Menschen der Tiefe

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»Ach ja,« antwortete sie mir, »diese Straße ist die allerletzte. Alle andern waren noch vor acht bis zehn Jahren wie sie, und alle Bewohner waren sehr respektabel. Aber die andern haben uns verjagt. Wir in dieser Straße sind die einzigen, die noch übrig sind. Es ist schrecklich!«

Und dann setzte sie mir näher auseinander, wie die Übervölkerung gekommen war, die die Mieten in die Höhe getrieben und das Niveau herabgedrückt hatte.

»Sehen Sie, Leute wie wir sind ja nicht gewohnt, uns so zusammenpferchen zu lassen wie die andern. Wir brauchen mehr Raum. Die andern, die Eingewanderten und die allergewöhnlichsten Leute können gut zu fünf oder sechs Familien in diesen Häusern wohnen, und dann können sie natürlich zusammen mehr bezahlen als wir ... und stellen Sie sich vor, daß noch vor wenigen Jahren die ganze Nachbarschaft so nett war, wie man es nur wünschen konnte!«

Ich betrachtete sie. Hier stand ich einer Frau aus der besten englischen Arbeiterklasse gegenüber, einer Frau mit Anzeichen von Verfeinerung, aus der Klasse, die dazu verurteilt war, langsam von dem widerlichen, fauligen Menschenstrom fortgeschwemmt zu werden, den die Oberklassen aus dem inneren London vertreiben. Dort werden Banken, Fabriken, Hotels und Kontorhäuser gebaut, während die Armen obdachlos gemacht und nach Osten gedrängt werden, Woge auf Woge überschwemmt und verunreinigt Stadtteil auf Stadtteil, die bessere Arbeiterklasse wird als Pioniere zur Besetzung der Grenzen vorausgejagt oder vom Strom verschlungen – wenn nicht in der ersten Generation, dann in der zweiten und dritten.

Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Reihe an Johnny Uprights Straße kommt. Das weiß er auch selber gut.

»In einigen Jahren«, sagte er, »ist mein Mietvertrag abgelaufen. Mein Wirt gehört unserer eigenen Klasse an, er hat nie einen einzigen Mieter in seinen Häusern steigern wollen, denn dann hätten wir nicht wohnen bleiben können. Aber er kann ja jeden Tag verkaufen oder sterben; für uns ist das dasselbe – ein Wucherer bekommt das Haus, er richtet eine Werkstatt ein auf dem kleinen Stückchen Garten hinter dem Hause, wo ich meinen Weinstock gepflanzt habe, und dann vermietet er an ebenso viele Familien, wie das Haus Zimmer hat. Dann ist Johnny Upright hier erledigt!«

Und in Gedanken sah ich Johnny Upright und seine gute Frau, seine hübschen Töchter und sein schlampiges Dienstmädchen wie so viele andere Schatten durch das Dunkel gen Osten gejagt, das brüllende Großstadtungeheuer auf den Fersen.

Johnny Upright ist nicht der einzige Flüchtling. Ganz an der Grenze der Großstadt wohnen kleine Kaufleute, Geschäftsführer und tüchtige Kontoristen. Sie wohnen in kleinen, villenartigen Häusern mit kleinen Blumengärten, wo sie jedenfalls Platz haben, sich zu regen und zu atmen. Sie brüsten sich vor Stolz, wenn sie an den Abgrund denken, dem sie entgangen sind, und sie danken Gott, weil sie nicht sind wie so viele andere ... Aber seht! auf sie zu kommt Johnny Upright, das Großstadtungeheuer auf den Fersen. Die Mietskasernen schießen wie durch Zauberschlag hoch, die Gärten werden bebaut, die Villen in viele Wohnungen geteilt, und die dunkle Nacht Londons läßt ihren schwarzen Vorhang über die Szene sinken ...

Ein Mann und der Abgrund

Kann man bei Ihnen mieten?«

Ich sagte diese Worte sehr gleichgültig zu einer dicken älteren Frau, in deren schmutzigem Kaffeehaus in der Nähe von Limehouse ich saß.

»Ja, das kann man!« antwortete sie kurz. Mein Äußeres entsprach vielleicht nicht den Anforderungen, die an ihr Haus gestellt wurden.

Ich sprach nichts weiter, sondern genoß schweigend meine Scheibe Schinken und meinen dünnen Tee. Sie bewies mir auch weiter kein Interesse, bis ich bezahlen wollte und ganze zehn Schilling aus der Tasche holte. Da blieb die erwartete Wirkung nicht aus.

»Ja,« fuhr sie jetzt fort, »ich habe ein hübsches Heim, und ich glaube, es wird Ihnen gefallen. Sind Sie gerade von einer Reise zurückgekommen?«

»Was nehmen Sie für ein Zimmer?« fragte ich und ignorierte ihre Neugier völlig.

Sie sah mich mit sichtbarer Überraschung von oben bis unten an.

»Ich vermiete nie ganze Zimmer, nicht einmal an meine festen Mieter, geschweige denn an vorübergehende.«

»Dann muß ich mich wohl nach etwas anderm umsehen«, sagte ich sichtlich enttäuscht.

Aber der Anblick meiner zehn Schilling hatte seine Wirkung getan, und sie sagte:

»Ich kann Ihnen ein gutes Bett geben, und Sie schlafen mit zwei andern Männern, achtbaren und zuverlässigen Menschen, zusammen.«

»Aber ich will nicht mit andern zusammenschlafen«, wandte ich ein.

»Das brauchen Sie auch nicht, es sind drei Betten, und das Zimmer ist nicht klein.«

»Wieviel?« fragte ich.

»Zwei Schilling sechs die Woche für einen ordentlichen Menschen. Die beiden andern werden Ihnen gut gefallen, das weiß ich. Der eine arbeitet auf einem Lager, er wohnt seit zwei Jahren bei mir, und der andere seit sechs Jahren. Nächsten Sonntag werden es sechs Jahre und zwei Monate. Er ist an einem Theater angestellt,« fuhr sie fort, »er ist ein stiller, ruhiger Mann und hat in der ganzen Zeit, die er bei mir wohnt, nie einen sitzen gehabt. Er ist sehr zufrieden mit der Wohnung, er sagt, sie sei die beste, die er finden könnte. Ich beköstige sowohl ihn wie den andern.«

»Da kann er wohl noch obendrein Geld zurücklegen«, sagte ich naiv.

»Wie können Sie das glauben! Aber sonst würde sein Geld überhaupt nicht reichen.«

Meine Gedanken wanderten hin zu meinem weiten amerikanischen Westen, unter dessen unendlichem Himmel Tausende von Städten von der Größe Londons Platz hätten. Und hier war ein Mann, ein ehrlicher, zuverlässiger Mann, der sein Zimmer mit zwei andern teilte, zweieinhalb Dollar im Monat dafür bezahlte und die Erfahrung gemacht hatte, daß dies die vorteilhafteste Lebensweise für ihn war. Und hier war ich selbst – kraft der zehn Schilling, die ich in der Tasche hatte, war ich imstande, mit meinen Lumpen bei ihm einzudringen und mein Bett neben dem seinen aufzuschlagen. Die menschliche Seele ist einsam, und sie muß zuweilen wahrlich noch einsamer werden, wenn drei Betten in einem Zimmer stehen und ein vorübergehender Gast mit zehn Schilling in der Tasche sich in eines davon legen darf!

»Wie lange wohnen Sie schon hier?« fragte ich.

»Dreizehn Jahre. Und glauben Sie nicht auch, daß Ihnen die Wohnung gefallen wird?«

Während sie sprach, hantierte sie in der kleinen Küche herum, wo sie das Essen für ihre Zimmerherren bereitete. Sie war bei meinem Eintritt beschäftigt gewesen und ließ nicht einen Augenblick während der Unterhaltung von ihrer Arbeit. Sie war offenbar eine von den Frauen, die morgens um halb sechs aufstehen und spät abends zur Ruhe gehen, die bis zum Umfallen arbeiten; und der Gewinn dieses dreizehnjährigen Fleißes waren graues Haar, ärmliche Kleider, hängende Schultern, eine schlechte Figur und unaufhörliche Mühe in einem häßlichen, ungesunden Kaffeehaus in einer zehn Fuß breiten Gasse.

»Kommen Sie wieder, um es sich genauer anzusehen?« fragte sie gespannt, als ich ging.

Und als ich mich zu ihr umwandte, verstand ich ganz die Wahrheit des alten Wortes: Tugend trägt ihren Lohn in sich.

Ich trat wieder zu ihr und fragte: »Haben Sie je Ferien gehabt?«

»Ferien!«

»Ja, einen Ausflug aufs Land, um für ein paar Tage frische Luft zu schöpfen, sich richtig auszuruhen.«

»Ach, du lieber Gott!« lachte sie und hielt zum erstenmal in ihrer Arbeit inne. »Ferien? Zum Vergnügen? Wie können Sie das denken! – – Heben Sie doch die Füße!« Die letzten Worte rief sie mir scharf zu, da ich gerade über die morsche Schwelle stolperte.

In der Nähe des Westindiadocks stieß ich auf einen jungen Burschen, der traurig in das schlammige Wasser starrte. Er hatte eine Heizermütze über die Augen gezogen, und seine ganze Kleidung zeugte davon, daß er zur See gefahren war.

»He, Kamerad!« rief ich, um eine Unterhaltung einzuleiten. »Kannst du mir sagen, wie ich gehen muß, um nach Wapping zu kommen?«

»Hast du dich auf einem Viehschiff hierher gearbeitet?« fragte er. Er hatte offenbar sofort meine Nationalität entdeckt.

Und dann kam das Gespräch in Gang und wurde in einem Wirtshaus bei einigen Gläsern Halb-und-Halb fortgesetzt. Bald waren wir so befreundet, daß er, als ich einen ganzen Schilling in Kupfermünzen aus der Tasche zog und sechs Pence für Nachtlogis beiseitelegte, liebenswürdig vorschlug, lieber für das ganze Geld Bier zu trinken.

»Mein Kamerad hatte gestern Pech,« erklärte er, »und die Polente schnappte ihn. Du kannst dich also ruhig auf mich verlassen. Was meinst du dazu?«

Ich sagte ja, und als wir für einen ganzen Schilling Bier in uns hineingegossen und die Nacht in einem elenden Bett in einem jämmerlichen Hause verbracht hatten, kannte ich ihn gut. Meine geringen Erfahrungen zeigten mir, daß er auf seine Weise typisch für eine gewisse breite Schicht Londons, die am schlechtesten gestellte, war.

Er war geborener Londoner. Sein Vater war Heizer und Säufer gewesen. Das Heim seiner Kindheit waren die Straßen und die Docks. Er hatte nie lesen gelernt und es auch nie entbehrt – eine überflüssige und unnütze Beschäftigung für einen Mann in seiner Lage.

Er hatte eine Mutter und eine Unzahl schmutziger Brüder, die alle in ein paar Löchern zusammengepfercht gewesen waren, wo sie von schlechterem und weniger Essen lebten, als er im allgemeinen für sich ergattern konnte. In der Regel kam er deshalb nur heim, wenn er Pech gehabt und selbst nichts zu essen hatte. Anfangs hatte er auf den Straßen Lumpen gesammelt und gebettelt. Dann hatte er zwei Fahrten als Kajütsjunge, hierauf einige wenige Reisen als Kohlentrimmer gemacht, und jetzt war er befahrener Heizer – er hatte es so weit gebracht, wie er es in seinem Leben bringen konnte.

 

Er hatte sich auch auf seiner Laufbahn eine Lebensphilosophie geschaffen, die vielleicht häßlich und abstoßend, aber doch von seinem Standpunkt aus ganz logisch und klug war. Als ich ihn fragte, wofür er eigentlich lebte, antwortete er ohne Zögern: »Um mich zu besaufen.«

Eine Seereise – denn ein Mann muß ja leben und dafür sorgen, daß er etwas zu leben hat –, dann Abmusterung und dann ein tüchtiger Rausch. Dann folgt eine Reihe kleinerer Räusche rings in Wirtshäusern, wo man einige Kameraden wie mich mit ein paar Pfennigen in der Tasche trifft. Und wenn nichts mehr zu machen war, dann wieder zur See. So formte sich sein Dasein.

»Aber wie steht es mit Weibern?« fragte ich, als er seine Lobrede auf den Rausch als einziges Endziel des Daseins beendet hatte.

»Mit Weibern!« Er hieb das Glas hart auf den Tisch und sagte eifrig: »Von Weibern lasse ich die Finger, das hat mich das Leben gelehrt. Das lohnt sich nicht, Kamerad. Es taugt nichts. Was sollte ein Mann wie ich mit Weibern? Willst du mir das sagen? Ich denke nur an meine Mutter, das genügt – wie sie die Gören verdrosch und den Alten ärgerte, wenn er ab und zu mal heimkam. Es war ihre Schuld, sie verstand nicht, ihn glücklich zu machen. Dann denke ich noch an so viele andere Weiber. Wie behandeln sie einen armen Heizer, der mit ein paar Groschen heimkommt? Nein, was er in der Tasche hat, ist gerade genug zum Vertrinken, aber Frauenzimmer! Die nehmen ihm das Geld ab, ehe er auch nur ein einziges Glas gekriegt hat. Du kannst mir glauben, ich weiß Bescheid. Ich hab' mir die Finger verbrannt und weiß, was es wert ist. Ich sage dir, wo Frauenzimmer sind, gibt es immer Schererei – Geschrei und Prügelei und Messerstecherei, Polente und Gericht und schließlich einen Monat Zwangsarbeit – ohne Lohn, wenn du losgelassen wirst.«

»Aber Frau und Kinder,« fuhr ich fort, »ein eigenes Heim. Denk', du kommst von der Seereise heim, und kleine Kinder krabbeln dir auf die Knie, und deine Frau ist froh und glücklich und gibt dir einen Kuß, während sie den Tisch deckt, und alle Kinder wollen dich küssen, wenn sie ins Bett sollen. Der Teekessel summt, während du erzählen mußt, wo du gewesen bist, und was du gesehen hast. Und sie erzählt von all den Kleinigkeiten, die geschehen sind, während du fort warst und – –«

»Ja, quatsch' nur weiter!« rief er und ließ seine Faust schwer auf meine Schulter fallen. »Was denkst du dir eigentlich? Eine Frau, die küßt, Kinder, die krabbeln, ein Teekessel, der summt! Alles das für vier Pfund zehn Schilling monatlich, wenn du Heuer hast, und für nichts, wenn du keine Arbeit hast? Soll ich dir sagen, was du für vier Pfund zehn kriegst? – ein brummiges Weib, dreckige Gören, keine Kohlen, die den Kessel summen lassen. Der Kessel selbst im Leihhaus – das kannst du kriegen. Ich glaube, das genügt, daß du dich schnell auf See zurückwünschst. Eine Frau! Wozu? Um dich unglücklich zu machen? Kinder? Glaub' mir, es ist besser ohne das. Sieh mich an. Ich kann mein Bier trinken, wann ich will, und habe weder Frau noch Kinder, die nach Futter brüllen. Ich bin zufrieden mit meinem Bier und Kameraden wie du und Aussicht auf neue Heuer und neue Fahrt. Laß uns noch ein paar Glas trinken. Halb-und-Halb, das ist alles, woraus ich mir etwas mache.«

Ich brauche wohl kaum mehr von der Unterhaltung mit diesem nur zweiundzwanzigjährigen Burschen zu berichten. Ich glaube, seine Lebensphilosophie und die ökonomischen Ursachen, auf denen sie aufgebaut ist, hinreichend beleuchtet zu haben. Er hatte nie Heimweh gehabt. Das Wort Heim erweckte nur unangenehme Vorstellungen in ihm – die niedrigen Löhne, die sein Vater und andere Männer in entsprechenden Stellungen hatten, waren ihm Grund genug, Frau und Kinder als unangenehme Anhängsel und Ursachen zum Unglück der Männer zu verfluchen. Als unbewußter Hedonist völlig amoralisch und materialistisch, suchte er sich soviel Genuß wie möglich im Leben zu verschaffen und fand ihn im Rausch.

Jung dem Trunke ergeben, früh zum Wrack geworden; körperlich unfähig für die Arbeit eines Heizers. Rinnstein oder Arbeitshaus, und dann fertig. Er sah übrigens diese ganze Laufbahn ebenso klar vor sich wie ich. Aber sie flößte ihm keinen Schrecken ein. Von seinem ersten Atemzug an hatte seine Umgebung an seiner Verhärtung gearbeitet, und er ging seiner elenden, unabwendbaren Zukunft mit einer Kaltblütigkeit und Gleichgültigkeit entgegen, aus der ich ihn nicht zu rütteln vermochte. Und doch war er kein schlechter Mensch. Er war weder erblich verderbt, noch brutal. Er war geistig normal und hatte ungewöhnliche Körperkräfte. Seine Augen waren blau und rund, lange Wimpern beschatteten sie, und er hielt sie offen. Lachen und ein tiefer Humor lagen in ihnen. Stirn und Gesichtszüge waren im allgemeinen regelmäßig, Mund und Lippen hübsch, wenn auch schon von Bitterkeit geprägt. Sein Kinn war schwach, aber nicht zu schwach; ich habe manche Männer in höheren Stellungen mit einem unbedeutenderen Kinn gesehen. Seine Kopfform war schön. Der Kopf saß so gut auf einem vollendeten Hals, daß ich nicht über seinen Körper erstaunt war, als er sich abends entkleidete. Ich hatte viele Männer sich in Kasernen und Sportsälen entkleiden sehen, Männer mit gutem Blut und guter Erziehung, aber nie einen, der nackt vorteilhafter wirkte als dieser zweiundzwanzigjährige Trunkenbold, dieser junge Gott, der dazu verurteilt war, im Laufe von vier oder fünf Jahren vernichtet zu sein, ohne der Welt Nachkommen zu schenken und ihnen seine Körperkraft zu vererben.

Es schien Entweihung, ein solches Leben zu vergeuden, und doch mußte ich ihm recht geben, daß man sich nicht für vier Pfund zehn Schilling in dieser Stadt London verheiraten konnte, ebenso wie ich einräumen mußte, daß der Theaterarbeiter glücklicher war, wenn seine Einnahmen in einem Loch, das er mit zwei andern Männern teilte, reichten, als wenn er eine elende Familie mit ein paar Untermietern in einem billigen Zimmer zusammengepfercht und nie Geld genug gehabt hätte.

Und mit jedem Tag, der ging, wuchs meine Überzeugung, daß es ein Verbrechen ist, wenn Menschen der Tiefe sich verheiraten. Sie sind die Steine, die der große Baumeister weggeworfen hat. Das Gebäude der menschlichen Gesellschaft hat keinen Bedarf für sie. Alle Kräfte der Gesellschaft richten sich gegen sie, bis sie verschwinden. Unten in der Tiefe leben sie, schwach, töricht und unbrauchbar; wenn sie Leben schaffen, ist es so elend, daß es von selbst verschwindet. Die Welt arbeitet über ihnen, und sie können und wollen nicht teil daran haben. Außerdem braucht die Welt sie nicht. Es gibt Unzählige, die weit besser geeignet sind, zuzupacken, die sich oben am Rande festklammern und wie wahnsinnig kämpfen, um nicht hinabzugleiten.

Kurz, der Abgrund von London ist ein riesiges Schlachthaus. Jahr um Jahr schickt das Land einen Strom von starken, lebenskräftigen Menschen, aber sie vermehren sich nicht. Mit der dritten Generation sterben sie aus. Auch Autoritäten auf diesem Gebiet behaupten, daß es kaum einen einzigen Londoner Arbeiter gibt, dessen Großeltern in London geboren sind.

A. C. Pigou hat gesagt, daß die betagten Armen und der »Bodensatz«, die siebenundeinhalb Prozent von der Bevölkerung Londons ausmachen, das heißt 450 000 dieser Geschöpfe einen kläglichen Tod in der Tiefe von Londons sozialem Abgrund sterben. Und wie sie sterben, davon zeugt unter anderm folgende Notiz in einer Morgenzeitung:

Verwahrlost.

Gestern hielt Dr. Wynn Westcott in Shoreditch ein Verhör über den Tod der siebenundsiebzigjährigen Elizabeth Crews in der Oststraße Nummer 32 in Holborn ab. Alice Mathieson erklärte, die Wirtin der Verstorbenen zu sein und sie zuletzt am Montag gesehen zu haben. Die Verstorbene wohnte ganz allein. Francis Birch, der Armenvorsteher des Stadtteils, in dem die Verstorbene fünfunddreißig Jahre lang gewohnt hatte, erklärte, daß die alte Frau, als er zuletzt hingerufen worden war, in einem furchtbaren Zustand dagelegen hatte, daß Ambulanz und Träger nach ihrer Entfernung hätten desinfizieren müssen. Dr. Chase Fennell erklärte als Todesursache Blutvergiftung infolge einer Wunde, die die Verstorbene am Körper hatte, und die von Verwahrlosung und unsauberer Umgebung stammte. Das Gericht erkannte auf diese Todesursache.

Das Erschütterndste an diesem Ereignis ist die »hübsche« Art, wie das Gericht die Sache behandelt. Daß eine siebenundsiebzigjährige Frau an Verwahrlosung stirbt – optimistischer kann man es wohl nicht betrachten. Die alte Frau war also wohl selbst schuld an ihrem Tode.

Vom »Bodensatz« hat Pigou gesagt: »Entweder ist es Mangel an Körperstärke, Intelligenz oder Willenskraft oder, weil alles drei fehlt, sind sie schlechte, unwillige Arbeiter und können sich nicht selbst versorgen. Oft sind sie so minderwertig, daß sie nicht rechts und links unterscheiden können und nicht einmal die Nummer des Hauses wissen, in dem sie wohnen. Ihre Körper sind kraftlos, ihre Gefühle verkrüppelt, und sie kennen kaum ein Familienleben.«

Vierhundertfünfzigtausend sind viele Menschen. Der junge Heizer war nur einer von ihnen, und er brauchte eine ganze Weile, um das wenige zu erzählen, das er zu erzählen hatte. Ich möchte sie nicht gern alle auf einmal erzählen hören ... Ob Gott sie anhört?

Am Rande des Abgrunds

Ich empfing natürlich zuerst nur einen allgemeinen Eindruck von Ost-London. Später erfaßte ich die Einzelheiten; und hier und da fand ich in diesem Chaos von Elend auch Stellen, wo bis zu einem gewissen Grade das Glück herrschte – ganze Häuserreihen, in denen Handwerker wohnten, die ein gemütliches Familienleben führten. Abends kann man Männer in den Türen sitzen sehen, die Pfeife im Munde und Kinder auf den Knien, die Frauen schwatzend, und Scherz und Lachen gehen um. Die Zufriedenheit dieser Menschen ist geradezu auffallend; im Vergleich mit dem Elend, das sie umgibt, sind sie ja wohlhabend.

Aber dennoch ist ihr Glück rein tierischer Art, die Zufriedenheit des vollen Magens. Ihre ganze Auffassung vom Leben ist materialistisch. Sie sind schwer, träge und phantasielos. Der Abgrund scheint giftige, betäubende Gase zu entwickeln, die zum Rande aufsteigen und die droben einhüllen und töten. Religion ist ihnen unbekannt; das Unbekannte enthält weder Schrecken noch Freude für sie. Der gefüllte Wanst, die Abendpfeife sowie der übliche »Halb-und-Halb« – das ist alles, was sie vom Dasein verlangen oder träumen.

Das wäre jedoch noch nicht das Schlimmste, aber die zufriedene Schlaffheit, in die sie verfallen, ist der Zustand, der der völligen Auflösung vorangeht. Sie kennen keinen Fortschritt, der Stillstand ist dasselbe für sie wie der Sturz in den Abgrund. Vielleicht beginnen sie nur den Fall und überlassen es ihren Kindern und Enkeln, ihn zu vollenden. Die Menschen erreichen immer weit weniger, als sie fordern, und so wenig fordern diese Menschen, daß das wenige, das sie erlangen, nicht genügt, sie oben zu halten.

Im allgemeinen ist das Leben in der Stadt der menschlichen Natur zuwider, das Leben in London aber ist in dem Maße unnatürlich, daß der Durchschnittsarbeiter zugrunde gehen muß. Körper und Geist werden unaufhörlich untergraben. Sowohl körperliche wie moralische Widerstandskraft werden gebrochen, und der gute Arbeiter vom Lande wird schon in der ersten Generation in der Stadt zum schlechten Arbeiter; in der zweiten Generation hat er Unternehmungslust und Draufgängertum verloren und ist tatsächlich außerstande, dieselbe Arbeit auszuführen, die sein Vater leisten konnte – er ist auf dem Wege zum Abgrund.

Schwächt nichts anderes ihn, so bricht die Luft, die er einatmet, bald seine Widerstandskraft, so daß er nicht mehr imstande ist, die Konkurrenz mit dem frischen, lebenskräftigen Strom aufzunehmen, der ständig vom Lande nach London hastet, um zu vernichten und vernichtet zu werden.

Ohne bei den Krankheitskeimen zu verweilen, mit denen die Luft in East End geschwängert ist, will ich mich hier nur mit dem Rauche beschäftigen. Sir William Thiselton-Dyer, der Direktor des Botanischen Gartens in Kew, hat den Einfluß des Rauches auf die Pflanzen untersucht und nachgewiesen, daß nicht weniger als vierundzwanzig Tonnen festen, aus Ruß und teerhaltiger Kohlenlösung bestehenden Stoffes sich allwöchentlich auf jeder englischen Quadratmeile in und um London niederschlagen. Kürzlich entfernte man vom Gesims unter der Kuppel der St.-Pauls-Kathedrale ein festes Stück kristallisierten schwefelsauren Kalks, der sich durch die Wirkung der atmosphärischen Schwefelsäure auf den kohlensauren Kalkstein gebildet hatte. Und all diese atmosphärische Schwefelsäure muß der Londoner Arbeiter tagein und tagaus sein ganzes Leben lang einatmen.

 

Es ist unwiderlegbar, daß die Kinder im Heranwachsen zermürbt werden. Ohne Kraft und Ausdauer werden sie zu einem knieweichen, engbrüstigen, schlaffen Geschlecht, das einschrumpft und zugrunde geht in dem rohen Kampf ums Dasein mit den vom Lande herzuströmenden Horden. Eisenbahner, Fuhrleute, Omnibusführer, Getreide- und Holzträger und alle, die auf Körperkraft angewiesen sind, sind stark vom Lande gekommen; in der Polizei der Hauptstadt sind rund 12 000 Männer vom Lande gegen 3000 in London geborene.

Wenn ich die kleinen Seitengassen mit den satten Handwerkern in den Türen durchschritt, taten sie mir fast mehr leid als die vierhundertfünfzigtausend Verlorenen, die unten im Abgrund sterben. Die sterben doch, während diese hier noch die langsame vorausgehende Qual vor sich haben, die Qual, die vielleicht zwei, drei Generationen dauern kann. Und doch ist das Material gut. Es besitzt alle menschlichen Möglichkeiten. Unter den richtigen Bedingungen könnte es noch Jahrhunderte lang leben und große Männer, Helden und Meister hervorbringen, die die Welt vorwärts führen.

Ich sprach mit einer Frau, einer ausgezeichneten Repräsentantin derer, die schon aus den kleinen hübschen Seitengassen verdrängt und auf dem Wege zum Abgrund sind. Ihr Mann arbeitete als Gasmonteur und war Mitglied der Maschinistengewerkschaft; daß als Maschinist nicht viel mit ihm los war, konnte man schon daraus ersehen, daß er keine ordentliche Arbeit erhalten konnte; er besaß weder genügend Energie noch Tüchtigkeit, um sich eine feste Stellung zu schaffen oder zu halten. Das Ehepaar hatte zwei Töchter, und alle vier Familienmitglieder wohnten in ein paar Löchern, die man nur optimistisch Zimmer nennen kann, und für die sie sieben Schilling die Woche bezahlten. Sie hatten keinen Herd und mußten sich ihr ganzes Essen auf einem kleinen Gaskocher bereiten. Da sie nichts besaßen, genossen sie nicht den üblichen Kredit für ihren Gasverbrauch, sondern mußten einen Automaten haben, der ihnen ein gewisses Quantum lieferte, so oft sie ein Pennystück hineinsteckten. »Für einen Penny Gas ist im Augenblick verbraucht,« erklärte sie mir, »manchmal habe ich das Essen noch nicht halb fertig gekocht.«

Seit vielen Jahren lebten sie an der Grenze der Not. Tag für Tag waren sie halb satt von Tisch aufgestanden. Ist man erst auf dem Wege abwärts, dann zehrt schon chronische Unterernährung an den Kräften und beschleunigt die Katastrophe.

Und dabei rackerte diese Frau sich ab. Von halb fünf morgens bis in die Nacht hinein nähte sie Tuchröcke mit Ansätzen und zwei Volants für sieben Schilling das Dutzend. Tuchröcke mit Ansätzen und zwei Volants – bedenkt wohl – für sieben Schilling das Dutzend!

Der Mann mußte, um überhaupt Arbeit nehmen zu können, der Gewerkschaft angehören, und die verschlang einen Schilling sechs Pence wöchentlich. Wenn Streik war und er zu den Glücklichen gehörte, die nicht davon berührt wurden, hatte er zeitweise bis zu siebzehn Schilling an die Streikkasse der Gewerkschaft abführen müssen.

Die älteste Tochter hatte für einen Schilling sechs Pence die Woche als Lehrmädchen in einer Nähstube gearbeitet. Als die stille Zeit kam, wurde sie entlassen, obwohl ihr Lohn so niedrig angesetzt war, weil sie etwas Ordentliches lernen und hinterher fest angestellt werden sollte. Dann war sie drei Jahre bei einem Fahrradhändler gewesen, der ihr fünf Schilling die Woche gab; sie hatte einen Weg von zwei Meilen bis zu ihrer Arbeitsstelle, und wenn sie zu spät kam, wurde es ihr vom Lohn abgezogen.

Für die Eltern war das Spiel aus, sie hatten den Boden unter den Füßen verloren und rollten dem Abgrund zu. Aber die Töchter? Welche Möglichkeit hatten sie, dem Abgrund zu entgehen, der ihnen seit ihrer Geburt entgegenklaffte – unter solchen Verhältnissen, von Unterernährung geschwächt, ausgesogen, sowohl geistig wie moralisch und körperlich?

Während ich dieses niederschreibe, hallt die Luft bald seit einer halben Stunde wider von einer rücksichtslosen, rohen Schlägerei in einem Hofe, der an den meinen stößt. Als ich es zuerst bemerkte, dachte ich, es wären ein paar Hunde, die sich anbellten und knurrten; es dauerte eine Weile, bis ich mir klar darüber wurde, daß Menschen, sogar Frauen, dieses unheimliche Geräusch hervorbringen konnten. Betrunkene Frauen im Kampf! Häßlich zu denken, noch schlimmer anzuhören. Es kann etwa folgendermaßen vor sich gehen:

Zuerst ein unbestimmbares Durcheinander, bei dem man nur unterscheidet, daß eine Menge Frauen gleichzeitig aus voller Kraft ihrer Lungen durcheinander rufen; dann eine Pause, in der ein Kind weint und man ein junges Mädchen hört, das mit tränenerstickter Stimme zu Worte zu kommen sucht. Eine Frauenstimme erhebt sich plötzlich, hart und durchdringend: »Du hast mich geschlagen! Du hast mich geschlagen!« Man hört einen Schlag, der wütende Kampf nimmt seinen Fortgang.

Die Hoffenster der umliegenden Häuser sind von begeisterten Zuschauern besetzt. Das Geräusch von Schlägen, von Flüchen, die einen schauern machen können, dringt zu mir. Ich bin froh, daß ich die Kämpfenden nicht sehen kann.

Wieder eine Pause. »Du läßt das Kind in Ruhe!« Das Kind, das nur ein paar Jahre ist, schreit vor Angst. »Warte nur! Warte nur!« wird ein dutzendmal in schriller Stimme wiederholt. »Ich schmeiß dir diesen Stein an den Kopf!« Und nach dem Schrei zu urteilen, der jetzt ertönt, hat der Stein offenbar den Kopf getroffen.

Für einen Augenblick tritt Ruhe ein; eine der Kämpfenden ist offenbar kampfunfähig gemacht. Wieder kann man das weinende Kind hören, wenn auch sein Schreien vor Angst oder Erschöpfung schwächer geworden ist. Kurz darauf erheben die Stimmen sich wieder:

»Na –?«

»Na!«

»Na –?«

»Na!«

»Na –?«

»Na!«

Dann scheinen sich beide über die gegenseitige Ansicht klar geworden zu sein, und der Kampf beginnt von neuem. Die eine der Kämpfenden erlangt die Übermacht und verfolgt offenbar ihren Sieg, nach dem Mordgeschrei der andern zu urteilen. Der Schrei ertönt immer schwächer, als würde er von einem würgenden Griff zurückgedrängt.

Neue Stimmen; ein neuer Angriff von der Seite; der würgende Griff erschlafft wohl, so daß der Ruf »Mord!« wieder eine Oktave höher erklingt – wahnsinnige allgemeine Verwirrung, alle beteiligen sich am Kampfe.

In der nächsten Pause hört man eine neue Stimme, die eines jungen Mädchens: »Ich will meiner Mutter helfen«; und dann, vier- oder fünfmal hintereinander: »Ich tue, was ich will, verstehst du!« »Das möchte ich sehen!« Wieder rast der Kampf, an dem Mütter und Töchter und alle Umstehenden sich beteiligen. Meine Wirtin ruft ihre jüngste Tochter von der Hintertreppe herein, und ich denke darüber nach, welche Wirkung alles das wohl auf die moralische Auffassung des jungen Mädchens haben kann.

Ein Blick in die Hölle

Wir waren drei, die die Mile-End-Straße hinabschlenderten, und einer von uns war ein Held. Er war ein schlanker neunzehnjähriger Jüngling, so zart und fein, daß es aussah, als könne ein Kind ihn umwerfen. Er war ein junger, flammender Sozialist, im ersten Kreißen der Begeisterung und reif zum Märtyrertum. Als Redner und Leiter hatte er sich an einer Menge gefährlicher Protestversammlungen beteiligt, die zugunsten der Buren abgehalten waren und das heitere England erschütterten. Unterwegs hatte er mir erzählt, wie er verschiedentlich von dem drohenden Pöbel in Parks und Straßenbahnen belagert worden – wie er auf die Rednertribüne gestiegen war, wenn seine Parteigenossen einer nach dem andern von der Menge heruntergerissen und mißhandelt worden waren, und wie man die Kirche, in der er und drei andere Zuflucht gesucht, gestürmt hatte; inmitten eines Regens von Wurfwaffen und Scherben zerbrochener Scheiben hatten sie der Menge standhalten müssen, bis eine Abteilung Schutzleute ihnen zu Hilfe kam; er hatte von plötzlichen Kämpfen in der Dunkelheit auf Treppen, Galerien und Balkons erzählt, von zerbrochenen Fenstern, eingestürzten Treppen, heruntergerissenen Leitern und zerbrochenen Köpfen und Gliedern, und zuletzt hatte er mich angesehen und mit einem schmerzlichen Seufzer gesagt: »Wie ich euch starke Männer beneide! Ich bin so ein Knirps und tauge zu nichts, wenn es zum Kampf kommt.«