»Verlassen Sie sich auf mich.«
Corliss warf zuversichtlich den Kopf zurück und drängte sich durch die Menge.
»Wer ist dein Verteidiger?« fragte Frona.
Er schüttelte den Kopf.
»Du hast keinen?«
»Sie wollten mir einen geben. Einen früheren Rechtsanwalt aus den Staaten, Bill Brown heißt er, aber den habe ich abgelehnt. Ich weiß zu viel von ihm. Und vielleicht weiß er auch viel von mir, was ihn nichts angeht. Jetzt macht er den Staatsanwalt. Ich hätte ihn doch nicht ablehnen sollen. Es ist ein Lynchgericht, weißt du, und sie sind alle parteiisch. Auf mich haben sie es abgesehen, ich bin verloren.«
»Wenn ich nur Zeit hätte, wenn du mir nur einmal alles erzählen könntest.«
»Frona, ich bin doch unschuldig, ich habe doch nichts getan, ich hab’ doch kein Blut vergossen.«
»Nimm dich zusammen! Ich beschwöre dich! Nimm dich zusammen!«
Sie legte die Hand wieder auf seinen Arm und presste die Hand in seine Finger.
»Gregory, du hast verloren bei all diesen Männern, wenn du kein Mann bist. Du weißt ja gar nicht, wie sie das hassen, wenn ein Mann in der Gefahr weint. Sie glauben ja alle, das sei schlechtes Gewissen. Oder sie glauben noch viel Schlimmeres – um Gottes willen, Vincent, wein’ doch nicht, sie glauben ja dann, dass du ein Feigling bist. Diese Leute wissen ja nichts von Nerven! Sie wissen ja nicht, dass du nur weinst, weil du empfindlichere Nerven hast als sie.«
Inzwischen war der Zeuge in seiner Aussage schon sehr weit gekommen.
»Der fremde Doktor schlägt also mit Händen und Füßen um sich«, erzählte er. »Aber nun gehen wir ran, ich und der Pierre, und packen ihn und ziehen ihn in die Hütte herein. Er schreit und schreit, wie ein angestochenes Schwein, und steht da und schreit.«
»Wer hat geschrien?« unterbrach ihn der Mann, der als Ankläger fungierte.
»Na, er natürlich! Der da.« Der Zeuge wies auf St. Vincent. »Und nu heißt’s also Licht machen. Das war jetzt zum Beispiel gar nicht so einfach, denn erstens war die Lampe umgeworfen, und dann weiß ich ja auch gar nicht so Bescheid in dem Haus. Jetzt zeigt sich’s aber, wie gut das ist, wenn ein Mann immer eine Kerze in der Tasche hat. Und Streichhölzer natürlich auch. Tja, das kann manchmal sehr nützlich sein … Und dann hab ich Licht gemacht. Da liegt also mein Borg auf dem Fußboden, so tot, wie ein Mann nur sein kann, in seinem Alter und bei seiner Gesundheit. Und die Squaw, nämlich was dem Borg seine Frau war, die sagt, dass er es getan hat, und dann legt sie sich hin und stirbt auch.«
»Dass er es getan hat, hat sie gesagt? Wer?! Wen hat sie genannt?«
»Na, er natürlich. Er, der fremde Doktor da.« Dabei wies er mit dem dicken, schmutzigen Finger auf St. Vincents Gesicht. »Wer soll’s denn auch sonst gewesen sein?«
»Hat sie das wirklich gesagt?« flüsterte Frona ihrem Geliebten zu.
»Ja«, keuchte er zurück. »Gesagt hat sie das. Sie muss verrückt gewesen sein. Der Wahnsinn über all das, was da geschehen war. Ich verstehe es nicht, ich werde es nie verstehen …«
Der zweite Zeuge, ein kleiner Mann mit rotem Gesicht, der schon vorher in die Verhandlung eingegriffen hatte, unterwarf den ersten Zeugen einem eingehenden Kreuzverhör. Es kam aber kein Widerspruch zutage, so sehr Frona auf jedes Wort lauerte.
»Wenn Sie jetzt Fragen an den Zeugen stellen wollen, bitte …«, sagte der Vorsitzende zu Gregory. Gregory schüttelte völlig entmutigt den Kopf.
»Frag doch! Wehr dich!« drängte Frona.
»Wozu? Ich bin im voraus für schuldig erkannt. Mein Urteil war schon gefällt, als all das angefangen hat.«
»Einen Augenblick, bitte!« rief Frona mit heller fester Stimme. »Erlauben Sie, Herr Vorsitzender, erlaubt die Versammlung unserer ehrenwerten Kameraden, dass ich diesen Mann hier verteidige? Ich bin ein Mädchen, aber er hat keinen anderen Freund hier, und es gibt, glaube ich, kein Gesetz, das es verbietet.«
Es trat eine plötzliche Stille ein. Der Vorsitzende wartete auf irgendein Wort des Widerspruchs, aber da alles mit angehaltenem Atem dasaß und auf das tapfere Mädchen im Goldgräberanzug blickte, fasste er seinen Beschluss.
»Bitte, übernehmen Sie die Verteidigung, Fräulein Welse. Die Versammlung sowohl wie ich begrüßen es, dass der Angeklagte nicht mehr ohne Verteidiger ist.«
»Dann bleiben Sie noch einen Augenblick, Herr Zeuge! Wissen Sie nichts außer den letzten Worten der Indianerfrau, das zur Überführung des Mörders dienen könnte?«
Der Schwede stierte vor sich hin, als hoffte er, ihre Frage würde langsam in sein Begriffsvermögen eindringen. Er hatte sich seine ganze Aussage wohl zurechtgelegt, Schritt für Schritt und Punkt für Punkt. Aber auf Zwischenfragen, die eigenes Denken erforderten, war er nicht eingerichtet.
»Sie haben nicht mit eigenen Augen gesehen, wer es tat?« fragte sie wieder.
»Aber natürlich. Der fremde Doktor da.« Wieder hob er den anklagenden Finger. »Wenn sie doch gesagt hat, dass er es getan hat.«
Bei dieser Erklärung glitt ein Lächeln über alle Gesichter, und Frona spürte, dass sie jetzt schon Boden gewann. Immerhin war der anklagende Zeuge als ein ziemlich dummes und deshalb wenig brauchbares Instrument der Gerechtigkeit entlarvt.
»Gesehen haben Sie also nichts?«
»Schießen hab’ ich gehört.«
»Aber nicht gesehen, wer schoss?«
»Wenn ich Ihnen darauf jetzt antworten sollte, Fräulein, dann wüsste ich eigentlich nicht, was ich antworten soll. Wenn die Squaw doch nun mal gesagt hat, was sie gesagt hat, dann ist doch für jeden vernünftigen Menschen die Sache klar?!«
»Ich danke Ihnen, das genügt«, sagte Frona freundlich, und der Mann zog sich zurück.
Der Vorsitzende sah in seine Aufzeichnungen: »Pierre La Flitche!« rief er.
Ein dunkelhäutiger Mann, schlank und geschmeidig, trat mit sicheren Schritten auf das Podium neben dem Tisch, das als Zeugenbank diente. Es war ein schöner Bursche, dessen schneller, beredter Blick furchtlos von einem Gesicht zum anderen wanderte. Einen Augenblick sah er in freimütiger Bewunderung Frona an. Er lächelte, und sie nickte leise, denn er gefiel ihr, und es kam ihr vor, als sei er ein alter Freund. Auf die ersten Fragen des Vorsitzenden erklärte Pierre La Flitche, er sei nach seinem Vater genannt, der von den alten Waldläufern aus Frankreich stammte. Seine Mutter sei eine Mestize, von einem weißen Vater und einer eingeborenen Mutter. Wo er geboren sei, wisse man nicht, irgendwo bei einer Jagd. Hier in Alaska sei er seit vielen Jahren, seit er denken könne.
»Erzählen Sie so kurz wie möglich, was Sie von der Mordsache wissen.«
Er bedachte sich einen Augenblick … der Anfang war schwer zu finden.
»Im Frühling schläft sich’s gut bei offener Tür«, sagte er. Seine Stimme war klar, es lag darin etwas von dem Vogellaut der indianischen Sprache, die ein Teil seiner Vorfahren gesprochen hatte. »So habe ich auch gestern bei offener Tür geschlafen. Ich bin mein Leben lang auf der Jagd gewesen, ich schlafe nicht sehr fest. Ich höre, wenn ein Blatt zu Boden fällt, ich höre, wenn ein Wind sich erhebt. Ich schlafe, aber meine Ohren flüstern mir zu, was draußen geschieht. Die ganze Nacht über flüstern meine Ohren. Da brauchte nur der erste Schuss zu fallen, und schon bin ich draußen vor der Tür.«
St. Vincent flüsterte Frona zu. »Es war nicht der erste Schuss.«
Sie nickte, ohne den Blick von La Flitche abzuwenden, der seine Aussage höflich unterbrochen hatte.
»Ein Schuss, dann still … dann noch zwei Schüsse schnell nacheinander«, fuhr er fort. »So: bum … bum bum. ›Borgs Hütte‹, sage ich mir und laufe den Weg hinab. Borg macht Bella tot, habe ich gedacht und war sehr traurig. Bella ist ein schönes Mädchen gewesen«, vertraute er den Zuhörern mit traurigem Lächeln an, »ich habe Bella gern gehabt. Vielleicht kann ich helfen, habe ich zu mir gesagt, und bin so rasch gelaufen, wie man kann. Da kommt auch John aus seiner Hütte heraus, ein bisschen besoffen, meine Herren Richter, und mit viel Lärm. ›Was gibt es?‹ sagt er, und ich sage: ›Das werden wir gleich sehen.‹ Und da kommt etwas – hurr – aus dem Dunkel heraus, so ›Hurr‹ – – und wirft John um und wirft mich beinahe auch um. Ich greife danach, und John, der auf dem Boden liegt, greift nach seinen Beinen, und dieser Mann da war es. Er ruft ›Oh! Oh! Ooh!‹, genau so. Er ist nur halb angezogen – wir halten ihn fest, und dann kommt John auf die Beine, und dann sage ich ›komm mit zurück‹.«
»War es wirklich dieser Mann da auf der Anklagebank?«
La Flitche sah sich noch einmal Gregory St. Vincent an, als gäbe es auch für ihn noch den geringsten Zweifel: »Dieser Mann war es!«
»Er will nicht mit uns zurückgehen. Aber John und ich sagen ›du gehst …‹, und er geht.«
»Sagte er etwas?«
»Ich fragte ihn, was geschehen ist – ich habe ihm viele Fragen gesagt. Aber er ruft nur immer ›Oh! Oh! Oh! Oh! Oh!‹ und weint.«
»Ist Ihnen noch etwas aufgefallen?«
»Ah, ja, Blut an seinen Händen.«
Durch die Reihen lief ein erregtes Murmeln, aber der Zeuge fuhr fort zu erzählen. Seine Mienen und seine Gesten begleiteten die ganze Erzählung mit der Ausdruckskraft des Naturmenschen.
»John macht Licht mit der Kerze, die er in seiner Tasche hat, und da liegt Bella auf dem Boden! Bella stöhnt wie eine Robbe, wenn sie einen Schuss durch den Leib hat. Und in der Ecke liegt Borg. Ich sehe ihn an … er atmet gar nicht. Da schlägt Bella die Augen auf, und ich sehe hinein, und da weiß ich, dass sie mich erkennt. Sie hat gleich gewusst, dass ich der Pierre bin. ›Wer hat es getan, Bella?‹ frage ich. Da dreht sie den Kopf herum und flüstert, ach, so leise, so langsam: ›Ihn tot?‹ Ich weiß, dass sie Borg meint, und ich sage: ›Ja.‹ Da stützt sie sich auf einen Ellbogen und sieht sich um. Wie sie den Mann da sieht, sucht sie nicht mehr weiter und rührt sich nicht mehr. Nur immer angesehen hat sie ihn, immer nur ihn. Und dann hat sie noch einmal die Hand hochgehoben und hat auf ihn gezeigt und hat gesagt: ›Ihn!‹«
La Flitche ahmte jede Bewegung der sterbenden Bella nach. Als sein Finger jetzt auf den Angeklagten wies, zitterte er, wie die Hand der Sterbenden gezittert hatte: »Sie sagt nur: ›Ihn! Ihn! Ihn!‹, und ich frage wieder: ›Bella, wer hat es getan?‹, und sie sagt wieder: ›Ihn! Ihn! Ihn!! St. Vincent ihn tun es getan.‹ Und dann …«
La Flitche ließ seinen Kopf kraftlos auf die Brust sinken und ahmte das Verröcheln Bellas nach, bis zum letzten matten Hauch. Dann richtete er sich plötzlich wieder auf, stand in seiner natürlichen, aufrechten Haltung da, und seine weißen Zähne blitzten, als er schloss: »Bella tot.«
Der Ankläger stellte die üblichen Fragen, die natürlich nur dazu dienen sollten, die Aussagen des Belastungszeugen zu erhärten.
»Was wissen Sie von dem Kampf, der vorausgegangen ist? Der schwere Tisch war doch zerschmettert, der Ofen umgeworfen?«
»Es sah schrecklich aus«, bekräftigte La Flitche. »Nie in meinem Leben hab’ ich so etwas gesehen.«
Brown überließ mit einer Verbeugung Frona das Verhör, und sie dankte ihm mit ihrem liebenswürdigsten Lächeln. Es schien ihr gut, mit dem Gegner auf möglichst freundschaftlichem Fuß zu stehen, und sie wusste genau, was das Lächeln einer jungen Frau in dieser Versammlung bedeutete. Im Grunde wollte sie die Verhandlung nur hinziehen, bis ihr Vater kam. Ihr galt es bei jeder Frage nur, Zeit zu gewinnen, Zeit, Zeit, Zeit! Endlich musste eine Vertagung eintreten, und dann konnte sie Gregory unter vier Augen sprechen. Er war so verängstigt, so bis in die letzten Nerven zerstört, dass es jetzt unmöglich war, Einzelheiten aus ihm herauszuholen. So stellte sie an La Flitche eine unendliche Reihe von Fragen, aber nur bei zwei Antworten kam ein neues Moment an den Tag.
»Sie sprachen von einem ersten Schuss, Herr La Flitche. Aber die Wände einer Blockhütte sind sehr dick. Glauben Sie, Sie hätten bei geschlossener Tür einen Schuss gehört?«
Er schüttelte den Kopf. Seine dunklen Augen verrieten ihr, dass er schon wusste, wo sie ihn festzunageln trachtete.
»Also, Herr Zeuge, wenn Sie vom ersten Schuss sprechen, so meinen Sie nicht den ersten Schuss, der gefallen ist, sondern den ersten, den Sie gehört haben?«
Wieder nickte er. Sie hatte schon den Eindruck seiner Zuverlässigkeit um eine Spur geschwächt, aber sie wusste selbst noch nicht recht, wohin das führen sollte.
»Sie sagen, dass es sehr dunkel war?«
»Ah, ja, ganz dunkel!«
»Wie konnten Sie sofort wissen, dass es John war, den Sie zuerst trafen?«
»John macht viel Lärm, wenn er läuft. Ich kenne seinen Lärm genau.«
»Aber Ihre Augen haben Ihnen nicht gesagt, ob es John war oder ein anderer Mann, der beim Laufen Lärm macht.«
»O nein!«
»Dann frage ich Sie eins, Herr Zeuge, und ich bitte Sie, sich die Antwort sehr genau zu überlegen! Wie konnten Sie wissen, dass an den Händen von Herrn St. Vincent Blut war?«
Er zeigte mit einem Lächeln seine blendenden Zähne und dachte keine Sekunde über die Antwort nach.
»Wie? Ich fühle etwas Warmes an seinen Händen. Was kann das sein? Meine Nase sagt mir alles. Den Rauch vom Jagdlager weit fort … Das Loch, wo ein Kaninchen sich versteckt … Die Fährte, die ein Elch gezogen hat.«
Er warf den Kopf zurück, mit einem gespannten Ausdruck, mit geschlossenen Augen und zitternden Nüstern zeigte er, wie alle anderen Sinne eines Jägers ruhen, der sich ganz auf die Wahrnehmungen seiner Nase verlässt. Dann öffnete er die Augen wieder und betrachtete Frona fast traurig.
»Ich rieche Blut an seinen Händen, warmes Blut, ich rieche das heiße Blut an seinen Händen.«
»Dafür kennen wir ihn! Die beste Nase von Klondike!« rief ein Mann aus der Versammlung.
Frona warf unwillkürlich einen Blick auf St. Vincents Hände und bemerkte mit Entsetzen rostbraune Flecken auf den Manschetten seines Flanellhemdes.
Als der Zeuge abgetreten war, tat der Ankläger Bill Brown ein paar Schritte auf Frona zu und reichte ihr die Hand.
»Ich freue mich, einen so sympathischen Verteidiger begrüßen zu dürfen.«
Sie zeigte ihm ihr liebenswürdigstes Lächeln, aber dann fragte sie rasch:
»Ist das vornehm, wie man uns behandelt? Sagen Sie selbst, als Gegner, muss man uns nicht Zeit lassen, die Verteidigung vorzubereiten? Ich weiß doch nichts von der Sache, als was Ihre beiden Zeugen vorgebracht haben. Als gerechter und vornehmer Gegner, Herr Brown, finden Sie nicht, man müsste die Verhandlung bis morgen aussetzen? Wollen Sie Ihr Plädoyer gegen einen Mann führen, der keine Gelegenheit hatte, sich so zu verteidigen, wie es jedes Gesetz verlangt?«
Er sah auf die Uhr und sagte nachdenklich: »Das ist keine schlechte Idee. Außerdem ist es schon fünf Uhr, wir müssen alle an unser Nachtessen denken.«
Wie sie ihm dankte! So kann, ohne ein Wort zu sprechen, nur eine Frau danken. Er sah ihr in die Augen und fühlte sich mehr belohnt als durch viele Worte. Dann trat er auf seinen Platz zurück und wandte sich an die Versammlung:
»Nach Beratung zwischen Ankläger und Verteidiger, in Anbetracht der vorgerückten Zeit, angesichts der Tatsache, dass die Verhandlung heute zu keinem gerechten Abschluss mehr gebracht werden kann, beantrage ich die Vertagung auf morgen Vormittag.«
»Dem Antrag wird stattgegeben«, erklärte der Vorsitzende, als kein Protest sich erhob. Dann stieg er von seinem Richterstuhl herab und machte sich eilig daran, das Feuer zu schüren und Kessel zuzusetzen. Er war ein Bewohner dieser Hütte und hatte an diesem Tag Küchendienst.
*
»Ich kann dir nichts erklären, Frona«, sagte Vincent, als sie jetzt unter vier Augen waren. »Ich fühle, dass mein Verstand stillsteht. Du musst mir einfach glauben, dass ich unschuldig bin. Schwöre mir, Frona, dass du mir glaubst!« In ihrem Gesicht flammte das Blut auf.
»Du bist ein Mann und musst dich wehren! Was nützt es dir, wenn ich an deine Unschuld glaube? Du musst mir Waffen geben, um dich zu verteidigen! Vor allem musst du dich selbst verteidigen! Nicht einen Schritt darfst du freigeben ohne Kampf!«
»Mit mir ist es aus, Frona!«
»Nichts ist aus, solange man kämpft! Erzähle mir alles.«
»Sie hat gelogen, Frona. Diese Unglückliche, diese Bella, sie hat gelogen! Vielleicht ist sie wahnsinnig gewesen. Aber wie konnte sie mich beschuldigen! Ich habe doch für sie und Borg gekämpft – und wie ich gekämpft hab’! Nein, sie war wahnsinnig.«
»Fang beim Anfang an, Vincent! Ruf dir alles ins Gedächtnis zurück. Jeden Schritt muss ich wissen. Da … ich hol’ dir Wasser … dreh dir eine Zigarette, komm, Lieber, das wird dir guttun. Dass deine Lippen nicht mehr so beben! Jetzt brauchst du alle Kraft. Nimm dich zusammen.«
Er setzte sich zurück und rauchte. Fronas machtvollem Zuspruch war es wirklich gelungen, seine Gedanken wieder in klarere Bahnen zu bringen.
»Es muss gegen ein Uhr nachts gewesen sein. Ich schlief. Auf einmal bin ich aufgewacht. Jemand hat die Lampe angezündet. Ich dachte, dass es Borg wäre. Das geht mich nichts an, dachte ich, und wollte wieder einschlafen. Auf einmal waren zwei fremde Männer in der Hütte. Beide trugen Masken. Sie hatten die Ohrenklappen heruntergezogen. Ich konnte nichts sehen als ihre Augen. Da ist eine Gefahr, dachte ich. Das war alles, was ich im ersten Augenblick dachte. Eine Sekunde lang blieb ich ganz still liegen und überlegte. Borg hatte sich meine Pistole geliehen, ich hatte keine Waffe. Mein Gewehr stand an der Tür. Ich muss zu meinem Gewehr, das war mir klar. Ganz leise setze ich den Fuß auf den Boden, aber da dreht der eine Mann sich zu mir um und knallt seinen Revolver ab. Das war der erste Schuss, weißt du, der, den La Flitche nicht gehört hat. Dann ging der Kampf los, dabei wurde die Tür aufgerissen, und so kam es, dass er die drei letzten Schüsse gehört hat. Der Mann stand mir ganz nah; ich bin so plötzlich aus der Koje herausgesprungen, so unerwartet, dass sein Schuss fehlging. Dann haben wir uns gepackt, dann wälzten wir uns auf der Erde. Plötzlich war Borg dabei, aber der andere Mann griff ihn und Bella an. Dieser andere Mann, der war es, der sie beide ermordet hat. Mein Gegner hatte mit mir genug zu tun, und ich … ich … Himmel, war das ein Kampf! Du hast gehört, was der eine Zeuge gesagt hat, wie die Hütte zerstört war. Wir haben uns gewälzt und miteinander getobt, bis der Tisch und die Stühle und alles zerschlagen war. Ach, Frona, es war schrecklich. Dieser Borg hat sein Leben auch nicht billig verkauft, und Bella hat ihm tapfer geholfen. Sie war gleich verwundet und hat laut gestöhnt. Aber ich konnte ihnen nicht beistehen. Der Kerl, mit dem ich zu tun hatte, war nicht so leicht unterzukriegen. Aber endlich war ich doch der Stärkere. Ich hatte ihn auf den Rücken gekriegt, mit meinen Knien lag ich fest auf seinen Armen und hatte die Hand an seiner Kehle, fest, fest genug! Aber da war der andere Mann mit seiner Arbeit fertig geworden, und jetzt fiel er auch über mich her. Was soll ich tun? Einer gegen zwei! Und ich war doch ganz am Ende, keinen Wind mehr in der Lunge, ganz am Ende … Sie schmetterten mich in eine Ecke, dass mir der Schädel dröhnte, und dann sind sie entkommen. Ein paar Minuten habe ich gebraucht, bis ich wieder zu mir kam. Ich war so von Sinnen, dass ich ihnen dann nachgerannt bin, ohne Waffe, wie ein Selbstmörder. Dass ich selbst in Verdacht kommen könnte, daran habe ich ja gar nicht gedacht. Aber ich wollte diese Verbrecher nicht entfliehen lassen. Sie sollten ihre Strafe finden. Dabei bin ich auf La Flitche und John gestoßen, und dann … dann weißt du ja alles. Nur das!« stieß er heraus, halb brüllend, halb schluchzend, und dabei schlug er sich mit der Faust vor die Stirn – »nur das begreife ich nicht, und das werde ich nie begreifen: warum Bella mich angeklagt hat! Mich! Mich!!«
Er sah sie flehend an, sie rang die Hände. Es war ihr, als tastete sie mit verbundenen Augen durch eine Wildnis.
»Denk nach, Gregory! Denk nach! Es muss dir noch etwas einfallen. Das sind ja alles keine Beweise. Ich glaube dir’s, aber sie glauben dir nicht …«
»Frona, ich bin doch unschuldig! Ich bin kein Heiliger gewesen, mein Leben lang. Oft bin ich kein guter Mensch gewesen, das weiß ich. Ein Sünder! Ein Sünder! … Aber schau dir diese Hände an: glaubst du, dass diese Hände mit Blut befleckt sind? Frona, du kannst doch nicht denken, dass ich ein Mörder bin.«
»Das Blut auf deinem Ärmel spricht gegen dich.«
»Bedenk doch, die ganze Hütte hat von Blut gedampft! Ich sage dir, von Blut gedampft! Ich habe um mein Leben gekämpft. Wir haben uns durch die ganze Hütte durchgewälzt, aus einer Ecke in die andere, aus einer Blutlache in die andere! Wenn du mir auf mein heiliges Ehrenwort nicht glauben kannst …«
»Gregory, wenn ich es wäre, die das Urteil über dich zu sprechen hätte, dann wärst du jetzt schon frei und rein von jedem Verdacht und könntest von dannen gehen. Aber diese Männer … Du hast keine Zeugen. Die Worte einer sterbenden Frau sind ihnen tausendmal heiliger als die eines lebenden Mannes und noch dazu eines Fremden, eines Mannes, der nicht zu ihnen gehört. Du musst doch einen Grund dafür finden, dass die unglückselige Frau mit einer Lüge auf den Lippen gestorben ist! Hat sie dich gehasst? Hast du ihr oder ihrem Manne etwas zuleide getan?«
Der Mann sank mutlos in sich zusammen, mit eingefallener Brust und hängenden Schultern. Angstbebend klebt er wieder an seinem Stuhl.
»Dann bin ich verloren. Dann werden sie mir morgen den Strick um den Hals legen und mich aufhängen. Frona, ich bin verloren!«
»Sie werden dich nicht hängen! Ich werde es nicht erlauben!«
»Was kannst du tun? Was kannst du denn tun? Du kannst gar nichts tun! Sie haben das Gesetz an sich gerissen, mit Gewalt, sie haben die Macht.«
»Gregory, das Eis auf dem Fluss ist aufgebrochen! Man kann wieder fort! Man kann fliehen! Diese Insel ist kein Gefängnis mehr! Und dann, der Gouverneur oder der Bezirksrichter … sie können jeden Augenblick eintreffen, mit einer Abteilung Polizei! Sie werden einschreiten. Das ist ja alles kein richtiges Gericht. Das darf ja nicht sein. Aber auch wenn Sie nicht kommen … Flucht! Flucht!«
»Es ist unmöglich. Es ist unmöglich! Wir sind zwei, und sie sind viele!«
»Aber mein Vater! Und der Baron Courbertin! Wir sind vier – vier tapfere Menschen, die zusammenhalten, die sind stärker als die ganze Welt, Vincent! Verlass dich auf mich! Verlass dich auf uns!«
Sie küsste ihn und weinte über sein Gesicht, ihre Tränen tropften in seinen offenen Mund. Sie flüsterte ihm all ihre Leidenschaft und ihre Liebe und ihre Kraft zu. Aber er war ein zerbrochener Mensch, und kein Strahl von Hoffnung regte sich in seinem Herzen.
»Verloren, Frona, verloren.«