Jack London – Gesammelte Werke

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»Ver­las­sen Sie sich auf mich.«

Cor­liss warf zu­ver­sicht­lich den Kopf zu­rück und dräng­te sich durch die Men­ge.

»Wer ist dein Ver­tei­di­ger?« frag­te Fro­na.

Er schüt­tel­te den Kopf.

»Du hast kei­nen?«

»Sie woll­ten mir einen ge­ben. Ei­nen frü­he­ren Rechts­an­walt aus den Staa­ten, Bill Brown heißt er, aber den habe ich ab­ge­lehnt. Ich weiß zu viel von ihm. Und viel­leicht weiß er auch viel von mir, was ihn nichts an­geht. Jetzt macht er den Staats­an­walt. Ich hät­te ihn doch nicht ab­leh­nen sol­len. Es ist ein Lyn­ch­ge­richt, weißt du, und sie sind alle par­tei­isch. Auf mich ha­ben sie es ab­ge­se­hen, ich bin ver­lo­ren.«

»Wenn ich nur Zeit hät­te, wenn du mir nur ein­mal al­les er­zäh­len könn­test.«

»Fro­na, ich bin doch un­schul­dig, ich habe doch nichts ge­tan, ich hab’ doch kein Blut ver­gos­sen.«

»Nimm dich zu­sam­men! Ich be­schwö­re dich! Nimm dich zu­sam­men!«

Sie leg­te die Hand wie­der auf sei­nen Arm und press­te die Hand in sei­ne Fin­ger.

»Gre­go­ry, du hast ver­lo­ren bei all die­sen Män­nern, wenn du kein Mann bist. Du weißt ja gar nicht, wie sie das has­sen, wenn ein Mann in der Ge­fahr weint. Sie glau­ben ja alle, das sei schlech­tes Ge­wis­sen. Oder sie glau­ben noch viel Schlim­me­res – um Got­tes wil­len, Vin­cent, wein’ doch nicht, sie glau­ben ja dann, dass du ein Feig­ling bist. Die­se Leu­te wis­sen ja nichts von Ner­ven! Sie wis­sen ja nicht, dass du nur weinst, weil du emp­find­li­che­re Ner­ven hast als sie.«

In­zwi­schen war der Zeu­ge in sei­ner Aus­sa­ge schon sehr weit ge­kom­men.

»Der frem­de Dok­tor schlägt also mit Hän­den und Fü­ßen um sich«, er­zähl­te er. »Aber nun ge­hen wir ran, ich und der Pier­re, und pa­cken ihn und zie­hen ihn in die Hüt­te her­ein. Er schreit und schreit, wie ein an­ge­sto­che­nes Schwein, und steht da und schreit.«

»Wer hat ge­schri­en?« un­ter­brach ihn der Mann, der als An­klä­ger fun­gier­te.

»Na, er na­tür­lich! Der da.« Der Zeu­ge wies auf St. Vin­cent. »Und nu heißt’s also Licht ma­chen. Das war jetzt zum Bei­spiel gar nicht so ein­fach, denn ers­tens war die Lam­pe um­ge­wor­fen, und dann weiß ich ja auch gar nicht so Be­scheid in dem Haus. Jetzt zeigt sich’s aber, wie gut das ist, wenn ein Mann im­mer eine Ker­ze in der Ta­sche hat. Und Streich­höl­zer na­tür­lich auch. Tja, das kann manch­mal sehr nütz­lich sein … Und dann hab ich Licht ge­macht. Da liegt also mein Borg auf dem Fuß­bo­den, so tot, wie ein Mann nur sein kann, in sei­nem Al­ter und bei sei­ner Ge­sund­heit. Und die Squaw, näm­lich was dem Borg sei­ne Frau war, die sagt, dass er es ge­tan hat, und dann legt sie sich hin und stirbt auch.«

»Dass er es ge­tan hat, hat sie ge­sagt? Wer?! Wen hat sie ge­nannt?«

»Na, er na­tür­lich. Er, der frem­de Dok­tor da.« Da­bei wies er mit dem di­cken, schmut­zi­gen Fin­ger auf St. Vin­cents Ge­sicht. »Wer soll’s denn auch sonst ge­we­sen sein?«

»Hat sie das wirk­lich ge­sagt?« flüs­ter­te Fro­na ih­rem Ge­lieb­ten zu.

»Ja«, keuch­te er zu­rück. »Ge­sagt hat sie das. Sie muss ver­rückt ge­we­sen sein. Der Wahn­sinn über all das, was da ge­sche­hen war. Ich ver­ste­he es nicht, ich wer­de es nie ver­ste­hen …«

Der zwei­te Zeu­ge, ein klei­ner Mann mit ro­tem Ge­sicht, der schon vor­her in die Ver­hand­lung ein­ge­grif­fen hat­te, un­ter­warf den ers­ten Zeu­gen ei­nem ein­ge­hen­den Kreuz­ver­hör. Es kam aber kein Wi­der­spruch zu­ta­ge, so sehr Fro­na auf je­des Wort lau­er­te.

»Wenn Sie jetzt Fra­gen an den Zeu­gen stel­len wol­len, bit­te …«, sag­te der Vor­sit­zen­de zu Gre­go­ry. Gre­go­ry schüt­tel­te völ­lig ent­mu­tigt den Kopf.

»Frag doch! Wehr dich!« dräng­te Fro­na.

»Wozu? Ich bin im vor­aus für schul­dig er­kannt. Mein Ur­teil war schon ge­fällt, als all das an­ge­fan­gen hat.«

»Ei­nen Au­gen­blick, bit­te!« rief Fro­na mit hel­ler fes­ter Stim­me. »Er­lau­ben Sie, Herr Vor­sit­zen­der, er­laubt die Ver­samm­lung un­se­rer eh­ren­wer­ten Ka­me­ra­den, dass ich die­sen Mann hier ver­tei­di­ge? Ich bin ein Mäd­chen, aber er hat kei­nen an­de­ren Freund hier, und es gibt, glau­be ich, kein Ge­setz, das es ver­bie­tet.«

Es trat eine plötz­li­che Stil­le ein. Der Vor­sit­zen­de war­te­te auf ir­gend­ein Wort des Wi­der­spruchs, aber da al­les mit an­ge­hal­te­nem Atem da­saß und auf das tap­fe­re Mäd­chen im Gold­grä­be­r­an­zug blick­te, fass­te er sei­nen Be­schluss.

»Bit­te, über­neh­men Sie die Ver­tei­di­gung, Fräu­lein Wel­se. Die Ver­samm­lung so­wohl wie ich be­grü­ßen es, dass der An­ge­klag­te nicht mehr ohne Ver­tei­di­ger ist.«

»Dann blei­ben Sie noch einen Au­gen­blick, Herr Zeu­ge! Wis­sen Sie nichts au­ßer den letz­ten Wor­ten der In­dianer­frau, das zur Über­füh­rung des Mör­ders die­nen könn­te?«

Der Schwe­de stier­te vor sich hin, als hoff­te er, ihre Fra­ge wür­de lang­sam in sein Be­griffs­ver­mö­gen ein­drin­gen. Er hat­te sich sei­ne gan­ze Aus­sa­ge wohl zu­recht­ge­legt, Schritt für Schritt und Punkt für Punkt. Aber auf Zwi­schen­fra­gen, die ei­ge­nes Den­ken er­for­der­ten, war er nicht ein­ge­rich­tet.

»Sie ha­ben nicht mit ei­ge­nen Au­gen ge­se­hen, wer es tat?« frag­te sie wie­der.

»Aber na­tür­lich. Der frem­de Dok­tor da.« Wie­der hob er den an­kla­gen­den Fin­ger. »Wenn sie doch ge­sagt hat, dass er es ge­tan hat.«

Bei die­ser Er­klä­rung glitt ein Lä­cheln über alle Ge­sich­ter, und Fro­na spür­te, dass sie jetzt schon Bo­den ge­wann. Im­mer­hin war der an­kla­gen­de Zeu­ge als ein ziem­lich dum­mes und des­halb we­nig brauch­ba­res In­stru­ment der Ge­rech­tig­keit ent­larvt.

»Ge­se­hen ha­ben Sie also nichts?«

»Schie­ßen hab’ ich ge­hört.«

»Aber nicht ge­se­hen, wer schoss?«

»Wenn ich Ih­nen dar­auf jetzt ant­wor­ten soll­te, Fräu­lein, dann wüss­te ich ei­gent­lich nicht, was ich ant­wor­ten soll. Wenn die Squaw doch nun mal ge­sagt hat, was sie ge­sagt hat, dann ist doch für je­den ver­nünf­ti­gen Men­schen die Sa­che klar?!«

»Ich dan­ke Ih­nen, das ge­nügt«, sag­te Fro­na freund­lich, und der Mann zog sich zu­rück.

Der Vor­sit­zen­de sah in sei­ne Auf­zeich­nun­gen: »Pier­re La Flit­che!« rief er.

Ein dun­kel­häu­ti­ger Mann, schlank und ge­schmei­dig, trat mit si­che­ren Schrit­ten auf das Po­di­um ne­ben dem Tisch, das als Zeu­gen­bank diente. Es war ein schö­ner Bur­sche, des­sen schnel­ler, be­red­ter Blick furcht­los von ei­nem Ge­sicht zum an­de­ren wan­der­te. Ei­nen Au­gen­blick sah er in frei­mü­ti­ger Be­wun­de­rung Fro­na an. Er lä­chel­te, und sie nick­te lei­se, denn er ge­fiel ihr, und es kam ihr vor, als sei er ein al­ter Freund. Auf die ers­ten Fra­gen des Vor­sit­zen­den er­klär­te Pier­re La Flit­che, er sei nach sei­nem Va­ter ge­nannt, der von den al­ten Wald­läu­fern aus Frank­reich stamm­te. Sei­ne Mut­ter sei eine Mes­ti­ze, von ei­nem wei­ßen Va­ter und ei­ner ein­ge­bo­re­nen Mut­ter. Wo er ge­bo­ren sei, wis­se man nicht, ir­gend­wo bei ei­ner Jagd. Hier in Alas­ka sei er seit vie­len Jah­ren, seit er den­ken kön­ne.

»Er­zäh­len Sie so kurz wie mög­lich, was Sie von der Mord­sa­che wis­sen.«

Er be­dach­te sich einen Au­gen­blick … der An­fang war schwer zu fin­den.

»Im Früh­ling schläft sich’s gut bei of­fe­ner Tür«, sag­te er. Sei­ne Stim­me war klar, es lag dar­in et­was von dem Vo­gel­laut der in­dia­ni­schen Spra­che, die ein Teil sei­ner Vor­fah­ren ge­spro­chen hat­te. »So habe ich auch ges­tern bei of­fe­ner Tür ge­schla­fen. Ich bin mein Le­ben lang auf der Jagd ge­we­sen, ich schla­fe nicht sehr fest. Ich höre, wenn ein Blatt zu Bo­den fällt, ich höre, wenn ein Wind sich er­hebt. Ich schla­fe, aber mei­ne Ohren flüs­tern mir zu, was drau­ßen ge­schieht. Die gan­ze Nacht über flüs­tern mei­ne Ohren. Da brauch­te nur der ers­te Schuss zu fal­len, und schon bin ich drau­ßen vor der Tür.«

St. Vin­cent flüs­ter­te Fro­na zu. »Es war nicht der ers­te Schuss.«

Sie nick­te, ohne den Blick von La Flit­che ab­zu­wen­den, der sei­ne Aus­sa­ge höf­lich un­ter­bro­chen hat­te.

»Ein Schuss, dann still … dann noch zwei Schüs­se schnell nach­ein­an­der«, fuhr er fort. »So: bum … bum bum. ›Borgs Hüt­te‹, sage ich mir und lau­fe den Weg hin­ab. Borg macht Bel­la tot, habe ich ge­dacht und war sehr trau­rig. Bel­la ist ein schö­nes Mäd­chen ge­we­sen«, ver­trau­te er den Zu­hö­rern mit trau­ri­gem Lä­cheln an, »ich habe Bel­la gern ge­habt. Vi­el­leicht kann ich hel­fen, habe ich zu mir ge­sagt, und bin so rasch ge­lau­fen, wie man kann. Da kommt auch John aus sei­ner Hüt­te her­aus, ein biss­chen be­sof­fen, mei­ne Her­ren Rich­ter, und mit viel Lärm. ›Was gibt es?‹ sagt er, und ich sage: ›Das wer­den wir gleich se­hen.‹ Und da kommt et­was – hurr – aus dem Dun­kel her­aus, so ›Hurr‹ – – und wirft John um und wirft mich bei­na­he auch um. Ich grei­fe da­nach, und John, der auf dem Bo­den liegt, greift nach sei­nen Bei­nen, und die­ser Mann da war es. Er ruft ›Oh! Oh! Ooh!‹, ge­nau so. Er ist nur halb an­ge­zo­gen – wir hal­ten ihn fest, und dann kommt John auf die Bei­ne, und dann sage ich ›komm mit zu­rück‹.«

»War es wirk­lich die­ser Mann da auf der An­kla­ge­bank?«

La Flit­che sah sich noch ein­mal Gre­go­ry St. Vin­cent an, als gäbe es auch für ihn noch den ge­rings­ten Zwei­fel: »Die­ser Mann war es!«

»Er will nicht mit uns zu­rück­ge­hen. Aber John und ich sa­gen ›du gehst …‹, und er geht.«

»Sag­te er et­was?«

»Ich frag­te ihn, was ge­sche­hen ist – ich habe ihm vie­le Fra­gen ge­sagt. Aber er ruft nur im­mer ›Oh! Oh! Oh! Oh! Oh!‹ und weint.«

»Ist Ih­nen noch et­was auf­ge­fal­len?«

»Ah, ja, Blut an sei­nen Hän­den.«

 

Durch die Rei­hen lief ein er­reg­tes Mur­meln, aber der Zeu­ge fuhr fort zu er­zäh­len. Sei­ne Mie­nen und sei­ne Ges­ten be­glei­te­ten die gan­ze Er­zäh­lung mit der Aus­drucks­kraft des Na­tur­menschen.

»John macht Licht mit der Ker­ze, die er in sei­ner Ta­sche hat, und da liegt Bel­la auf dem Bo­den! Bel­la stöhnt wie eine Rob­be, wenn sie einen Schuss durch den Leib hat. Und in der Ecke liegt Borg. Ich sehe ihn an … er at­met gar nicht. Da schlägt Bel­la die Au­gen auf, und ich sehe hin­ein, und da weiß ich, dass sie mich er­kennt. Sie hat gleich ge­wusst, dass ich der Pier­re bin. ›Wer hat es ge­tan, Bel­la?‹ fra­ge ich. Da dreht sie den Kopf her­um und flüs­tert, ach, so lei­se, so lang­sam: ›Ihn tot?‹ Ich weiß, dass sie Borg meint, und ich sage: ›Ja.‹ Da stützt sie sich auf einen Ell­bo­gen und sieht sich um. Wie sie den Mann da sieht, sucht sie nicht mehr wei­ter und rührt sich nicht mehr. Nur im­mer an­ge­se­hen hat sie ihn, im­mer nur ihn. Und dann hat sie noch ein­mal die Hand hoch­ge­ho­ben und hat auf ihn ge­zeigt und hat ge­sagt: ›Ihn!‹«

La Flit­che ahm­te jede Be­we­gung der ster­ben­den Bel­la nach. Als sein Fin­ger jetzt auf den An­ge­klag­ten wies, zit­ter­te er, wie die Hand der Ster­ben­den ge­zit­tert hat­te: »Sie sagt nur: ›Ihn! Ihn! Ihn!‹, und ich fra­ge wie­der: ›Bel­la, wer hat es ge­tan?‹, und sie sagt wie­der: ›Ihn! Ihn! Ihn!! St. Vin­cent ihn tun es ge­tan.‹ Und dann …«

La Flit­che ließ sei­nen Kopf kraft­los auf die Brust sin­ken und ahm­te das Ver­rö­cheln Bel­las nach, bis zum letz­ten mat­ten Hauch. Dann rich­te­te er sich plötz­lich wie­der auf, stand in sei­ner na­tür­li­chen, auf­rech­ten Hal­tung da, und sei­ne wei­ßen Zäh­ne blitz­ten, als er schloss: »Bel­la tot.«

Der An­klä­ger stell­te die üb­li­chen Fra­gen, die na­tür­lich nur dazu die­nen soll­ten, die Aus­sa­gen des Be­las­tungs­zeu­gen zu er­här­ten.

»Was wis­sen Sie von dem Kampf, der vor­aus­ge­gan­gen ist? Der schwe­re Tisch war doch zer­schmet­tert, der Ofen um­ge­wor­fen?«

»Es sah schreck­lich aus«, be­kräf­tig­te La Flit­che. »Nie in mei­nem Le­ben hab’ ich so et­was ge­se­hen.«

Brown über­ließ mit ei­ner Ver­beu­gung Fro­na das Ver­hör, und sie dank­te ihm mit ih­rem lie­bens­wür­digs­ten Lä­cheln. Es schi­en ihr gut, mit dem Geg­ner auf mög­lichst freund­schaft­li­chem Fuß zu ste­hen, und sie wuss­te ge­nau, was das Lä­cheln ei­ner jun­gen Frau in die­ser Ver­samm­lung be­deu­te­te. Im Grun­de woll­te sie die Ver­hand­lung nur hin­zie­hen, bis ihr Va­ter kam. Ihr galt es bei je­der Fra­ge nur, Zeit zu ge­win­nen, Zeit, Zeit, Zeit! End­lich muss­te eine Ver­ta­gung ein­tre­ten, und dann konn­te sie Gre­go­ry un­ter vier Au­gen spre­chen. Er war so ver­ängs­tigt, so bis in die letz­ten Ner­ven zer­stört, dass es jetzt un­mög­lich war, Ein­zel­hei­ten aus ihm her­aus­zu­ho­len. So stell­te sie an La Flit­che eine un­end­li­che Rei­he von Fra­gen, aber nur bei zwei Ant­wor­ten kam ein neu­es Mo­ment an den Tag.

»Sie spra­chen von ei­nem ers­ten Schuss, Herr La Flit­che. Aber die Wän­de ei­ner Block­hüt­te sind sehr dick. Glau­ben Sie, Sie hät­ten bei ge­schlos­se­ner Tür einen Schuss ge­hört?«

Er schüt­tel­te den Kopf. Sei­ne dunklen Au­gen ver­rie­ten ihr, dass er schon wuss­te, wo sie ihn fest­zu­na­geln trach­te­te.

»Also, Herr Zeu­ge, wenn Sie vom ers­ten Schuss spre­chen, so mei­nen Sie nicht den ers­ten Schuss, der ge­fal­len ist, son­dern den ers­ten, den Sie ge­hört ha­ben?«

Wie­der nick­te er. Sie hat­te schon den Ein­druck sei­ner Zu­ver­läs­sig­keit um eine Spur ge­schwächt, aber sie wuss­te selbst noch nicht recht, wo­hin das füh­ren soll­te.

»Sie sa­gen, dass es sehr dun­kel war?«

»Ah, ja, ganz dun­kel!«

»Wie konn­ten Sie so­fort wis­sen, dass es John war, den Sie zu­erst tra­fen?«

»John macht viel Lärm, wenn er läuft. Ich ken­ne sei­nen Lärm ge­nau.«

»Aber Ihre Au­gen ha­ben Ih­nen nicht ge­sagt, ob es John war oder ein an­de­rer Mann, der beim Lau­fen Lärm macht.«

»O nein!«

»Dann fra­ge ich Sie eins, Herr Zeu­ge, und ich bit­te Sie, sich die Ant­wort sehr ge­nau zu über­le­gen! Wie konn­ten Sie wis­sen, dass an den Hän­den von Herrn St. Vin­cent Blut war?«

Er zeig­te mit ei­nem Lä­cheln sei­ne blen­den­den Zäh­ne und dach­te kei­ne Se­kun­de über die Ant­wort nach.

»Wie? Ich füh­le et­was War­mes an sei­nen Hän­den. Was kann das sein? Mei­ne Nase sagt mir al­les. Den Rauch vom Jagd­la­ger weit fort … Das Loch, wo ein Ka­nin­chen sich ver­steckt … Die Fähr­te, die ein Elch ge­zo­gen hat.«

Er warf den Kopf zu­rück, mit ei­nem ge­spann­ten Aus­druck, mit ge­schlos­se­nen Au­gen und zit­tern­den Nüs­tern zeig­te er, wie alle an­de­ren Sin­ne ei­nes Jä­gers ru­hen, der sich ganz auf die Wahr­neh­mun­gen sei­ner Nase ver­lässt. Dann öff­ne­te er die Au­gen wie­der und be­trach­te­te Fro­na fast trau­rig.

»Ich rie­che Blut an sei­nen Hän­den, war­mes Blut, ich rie­che das hei­ße Blut an sei­nen Hän­den.«

»Da­für ken­nen wir ihn! Die bes­te Nase von Klon­di­ke!« rief ein Mann aus der Ver­samm­lung.

Fro­na warf un­will­kür­lich einen Blick auf St. Vin­cents Hän­de und be­merk­te mit Ent­set­zen rost­brau­ne Fle­cken auf den Man­schet­ten sei­nes Fla­nell­hem­des.

Als der Zeu­ge ab­ge­tre­ten war, tat der An­klä­ger Bill Brown ein paar Schrit­te auf Fro­na zu und reich­te ihr die Hand.

»Ich freue mich, einen so sym­pa­thi­schen Ver­tei­di­ger be­grü­ßen zu dür­fen.«

Sie zeig­te ihm ihr lie­bens­wür­digs­tes Lä­cheln, aber dann frag­te sie rasch:

»Ist das vor­nehm, wie man uns be­han­delt? Sa­gen Sie selbst, als Geg­ner, muss man uns nicht Zeit las­sen, die Ver­tei­di­gung vor­zu­be­rei­ten? Ich weiß doch nichts von der Sa­che, als was Ihre bei­den Zeu­gen vor­ge­bracht ha­ben. Als ge­rech­ter und vor­neh­mer Geg­ner, Herr Brown, fin­den Sie nicht, man müss­te die Ver­hand­lung bis mor­gen aus­set­zen? Wol­len Sie Ihr Plä­doy­er ge­gen einen Mann füh­ren, der kei­ne Ge­le­gen­heit hat­te, sich so zu ver­tei­di­gen, wie es je­des Ge­setz ver­langt?«

Er sah auf die Uhr und sag­te nach­denk­lich: »Das ist kei­ne schlech­te Idee. Au­ßer­dem ist es schon fünf Uhr, wir müs­sen alle an un­ser Nachtes­sen den­ken.«

Wie sie ihm dank­te! So kann, ohne ein Wort zu spre­chen, nur eine Frau dan­ken. Er sah ihr in die Au­gen und fühl­te sich mehr be­lohnt als durch vie­le Wor­te. Dann trat er auf sei­nen Platz zu­rück und wand­te sich an die Ver­samm­lung:

»Nach Be­ra­tung zwi­schen An­klä­ger und Ver­tei­di­ger, in An­be­tracht der vor­ge­rück­ten Zeit, an­ge­sichts der Tat­sa­che, dass die Ver­hand­lung heu­te zu kei­nem ge­rech­ten Ab­schluss mehr ge­bracht wer­den kann, be­an­tra­ge ich die Ver­ta­gung auf mor­gen Vor­mit­tag.«

»Dem An­trag wird statt­ge­ge­ben«, er­klär­te der Vor­sit­zen­de, als kein Pro­test sich er­hob. Dann stieg er von sei­nem Richter­stuhl her­ab und mach­te sich ei­lig dar­an, das Feu­er zu schü­ren und Kes­sel zu­zu­set­zen. Er war ein Be­woh­ner die­ser Hüt­te und hat­te an die­sem Tag Kü­chen­dienst.

*

»Ich kann dir nichts er­klä­ren, Fro­na«, sag­te Vin­cent, als sie jetzt un­ter vier Au­gen wa­ren. »Ich füh­le, dass mein Ver­stand still­steht. Du musst mir ein­fach glau­ben, dass ich un­schul­dig bin. Schwö­re mir, Fro­na, dass du mir glaubst!« In ih­rem Ge­sicht flamm­te das Blut auf.

»Du bist ein Mann und musst dich weh­ren! Was nützt es dir, wenn ich an dei­ne Un­schuld glau­be? Du musst mir Waf­fen ge­ben, um dich zu ver­tei­di­gen! Vor al­lem musst du dich selbst ver­tei­di­gen! Nicht einen Schritt darfst du frei­ge­ben ohne Kampf!«

»Mit mir ist es aus, Fro­na!«

»Nichts ist aus, so­lan­ge man kämpft! Er­zäh­le mir al­les.«

»Sie hat ge­lo­gen, Fro­na. Die­se Un­glück­li­che, die­se Bel­la, sie hat ge­lo­gen! Vi­el­leicht ist sie wahn­sin­nig ge­we­sen. Aber wie konn­te sie mich be­schul­di­gen! Ich habe doch für sie und Borg ge­kämpft – und wie ich ge­kämpft hab’! Nein, sie war wahn­sin­nig.«

»Fang beim An­fang an, Vin­cent! Ruf dir al­les ins Ge­dächt­nis zu­rück. Je­den Schritt muss ich wis­sen. Da … ich hol’ dir Was­ser … dreh dir eine Zi­ga­ret­te, komm, Lie­ber, das wird dir gut­tun. Dass dei­ne Lip­pen nicht mehr so be­ben! Jetzt brauchst du alle Kraft. Nimm dich zu­sam­men.«

Er setz­te sich zu­rück und rauch­te. Fro­nas macht­vol­lem Zu­spruch war es wirk­lich ge­lun­gen, sei­ne Ge­dan­ken wie­der in kla­re­re Bah­nen zu brin­gen.

»Es muss ge­gen ein Uhr nachts ge­we­sen sein. Ich schlief. Auf ein­mal bin ich auf­ge­wacht. Je­mand hat die Lam­pe an­ge­zün­det. Ich dach­te, dass es Borg wäre. Das geht mich nichts an, dach­te ich, und woll­te wie­der ein­schla­fen. Auf ein­mal wa­ren zwei frem­de Män­ner in der Hüt­te. Bei­de tru­gen Mas­ken. Sie hat­ten die Ohren­klap­pen her­un­ter­ge­zo­gen. Ich konn­te nichts se­hen als ihre Au­gen. Da ist eine Ge­fahr, dach­te ich. Das war al­les, was ich im ers­ten Au­gen­blick dach­te. Eine Se­kun­de lang blieb ich ganz still lie­gen und über­leg­te. Borg hat­te sich mei­ne Pis­to­le ge­lie­hen, ich hat­te kei­ne Waf­fe. Mein Ge­wehr stand an der Tür. Ich muss zu mei­nem Ge­wehr, das war mir klar. Ganz lei­se set­ze ich den Fuß auf den Bo­den, aber da dreht der eine Mann sich zu mir um und knallt sei­nen Re­vol­ver ab. Das war der ers­te Schuss, weißt du, der, den La Flit­che nicht ge­hört hat. Dann ging der Kampf los, da­bei wur­de die Tür auf­ge­ris­sen, und so kam es, dass er die drei letz­ten Schüs­se ge­hört hat. Der Mann stand mir ganz nah; ich bin so plötz­lich aus der Koje her­aus­ge­sprun­gen, so un­er­war­tet, dass sein Schuss fehl­ging. Dann ha­ben wir uns ge­packt, dann wälz­ten wir uns auf der Erde. Plötz­lich war Borg da­bei, aber der an­de­re Mann griff ihn und Bel­la an. Die­ser an­de­re Mann, der war es, der sie bei­de er­mor­det hat. Mein Geg­ner hat­te mit mir ge­nug zu tun, und ich … ich … Him­mel, war das ein Kampf! Du hast ge­hört, was der eine Zeu­ge ge­sagt hat, wie die Hüt­te zer­stört war. Wir ha­ben uns ge­wälzt und mit­ein­an­der ge­tobt, bis der Tisch und die Stüh­le und al­les zer­schla­gen war. Ach, Fro­na, es war schreck­lich. Die­ser Borg hat sein Le­ben auch nicht bil­lig ver­kauft, und Bel­la hat ihm tap­fer ge­hol­fen. Sie war gleich ver­wun­det und hat laut ge­stöhnt. Aber ich konn­te ih­nen nicht bei­ste­hen. Der Kerl, mit dem ich zu tun hat­te, war nicht so leicht un­ter­zu­krie­gen. Aber end­lich war ich doch der Stär­ke­re. Ich hat­te ihn auf den Rücken ge­kriegt, mit mei­nen Kni­en lag ich fest auf sei­nen Ar­men und hat­te die Hand an sei­ner Keh­le, fest, fest ge­nug! Aber da war der an­de­re Mann mit sei­ner Ar­beit fer­tig ge­wor­den, und jetzt fiel er auch über mich her. Was soll ich tun? Ei­ner ge­gen zwei! Und ich war doch ganz am Ende, kei­nen Wind mehr in der Lun­ge, ganz am Ende … Sie schmet­ter­ten mich in eine Ecke, dass mir der Schä­del dröhn­te, und dann sind sie ent­kom­men. Ein paar Mi­nu­ten habe ich ge­braucht, bis ich wie­der zu mir kam. Ich war so von Sin­nen, dass ich ih­nen dann nach­ge­rannt bin, ohne Waf­fe, wie ein Selbst­mör­der. Dass ich selbst in Ver­dacht kom­men könn­te, dar­an habe ich ja gar nicht ge­dacht. Aber ich woll­te die­se Ver­bre­cher nicht ent­flie­hen las­sen. Sie soll­ten ihre Stra­fe fin­den. Da­bei bin ich auf La Flit­che und John ge­sto­ßen, und dann … dann weißt du ja al­les. Nur das!« stieß er her­aus, halb brül­lend, halb schluch­zend, und da­bei schlug er sich mit der Faust vor die Stirn – »nur das be­grei­fe ich nicht, und das wer­de ich nie be­grei­fen: warum Bel­la mich an­ge­klagt hat! Mich! Mich!!«

Er sah sie fle­hend an, sie rang die Hän­de. Es war ihr, als tas­te­te sie mit ver­bun­de­nen Au­gen durch eine Wild­nis.

»Denk nach, Gre­go­ry! Denk nach! Es muss dir noch et­was ein­fal­len. Das sind ja al­les kei­ne Be­wei­se. Ich glau­be dir’s, aber sie glau­ben dir nicht …«

»Fro­na, ich bin doch un­schul­dig! Ich bin kein Hei­li­ger ge­we­sen, mein Le­ben lang. Oft bin ich kein gu­ter Mensch ge­we­sen, das weiß ich. Ein Sün­der! Ein Sün­der! … Aber schau dir die­se Hän­de an: glaubst du, dass die­se Hän­de mit Blut be­fleckt sind? Fro­na, du kannst doch nicht den­ken, dass ich ein Mör­der bin.«

»Das Blut auf dei­nem Är­mel spricht ge­gen dich.«

»Be­denk doch, die gan­ze Hüt­te hat von Blut ge­dampft! Ich sage dir, von Blut ge­dampft! Ich habe um mein Le­ben ge­kämpft. Wir ha­ben uns durch die gan­ze Hüt­te durch­ge­wälzt, aus ei­ner Ecke in die an­de­re, aus ei­ner Blut­la­che in die an­de­re! Wenn du mir auf mein hei­li­ges Ehren­wort nicht glau­ben kannst …«

 

»Gre­go­ry, wenn ich es wäre, die das Ur­teil über dich zu spre­chen hät­te, dann wärst du jetzt schon frei und rein von je­dem Ver­dacht und könn­test von dan­nen ge­hen. Aber die­se Män­ner … Du hast kei­ne Zeu­gen. Die Wor­te ei­ner ster­ben­den Frau sind ih­nen tau­send­mal hei­li­ger als die ei­nes le­ben­den Man­nes und noch dazu ei­nes Frem­den, ei­nes Man­nes, der nicht zu ih­nen ge­hört. Du musst doch einen Grund da­für fin­den, dass die un­glück­se­li­ge Frau mit ei­ner Lüge auf den Lip­pen ge­stor­ben ist! Hat sie dich ge­hasst? Hast du ihr oder ih­rem Man­ne et­was zu­lei­de ge­tan?«

Der Mann sank mut­los in sich zu­sam­men, mit ein­ge­fal­le­ner Brust und hän­gen­den Schul­tern. Angst­be­bend klebt er wie­der an sei­nem Stuhl.

»Dann bin ich ver­lo­ren. Dann wer­den sie mir mor­gen den Strick um den Hals le­gen und mich auf­hän­gen. Fro­na, ich bin ver­lo­ren!«

»Sie wer­den dich nicht hän­gen! Ich wer­de es nicht er­lau­ben!«

»Was kannst du tun? Was kannst du denn tun? Du kannst gar nichts tun! Sie ha­ben das Ge­setz an sich ge­ris­sen, mit Ge­walt, sie ha­ben die Macht.«

»Gre­go­ry, das Eis auf dem Fluss ist auf­ge­bro­chen! Man kann wie­der fort! Man kann flie­hen! Die­se In­sel ist kein Ge­fäng­nis mehr! Und dann, der Gou­ver­neur oder der Be­zirks­rich­ter … sie kön­nen je­den Au­gen­blick ein­tref­fen, mit ei­ner Ab­tei­lung Po­li­zei! Sie wer­den ein­schrei­ten. Das ist ja al­les kein rich­ti­ges Ge­richt. Das darf ja nicht sein. Aber auch wenn Sie nicht kom­men … Flucht! Flucht!«

»Es ist un­mög­lich. Es ist un­mög­lich! Wir sind zwei, und sie sind vie­le!«

»Aber mein Va­ter! Und der Baron Cour­ber­tin! Wir sind vier – vier tap­fe­re Men­schen, die zu­sam­men­hal­ten, die sind stär­ker als die gan­ze Welt, Vin­cent! Ver­lass dich auf mich! Ver­lass dich auf uns!«

Sie küss­te ihn und wein­te über sein Ge­sicht, ihre Trä­nen tropf­ten in sei­nen of­fe­nen Mund. Sie flüs­ter­te ihm all ihre Lei­den­schaft und ihre Lie­be und ihre Kraft zu. Aber er war ein zer­bro­che­ner Mensch, und kein Strahl von Hoff­nung reg­te sich in sei­nem Her­zen.

»Ver­lo­ren, Fro­na, ver­lo­ren.«