besonders guten Zeiten konnte dieser Mann etwa dreißig Schilling die Woche verdienen.

»Aber das können auch nur die Tüchtigsten von uns«, erklärte er mir, und dann müssen wir auch dreizehn bis vierzehn Stunden täglich schuften. Du solltest nur sehen, wie wir uns abrackern. Wir triefen von Schweiß. Dir würden die Augen schmerzen, wenn du sähest, wie uns die Stifte aus dem Munde fliegen – wie aus einer Maschine. Sieh nur meinen Mund!«

Ich sah ihn an. Seine Zähne waren von dem beständigen Reiben der Metallstifte ganz abgestumpft, dazu schwarz und faulig.

»Ich putze sie,« sagte er, »sonst wären sie noch viel schwärzer.«

Er erzählte mir, daß die Arbeiter sich selbst Oberzeug, Stifte und kleinere Zutaten halten und Miete und Licht und Gott weiß was bezahlen mußten.

»Aber wie lange dauert diese Hochsaison, in der ihr ganze dreißig Schilling die Woche verdienen könnt?«

»Vier Monate«, antwortete er und erklärte mir weiter, daß sie durchschnittlich nur ein halbes bis ein Pfund wöchentlich verdienen. In dieser Woche hatte er bisher vier Schilling verdient. Und trotz allem hatte ich den Eindruck, daß er gute Arbeit leistete.

Ich sah zum Fenster hinaus, das nach dem hinteren Hof des Nachbarhauses gehen sollte. Aber es gab keinen Hof, das heißt, er war mit einstöckigen Schuppen bebaut, Viehställen, in denen Menschen wohnten. Die Dächer der Schuppen waren die reinen Misthaufen. An einigen Stellen lag der Schmutz, der aus dem zweiten und dritten Stock heruntergeworfen war, mehrere Fuß hoch. Ich konnte Fische und Knochen, Gemüse und Lumpen, alte Stiefel, Scherben und den sonstigen üblichen Abfall der menschlichen Schweinekoben unterscheiden.

»Es ist das letzte Jahr, daß wir diese Arbeit haben; jetzt schaffen sie sich Maschinen an, die uns überflüssig machen«, sagte der Arbeiter traurig, als wir wieder über die Frau mit den schamlos entblößten Brüsten hinwegschritten und uns den Weg durch das Gewimmel wertlosen jungen Lebens bahnten.

Hierauf besuchten wir die kommunalen Gebäude, die auf der Seite des Armenviertels errichtet waren, wo Arthur Morrisons »Kinder Jagos« gelebt hatten. Obwohl die Häuser jetzt mehr Bewohner als früher beherbergten, waren sie doch weit gesünder. Jetzt wohnten hier nur bessergestellte Arbeiter und Handwerker. Die früheren Bewohner waren nach andern Vierteln ausgewandert.

»Aber jetzt pass' auf,« sagte mein Freund, der so schnell arbeitete, daß es einem vor den Augen flimmern konnte, »jetzt werde ich dir die Lungen Londons zeigen. Hier ist der Spitalfield-Park.« Er sagte das Wort »Park« mit ironischer Betonung.

Der Schatten der Christuskirche fiel quer über den Spitalfield-Park, und im Schatten der Christuskirche sah ich um drei Uhr nachmittags etwas, das ich nie wieder sehen möchte. Blumen gibt es nicht in diesem Garten, der kleiner ist als mein Rosenbeet daheim. Hier wächst nur Gras. Aber rings um den Park steht ein Gitter mit eisernen Stacheln, wie man es um alle Londoner Parks findet, damit keine obdachlosen Männer und Frauen nachts im Grase schlafen können.

Als wir hineinkamen, stießen wir auf eine Frau von etwa fünfzig Jahren, die mit schleppenden Schritten dahinstolperte, während zwei sackleinene Bündel, eines vorn und eines hinten, über ihre Schulter hingen. Es war eine Vagabundin, eine heimatlose Seele, zu sehr an die Freiheit gewöhnt, als daß sie ihren wankenden Körper über die Schwelle des Armenhauses hätte schleppen wollen. Wie die Schnecke trug sie ihr Heim auf dem Rücken. In den beiden Bündeln hatte sie all ihr Eigentum, ihre Kleider und was sie sonst als Weib wertschätzte.

Wir gingen den schmalen, kiesbestreuten Weg hinab. Die Bänke zu beiden Seiten zeigten einen Haufen elender, verzerrter Menschlichkeit, der sicher einen Doré zu einem teuflischeren Fluge inspiriert haben würde, als seine Phantasie je auf der Leinwand gebar – ein Chaos von Lumpen und Schmutz, alle Arten ekelhafter Hautkrankheiten, offene Wunden, Beulen, Unanständigkeiten und lauernde Mißgestalten sowie tierische Züge.

Ein rauher Wind blies, und diese Geschöpfe schlotterten in ihren Lumpen, wie sie dalagen und schliefen oder zu schlafen versuchten. Hier sah man ein Dutzend Weiber verschiedenen Alters von zwanzig bis siebzig. Da lag ein neun Monate altes Kind und schlief auf der harten Bank, ohne Kopfkissen und ohne Decke, und keiner achtete darauf. Dort saß ein halbes Dutzend Männer, schlief aufrecht oder aneinandergelehnt; an einer anderen Stelle sah man eine Familiengruppe, ein schlafendes Kind in den Armen seiner schlafenden Mutter, während der Mann, so gut er konnte, einen ausgetretenen Schuh ausbesserte. Auf einer Bank schnitt eine Frau mit einem Messer die Fransen von ihren Lumpen, während eine andere mit Nadel und Faden einige Risse an den ihren nähte. Dicht dabei hielt ein schlafender Mann eine schlafende Frau in den Armen, etwas weiterhin lag ein Mann mit dickem Rinnsteinschmutz auf den Kleidern und schlief, den Kopf im Schoße einer Frau, die etwa vierundzwanzig Jahre alt zu sein schien und wie er schlief.

Das allgemeine Schlafen interessierte mich. Warum schliefen neun Zehntel von ihnen? Das ging mir erst später auf. Das von den Machthabern geschriebene Gesetz besagt, daß die Obdachlosen nachts nicht schlafen dürfen. Auf dem Bürgersteig am Eingang der Christuskirche, deren steinerne Säulen sich in stattlichen Reihen vom Himmel abheben, lagen die Männer reihenweise und schliefen oder träumten. Sie waren alle zu schlaff, um aufzuwachen oder neugierig zu werden, als wir kamen.

»Eine von den Lungen Londons,« sagte ich, »nein, eine faule, eine furchtbar stinkende Wunde.«

»Ach, warum hast du mich hierhergeschleppt?« fragte der warmherzige junge Sozialist voller Seelenqual und Ekel.

»Die Frau dort«, sagte unser Führer, »würde sich für drei Pence oder für zwei oder für eine Scheibe alten Brotes verkaufen.«

 

Er warf das leicht hin. Was er mehr sagen wollte, weiß ich nicht, denn unser kranker Freund rief:

»Um Himmels willen, laßt uns von hier fortkommen!«

Der Held mit dem Viktoria-Kreuz

Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es gar nicht leicht ist, Zutritt zu einem Asyl für Obdachlose zu erlangen. Ich habe es jetzt zweimal versucht, und in kurzem werde ich einen dritten Versuch machen. Das erstemal versuchte ich es um sieben Uhr, mit vier Schilling in der Tasche. Damit beging ich zwei Fehler. Erstens muß man, wenn man hinein will, von Subsistenzmitteln entblößt sein, und da man genau visitiert wird, muß man dafür sorgen, daß man wirklich kein Geld hat; vier Pence, geschweige denn vier Schilling, genügen, um disqualifiziert zu werden. Zweitens kam ich zu einer falschen Zeit. Sieben Uhr abends ist zu spät, um sich noch ein Armenhausbett zu verschaffen.

Ich muß zunächst Leuten in besseren Verhältnissen erklären, was ein Asyl für Obdachlose ist. Es ist ein Gebäude, in dem Obdachlose, bettlose, geldlose Menschen, wenn sie Glück haben, ihre müden Glieder ausruhen und am nächsten Tag die Unterkunft abarbeiten können.

Mein zweiter Versuch, in eine solche Herberge einzudringen, schien besser glücken zu wollen. Ich brach schon am Nachmittag mit dem begeisterten jungen Sozialisten und noch einem Freunde auf und hatte nur drei Pence in der Tasche. Sie begleiteten mich nach dem Asyl von Whitechapel, auf das ich von Anfang an meine Blicke gerichtet hatte. Obwohl es erst kurz nach fünf war, stand schon eine lange, traurige Reihe bis um die Ecke des Gebäudes, soweit man sehen konnte.

Sie boten einen traurigen Anblick, all diese Männer und Frauen, die in der kalten, grauen Dämmerung darauf warteten, daß das Armenhaus sie für die Nacht aufnehmen sollte, und ich gestehe, daß mir der Mut zu sinken begann. Mir fielen plötzlich eine Menge Gründe ein, daß ich eigentlich ganz anderswo hätte sein sollen. Mir ging es wie dem Knaben vor der Tür des Zahnarztes. Etwas von meinem innern Kampf muß sich wohl auf meinem Gesicht widergespiegelt haben, denn plötzlich sagte ein Leidensgefährte: »Keine Angst, es wird schon gehen.«

Ich wurde sogleich belehrt, daß sogar drei Pence ein zu großes Vermögen waren, und um jedes Hindernis zu entfernen, trennte ich mich von meinen drei Kupfermünzen. Dann verabschiedete ich mich von meinen Freunden, schlich mich klopfenden Herzens die Straße hinab und stellte mich am Ende der Reihe auf.

Einen traurigen Anblick bot dieses lange Queue armer Menschen, die schon auf der Schwelle des Todes wankten, wie traurig, kann man sich gar nicht vorstellen.

Vor mir stand ein kleiner Mann von schwerem Körperbau: gesund und frisch trotz seinem Alter, mit festen Zügen und einer Haut, die Sonne und Wind wie Leder gegerbt hatten; es stand auf seinen Zügen geschrieben und leuchtete aus seinen Augen, daß er Seemann war. Wie gut ich geraten hatte, sollte ich bald erfahren.

»Ich kann es nicht mehr aushalten«, klagte er seinem Nebenmann. »Es endet noch damit, daß ich ein Fenster zerschlage, eine von den großen Spiegelglasscheiben, dann kriege ich doch wenigstens vierzehn Tage; und dann habe ich doch ein ordentliches Bett und besseres Essen, als man hier kriegt.« Nachdenklich, traurig und resigniert, fügte er hinzu: »Dann nehmen sie mir allerdings den Tabak weg.«

»Jetzt laufe ich seit zwei Nächten auf der Straße herum«, fuhr er fort. »Letzte Nacht wurde ich bis auf die Haut durchnäßt, und man ist ja nicht mehr jung; eines Morgens werden sie wohl meinen Kadaver wegfegen können.«

Plötzlich wandte er sich zu mir um und sagte heftig: »Sorg' dafür, daß du nicht alt wirst, mein Junge. Stirb jung, sonst geht es dir, wie es mir ergangen ist. Jetzt bin ich siebenundachtzig, und ich habe meinem Lande als ein Mann gedient. Ich erhielt drei Schnüre als Dienstauszeichnung und das Viktoria-Kreuz – und dies Leben ist nun der Lohn für alles. Wenn ich nur tot wäre! Ich wünschte, ich krepierte, das könnte keinen Tag zu früh kommen.« Die Tränen begannen ihm in den Augen zu schimmern, aber ehe der andere ihm noch ein paar Trostworte gesagt hatte, begann er schon ein heiteres Seemannslied zu trällern, als ob es keine gebrochenen Herzen in dieser Welt gäbe.

Jetzt war er in Gang gekommen, und da, während wir vor der Tür der Herberge warteten, erzählte dieser Mann, der jetzt zwei Nächte auf der Straße zugebracht hatte, was ich hier berichten werde.

Er war als Knabe in die englische Marine eingetreten und hatte seinem Lande vierzig Jahre lang treu und redlich gedient. Namen, Daten, Chefs, Häfen, Schiffe, Feldzüge und Kämpfe rollten von seinen Lippen, aber ich entsinne mich ihrer nicht, denn es ist schwer, sich vor der Tür des Armenhauses Notizen zu machen. Er hatte den ersten chinesischen Krieg, wie er es nannte, mitgemacht, hatte zehn Jahre lang der ostindischen Kompagnie gedient und war wieder während des großen Aufruhrs als Marinesoldat in Indien gewesen, hatte am Kriege in Birma und am Krimkriege teilgenommen und im übrigen unter der englischen Flagge auf dem ganzen Erdball gekämpft.

Dann geschah es. Anfangs nur eine Bagatelle: Vielleicht hatte dem Leutnant das Frühstück nicht geschmeckt, oder er war am Abend spät zu Bett gekommen, oder seine Gläubiger waren zudringlich geworden, oder er hatte einen Rüffel von seinem Vorgesetzten erhalten. Genug, er war an diesem Tage schlechter Laune. Der Seemann hatte mit einigen Kameraden in der Vortakelung zu tun.

Nun muß man immer daran denken, daß der Seemann vierzig Jahre lang in der Flotte gedient, drei Schnüre für gute Führung erhalten hatte und für Auszeichnung im Kampf mit dem Viktoria-Kreuz geehrt worden war, so daß er wohl kein schlechter Seemann gewesen sein kann. Der Leutnant war gereizt und benutzte Schimpfwörter, die sich auf die Mutter des Seemanns bezogen. In meiner Knabenzeit pflegten wir uns wie kleine Teufel zu schlagen, wenn jemand in dieser Weise unsere Mutter beleidigte; und in dem Lande, aus dem ich stamme, haben viele Männer ihr Leben lassen müssen, weil sie andere derart beleidigten.

Der Leutnant gebrauchte also ein häßliches Wort gegen den Seemann, und zufällig hielt dieser gerade eine eiserne Stange in der Hand. Augenblicklich versetzte er dem Leutnant einen Schlag an den Kopf, daß er über Bord stürzte.

Und nun die eigenen Worte des Seemanns: »Mir war plötzlich klar, was ich getan hatte. Ich kannte das Reglement und sagte mir: Jetzt ist es aus mit dir, Jack, fertig, mein Junge! Und dann sprang ich kopfüber hinterher, um zu versuchen, uns beide zu ertränken. Und das wäre mir auch geglückt, wenn nicht gerade die Offiziersjolle vom Flaggschiff vorbeigekommen wäre. Wir waren beide aufgetaucht, und ich hielt ihn fest und schlug auf ihn los. Und das eben wurde mein Verhängnis. Würde ich ihn nicht geschlagen haben, so hätte ich sagen können, daß ich ihm nachgesprungen war, um ihn zu retten, als ich gesehen, was ich angerichtet hatte.«

Ein Schiedsgericht, oder wie es bei der Marine heißt, trat zusammen. Des Urteils erinnerte er sich Wort für Wort, wie er es sich immer wieder in bitteren Stunden wiederholt hatte. Und die Strafe, zu der man, um Disziplin und Respekt vor Offizieren, die nicht immer Gentlemen waren, aufrechtzuerhalten, den verurteilte, den die menschliche Natur zum Verbrecher gemacht hatte, bestand in folgendem: zum gemeinen Matrosen degradiert zu werden, alles Prisengeld, das er zugute hatte, und das Anrecht auf Pension einzubüßen, das Viktoria-Kreuz zurückzugeben, Soldat zweiter Klasse zu werden nebst fünfzig Schlägen sowie zwei Jahren Gefängnis.

»Ich wünschte, ich hätte mich damals ertränkt, weiß Gott!« schloß er, als die Reihe vorrückte und wir um die Ecke kamen.

Endlich konnten wir die Tür sehen, wo die Obdachlosen in kleinen Abteilungen eingelassen wurden, und dann sollte ich eine neue, überraschende Erfahrung machen: Da Mittwoch war, sollte keiner von uns vor Freitag morgen losgelassen werden, und – ich weiß nicht, was ihr fühlt, ihr Tabaksfreunde der ganzen Welt – in der ganzen Zeit sollten wir Tabak entbehren. Was wir bei uns hatten, sollten wir vor dem Eintritt abgeben. Es hieß, daß man es zuweilen wieder erhielt, wenn man das Haus verließ.

Der alte Seemann lehrte mich einen Trick. Er öffnete seinen Tabaksbeutel und entleerte das bißchen Inhalt in ein Stück Papier, das er dann zusammenfaltete und in einer Socke ganz unten im Schuh verschwinden ließ. Mein Tabak ging sofort denselben Weg, denn vierzig Stunden ohne Tabak ist schlimm; darin muß mir jeder Raucher recht geben. Wir rückten immer weiter vor und näherten uns langsam, aber sicher dem Eingang. Als wir ein eisernes Gitter passierten, rief der alte Seemann einem Mann auf der anderen Seite zu:

»Wieviel werden noch aufgenommen?«

»Vierundzwanzig«, lautete die Antwort.

Wir begannen eifrig zu zählen; vor uns standen vierunddreißig. Enttäuschung und Verzweiflung malten sich auf allen Gesichtern rings um uns. Es sind schlechte Aussichten, ohne einen Penny in der Tasche einer schlaflosen Nacht auf den Straßen Londons entgegenzugehen. Aber wir hofften immer noch, bis der Torwächter uns verjagte, gerade als wir alle zehn den Eingang erreicht hatten.

»Schluß!« Das war alles, was er sagte, als er die Tür zuschlug.

Wie ein Blitz schoß der alte Seemann trotz seinen siebenundachtzig Jahren fort, um zu sehen, ob es anderswo eine Chance gäbe. Ich blieb stehen und beriet mich mit einigen Männern, die sich auf derartige Herbergen verstanden. Sie meinten, es sei am besten, nach dem Arbeitshaus in Poplar, eine Stunde von hier, zu gehen, und das taten wir denn. Als wir um die Ecke bogen, sagte der eine von ihnen: »Ich hätte heute gut hineinkommen können. Um ein Uhr kam ich hier vorbei; da fingen sie gerade an, sich aufzustellen. Sie sind alle beim Aufseher gut angeschrieben, und es sind immer dieselben, die jede Nacht aufgenommen werden.«

Der Kutscher und der Zimmermann

Den Kutscher mit dem regelmäßigen Gesicht, dem Backenhart und der glattrasierten Oberlippe hätte ich in Amerika für alles mögliche halten können, vom Arbeiter bis zum gutsituierten Landmann. Der Zimmermann – ja, in ihm würde ich gleich den Zimmermann erkannt haben. Das konnte man an seiner mageren, muskulösen Gestalt, seinem scharfen, schnellen Blick und seinen Händen sehen, die das Werkzeug in siebenundvierzigjähriger Mühsal und Plackerei gekrümmt hatte. Das Unglück dieser beiden Männer war, daß sie alt geworden und daß ihre Kinder, die ihnen hätten helfen können, gestorben waren. Die Jahre hatten sie gezeichnet, und jüngere und stärkere Menschen hatten sie vom Arbeitsmarkt verdrängt.

Diese beiden, die sich unter denen befanden, die vom Asyl in Whitechapel abgewiesen waren, gingen jetzt mit mir zusammen auf dem Wege nach Poplar. Sie rechneten kaum noch auf diese Chance, aber es war die einzige; entweder Poplar oder noch eine Nacht auf der Straße. Die Frage, ob sie ein Bett erhalten würden, beschäftigte die beiden sehr, denn sie waren »bald fertig«, wie sie sagten. Der Kutscher, der achtundfünfzig Jahre alt war, hatte seit drei Nächten weder Obdach noch Schlaf gehabt, während der fünfundsechzigjährige Zimmermann fünf Nächte hindurch auf der Straße zugebracht hatte.

Oh – ihr lieben, guten Menschen mit reichlichem Fleisch und Blut, mit weichen Betten, die allabendlich in luftigen Zimmern auf euch warten – wie soll ich euch begreiflich machen, was ihr leiden würdet, solltet ihr auch nur eine einzige lange Nacht auf den Straßen Londons zubringen? Ihr würdet meinen, daß Tausende von Jahrhunderten vergingen, ehe der Morgen im Osten zu dämmern begänne; ihr würdet vor Schmerz in jeder Muskel laut weinen, ihr würdet erstaunt sein, daß ein Mensch so leiden und doch leben kann. Und wenn ihr euch auf eine Bank setztet und eure Augen vor Müdigkeit zufielen, verlaßt euch darauf, daß augenblicklich ein Schutzmann käme und euch wach rüttelte und brutal aufforderte, weiterzugehen. Man darf sich auf Bänken ausruhen, aber wenn Ruhe dasselbe wie Schlaf ist, muß man weitergehen, seinen müden Leib durch die endlosen Straßen schleppen. Wollte man in seiner Verzweiflung einsame Gassen oder dunkle Passagen suchen und sich niederwerfen, so würde sich der allgegenwärtige Schutzmann wieder zeigen. Es ist seine Arbeit, Obdachlose aufzustöbern. Wenn aber der Tag graute, und der böse Traum zu Ende wäre, so würdet ihr euch heimschleppen, um wieder zu Kräften zu kommen, und bis zu eurem Todestage würdet ihr Scharen bewundernder Freunde von diesem Erlebnis erzählen. Es würde zu einem Ereignis werden. Eure kleine achtstündige Nacht könnte zu einer Odyssee werden, und ihr selbst zu einem reinen Homer.

 

Wie anders erging es den Obdachlosen, die ich nach dem Asyl in Poplar begleitete. Und in dieser Nacht erging es fünfunddreißigtausend Frauen und Männern in London wie diesen.

Denkt nicht daran, wenn ihr gerade zu Bett gehen wollt; seid ihr so weichherzig, wie ihr sein solltet, ihr würdet vielleicht nicht gut schlafen. Alte Männer von sechzig, siebzig, achtzig Jahren, schlecht ernährt, ohne Saft und Kraft, gehen dem Tag entgegen, ohne Ruhe gehabt zu haben, wanken den Tag hindurch herum, um ein paar Brocken zu finden, bis die kalte Nacht sie wieder umfängt – und das fünf Tage und Nächte nacheinander.

Oh – ihr lieben, guten Menschen mit eurem reichlichen Fleisch und Blut, wie solltet ihr es verstehen können? Zwischen dem Kutscher und dem Zimmermann ging ich die Mile-End-Straße hinab. Die Mile-End-Straße ist ein breiter Damm, der das Herz Londons mitten durchschneidet, und hier gingen außer uns mindestens zehntausend Menschen. Ich erwähne das zum Verständnis des Folgenden.

Während wir dahinwanderten, wurden meine Kameraden bitter und verfluchten das Land. Ich fluchte mit ihnen, wie ein amerikanischer Landstreicher es getan hätte, wenn er in ein fremdes und schreckliches Land geraten wäre. Es war mir geglückt, sie glauben zu machen, daß ich Seemann war, und sie dachten, ich hätte mein Geld durchgebracht und meine Kleider verloren, wie es einem Seemann an Land so oft begegnet, und wartete jetzt auf Heuer. Das erklärte auch meine Unkenntnis von englischen Verhältnissen im allgemeinen und von Asylen im besonderen.

Der Kutscher konnte kaum mit uns Schritt halten. Er sagte, es käme daher, daß er den ganzen Tag noch nichts zu essen bekommen hätte. Aber der Zimmermann – mager und hungrig, in einem grauen, zerlumpten Überzieher, der traurig im Winde flatterte – ging mit weiten, rastlosen Schritten, ein Gang, der mich an Wölfe oder Coyoten gemahnte.

Sie hielten beide den Blick auf das Pflaster geheftet, hin und wieder bückte sich einer von ihnen und hob etwas auf. Ich glaubte, es wären Zigarren- oder Zigarettenstummel, die sie auflasen, und dachte zuerst nicht weiter darüber nach. Dann aber merkte ich, was sie vorhatten.

Sie lasen von den schleimigen, bespienen Bürgersteigen kleine Stücke Apfelsinenschalen, Äpfelschalen und Weintraubenschlauben auf, die sie verzehrten. Die Kerne zerbissen sie, um den Inhalt herauszubekommen. Sie fanden Brotkrumen, nicht größer als Erbsen, Apfelkerne, so schmutzig, daß man nicht mehr erkennen konnte, was es war, und alles steckten sie in den Mund, kauten und verschluckten es. Das geschah zwischen sechs und sieben Uhr nachmittags am 20. August im Jahre des Herrn 1902 im Herzen des größten und mächtigsten Reiches, das je in der Welt existiert hat.

Die beiden Männer sprachen miteinander. Sie waren nicht dumm, nur alt. Aber die Därme voller Rinnsteinschmutz, sprachen sie über die rote Revolution. Sie sprachen, wie Anarchisten, Fanatiker und Landstreicher sprechen würden. Und wer kann sie deshalb tadeln? Ich gestehe, daß ich trotz meinen drei guten Mahlzeiten täglich, meinem warmen Bett, zu dem ich heimgehen konnte, wenn ich wollte, meinen sozialen Anschauungen, meinem festen Glauben an Entwicklung und Veränderlichkeit aller Dinge – daß ich trotz alledem die Lust verspürte, rot wie sie zu reden. Die Toren! Es sind gar nicht Leute ihres Schlages, die Revolution machen. Und wenn sie gestorben und zu Staub verwandelt sind, was nicht sehr lange dauert, werden andere Toren von blutiger Revolution reden, während sie Abfall von dem bespienen Bürgersteig auf dem Wege von Mile End nach dem Arbeitshaus auflesen.

Da ich Ausländer und jung war, erteilten Kutscher und Zimmermann mir gute Ratschläge, ihre Worte waren klar und deutlich: ich sollte sehen, so schnell wie möglich aus dem Lande zu kommen.

»Ja, so schnell, wie Gott mir helfen wird.«

»Der Zufall kann einen Mann zum Verbrecher machen«, sagte der Zimmermann. »Sieh mich an, ich bin alt, Jüngere stehlen mir die Arbeit, meine Kleider werden immer schlechter, und das macht, daß ich schwer etwas zu tun kriege. Ich gehe ins Asyl, um ein Bett zu bekommen. Wenn ich nicht um zwei, drei Uhr nachmittags da bin, werde ich nicht hineingelassen. Du hast selbst gesehen, wie es geht. Aber wie soll ich mir Arbeit suchen? Wenn ich wirklich ins Asyl hineingelange, so behalten sie mich morgen den ganzen Tag. Ich komme erst übermorgen heraus. Was dann? Dann sagt das Reglement, daß ich in keinem Asyl im Umkreis von zehn Meilen aufgenommen werde, und ich muß mich beeilen, um rechtzeitig anderswohin zu kommen. Wann soll ich da auf die Arbeitssuche gehen? Und wenn ich jetzt nicht ins Asyl gehe, sondern versuche, etwas zu tun zu kriegen, so wird es Abend, ehe ich es weiß, und dann stehe ich da – ohne zu wissen, wo ich schlafen soll. Kein Schlaf und nichts zu essen, da soll es dann am nächsten Morgen gut gehen. Ich kann in einem Park schlafen. Gewiß. (Ich mußte an die Christuskirche beim Spitalfield-Park denken, als er das sagte.) So steht es. Ich bin alt und habe keine Aussicht, je wieder in die Höhe zu kommen.«

»Hier ist früher ein Schlagbaum gewesen«, sagte der Kutscher. »In alten Zeiten, als ich noch fuhr, habe ich hier oft Chausseegeld zahlen müssen.«

Nach einer längeren Pause sagte der Zimmermann: »Ich habe seit zwei Tagen nichts zu essen gehabt als drei Brötchen. Zwei davon aß ich gestern, das dritte heute.«

»Ich habe heute gar nichts gekriegt«, sagte der Kutscher. »Ich bin ganz elend. Meine Beine tun so weh.«

»Das Brot, das man in der Penne kriegt, ist so hart, daß man es nicht herunterkriegt, wenn man nicht einen halben Liter Wasser dazu trinkt«, sagte der Zimmermann, um mich zu warnen. Und als ich ihn fragte, was »Penne« sei, antwortete er:

»Die Penne, das ist so ein Wort, das der Pöbel gebraucht.«

Was mich am meisten erstaunte, war, daß es ein Wort wie Pöbel in seinem Wortschatz gab. Ehe wir uns trennten, hatte ich erkannt, daß seine Sprache durchaus nicht gewöhnlich war.

Ich fragte sie nach der Behandlung, die meiner wartete, wenn es mir glückte, ins Asyl in Poplar eingelassen zu werden, und ich erhielt viele interessante Auskünfte. Zuerst würde ich ein kaltes Bad erhalten, und zum Abendbrot würde ich sechs Unzen Brot und drei Teile Grütze kriegen, drei Teile sind drei Viertel eines Halblitermaßes, und die Grütze besteht aus drei Maß Hafermehl in dreieinhalb Eimern warmen Wassers verrührt.

»Und dazu Milch und Zucker und einen silbernen Löffel«, sagte ich.

»Nee, da brauchst du nicht bange zu sein. Du kannst Salz kriegen. Ich hab' schon erlebt, daß man gar keinen Löffel kriegte, man mußte den Teller hoch halten und sich die Grütze in den Mund laufen lassen. So macht man's da.«

»In Hockney bekommt man doch eine gute Grütze«, sagte der Kutscher.

»Ja, prachtvoll«, bestätigte der Zimmermann, und dann wechselten sie einen beredten Blick.

»In St. Georg ist es nur Mehl und Wasser«, sagte der Kutscher.

Der Zimmermann nickte, er war offenbar überall gewesen.

»Und was dann?« fragte ich. Ich erfuhr, daß man dann zu Bett geschickt würde.

»Es ist wohl nicht immer alles da«, berichtete der Kutscher.

»Nee, das stimmt; und das Brot kann so sauer sein, daß man es kaum runterkriegt. Anfangs konnte ich nichts davon essen, jetzt könnte ich gut zwei Portionen bewältigen.«

»Ja, und ich drei«, sagte der Kutscher. »Heut habe ich nicht einen Bissen in den Mund gekriegt.«

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