Jack London – Gesammelte Werke

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8

Lan­ge vor Ein­tritt der Dun­kel­heit ka­men sie über den Kanal, alle, auf die Fro­na hoff­te: ihr Va­ter, Cor­liss, der tap­fe­re Baron und der tap­fe­re Del. Sie war ge­ra­de in ei­ner der klei­nen Hüt­ten, um sich zu er­fri­schen und ihre Klei­der zu wech­seln. Die ers­ten Mi­nu­ten be­nutz­te ihr Va­ter, um nach dem ge­ret­te­ten In­dia­ner zu se­hen. Der Mann hat­te wich­ti­ge Nach­rich­ten ge­bracht, so wich­tig, dass Ja­cob Wel­ses Ge­sicht düs­ter und ganz ver­än­dert war, nach­dem er die De­pe­schen zwei­mal nach­ein­an­der ge­le­sen hat­te. St. Vin­cent war in ei­ner be­nach­bar­ten Hüt­te ein­ge­sperrt, er­hielt aber die Er­laub­nis, sei­ne Freun­de zu spre­chen. Ja­cob Wel­se ver­han­del­te lan­ge mit ihm. Beim Ab­schied­neh­men sag­te er:

»Es steht schlecht um Sie, Gre­go­ry. Die Ver­hand­lung wird schlecht aus­ge­hen. Aber hier! Mei­ne Hand dar­auf, dass Sie nicht ge­hängt wer­den, selbst wenn das Ur­teil da­hin er­geht! Ich weiß, so gut, als wenn ich bei all dem da­bei ge­we­sen wäre, dass Sie Borg nicht ge­tö­tet ha­ben.«

*

»Das war ein lan­ger Tag«, sag­te Cor­liss zu Fro­na. »So­viel Ge­fahr, so­viel Kampf, so­viel Verzweif­lung an ei­nem Tag!«

»Das war ein herr­li­cher Tag!« ant­wor­te­te Fro­na. »Aber mor­gen … Erst mor­gen wer­den wir un­se­re Kraft wirk­lich brau­chen. Mor­gen früh be­ginnt der Schick­sals­tag.«

»Ich ste­he zu euch«, ver­sprach Cor­liss. »Ich wün­sche die­sem Bur­schen, der mir Ihr Herz ge­stoh­len hat, nichts Gu­tes. Aber bis er von die­sem Ver­dacht ge­rei­nigt ist, bis er frei ist, so lan­ge will ich al­les ver­ges­sen. Und ich bin auch stark ge­nug, wirk­lich al­les zu ver­ges­sen. Wenn ich nicht Angst vor großen Wor­ten hät­te, wür­de ich sa­gen: ich ste­he zu euch bis zum Tod! Und dar­auf könn­ten Sie sich ver­las­sen.«

»Wie Sie sind, Van­ce! Ich kann es Ih­nen nie ver­gel­ten!«

»Ver­gel­ten? Lie­be kann man nicht ver­gel­ten. Lie­ben heißt: die­nen. So ver­ste­he ich es.«

Bei die­sen Wor­ten schoss Fro­na al­les durch den Kopf, was sie mit Van­ce er­lebt, was sie von ihm er­fah­ren, und je­des Wort, das sie von ihm ge­hört hat­te.

»Wir müs­sen so ech­te, so gute Freun­de sein und im­mer blei­ben, Van­ce, dass nie wie­der ein falscher Ge­dan­ke zwi­schen uns tre­ten kann. Es gibt dum­me Men­schen, die nicht glau­ben wol­len, dass es Freund­schaft zwi­schen Mann und Frau gibt. Aber wie ich Sie lie­be, wie ich Sie ver­eh­re, als Ka­me­ra­den, als Mann, als Freund, da­von wis­sen die­se Men­schen nichts!«

»Ka­me­rad­schaft?« frag­te er. »Jetzt sind Sie grau­sam, Fro­na. Denn Sie wis­sen doch, – dass ich Sie – lie­be?«

»Ja«, sag­te sie lei­se.

*

Sie wa­ren ei­gent­lich zum Ster­ben müde, Fro­na und Cor­liss; sie hat­ten an ei­nem Tag er­lebt, was den In­halt ei­nes Jah­res bil­den konn­te. Mit ih­ren Mus­keln wie mit ih­rem Hirn, mit ih­ren Ar­men wie mit ih­rem Her­zen hat­te die jun­ge Fro­na bis zur Verzweif­lung ge­run­gen und ge­kämpft, fast ohne Pau­se, mit we­nig Schlaf, mit we­nig Nah­rung. Aber in tiefer Nacht rief sie noch die Ver­trau­ten zu­sam­men, ent­warf ih­ren Kriegs­plan für den nächs­ten Tag und wies je­dem sei­ne Rol­le zu. Wenn der Ge­richts­hof ein ge­rech­tes Ur­teil sprach, war al­les gut. Fäll­te er einen Fehl­spruch, dann galt Ge­walt ge­gen Jus­tiz­mord und Flucht ge­gen un­ge­rech­te Ver­fol­gung.

»Es ist aben­teu­er­lich, mein Kind, viel­leicht ist es Wahn­sinn«, ur­teil­te Ja­cob Wel­se. »Aber für den Au­gen­blick schaf­fen wir dem ar­men Bur­schen Luft. Ich glau­be auch, dass es ge­lin­gen wird. Wir wer­den da­für sor­gen, dass er dann vor ein wirk­li­ches Ge­richt kommt, denn die Ge­rech­tig­keit darf nicht be­tro­gen wer­den. Die Leu­te hier im Wald sol­len nicht glau­ben, dass sie au­ßer­halb des Ge­set­zes ste­hen.«

»Eine ’err­li­cke Staats­coup«, frohlock­te der Baron, »’err­lick! ’err­lick! ’Än­de och! Ick wer­den ru­fen – Sk­recker­lick streng! Und fürk­ter­lick.«

»Aber wenn sie die Hän­de nicht hoch he­ben –?« frag­te Ja­cob Wel­se.

»Dann schie­ßen Sie, Cour­ber­tin!« rief Fro­na, hun­dert­pro­zen­tig ent­schlos­sen. »Man darf nicht bluf­fen, wenn man ein Le­ben zu ret­ten hat.«

»Ick ssie­ßen, Ma­de­moi­sel­le! Ick ssie­ßen und tref­fen!«

»Und Sie ste­hen mit dem Boot be­reit, Van­ce! Sie war­ten den gan­zen Tag, wir wer­den Ih­nen kei­ne Bot­schaft ge­ben kön­nen. Wenn Gre­go­ry an­ge­stürzt kommt, springt er zu Ih­nen ins Boot, und dann fort mit ihm, nach Daw­son!«

Dann sack­te sie ab, sie fiel vom Stuhl und blieb, ohne De­cken, ohne Kis­sen, steif auf dem Bo­den lie­gen. Die Mü­dig­keit hat­te sie plötz­lich über­fal­len wie ein feind­li­cher Rie­se, sie konn­te sich nicht weh­ren.

*

Ja­cob Wel­se wur­de von den Gold­grä­bern mit al­ler Hochach­tung emp­fan­gen, an die er ge­wöhnt war, und als er das Wort er­griff, herrsch­te tie­fes Schwei­gen im Saa­le.

»Mei­ne Her­ren«, ver­kün­de­te er. »Die­se Ver­samm­lung ist wi­der das Ge­setz, und was Sie be­schlie­ßen wol­len, kann nie­mals ein Rich­ter­spruch sein. Es hat Zei­ten ge­ge­ben, in de­nen dies Land ohne Re­gie­rung war und ohne Ge­set­ze, und da­mals hat­ten wir das Recht, ja so­gar die Pf­licht, Übel­tä­ter aus un­se­ren Rei­hen zu sto­ßen oder selbst Ge­richt über sie zu hal­ten. Heu­te aber ha­ben wir eine Re­gie­rung. Die­ser Mann ge­hört vor die Rich­ter, die das Ge­setz ihm zu­weist, und wenn Sie ihn ver­ur­tei­len, wenn Sie ihn hin­rich­ten, be­ge­hen Sie ein Ver­bre­chen, das man als Mord be­zeich­nen wird. Ich – und mir wer­den Sie glau­ben, dass mei­ne Wor­te kein lee­rer Klang sind –, ich selbst wer­de der ers­te sein, der je­den, der sich hier das Amt ei­nes Rich­ters an­maßt oder gar das Amt ei­nes Scharf­rich­ters an­ma­ßen möch­te, der Stra­fe zu­füh­ren wird, die er ver­dient. Der An­ge­schul­dig­te ist in Haft zu neh­men … so weit reicht un­se­re Be­fug­nis. Er ist in Haft zu hal­ten, bis der Staat sich sei­ner be­mäch­tigt. Ich habe ge­spro­chen.«

»Ich be­an­tra­ge Ab­stim­mung über den An­trag des Herrn Ja­cob Wel­se«, sag­te der Vor­sit­zen­de, ohne selbst Stel­lung zu neh­men.

»Das war kein An­trag, über den Sie ab­zu­stim­men ha­ben!« un­ter­brach Wel­se mit furcht­ba­rem Ernst. »Sie ha­ben die Ver­hand­lung auf­zu­he­ben und die­ses rechts­bre­che­ri­sche Ver­fah­ren zu schlie­ßen!«

»Sie ha­ben ge­spro­chen, Herr Wel­se. Jetzt spre­chen wir!«

Da­mit hat­te der Vor­sit­zen­de sei­ne ei­ge­ne Stel­lung ge­kenn­zeich­net, und im Au­gen­blick wur­de die Fra­ge ent­schie­den. Alle Hän­de flo­gen em­por, als er die Ver­samm­lung frag­te, ob sie sich be­fugt glau­be, ein Ur­teil zu fäl­len. Mit al­len Stim­men war Wel­ses An­trag ab­ge­lehnt.

»Du siehst, ich bin ver­lo­ren«, flüs­ter­te St. Vin­cent Fro­na zu. »Für mich gibt es kei­ne Hoff­nung …«

Aber Wel­se riss zum zwei­ten Mal das Wort an sich und don­ner­te den Leu­ten zu, was er auf dem Her­zen hat­te: dass Lyn­ch­ge­richt mit dem Tode be­straft wür­de, dass ein un­ge­heu­rer Pro­zess und maß­lo­se Ka­ta­stro­phen über die Be­tei­lig­ten her­ein­bre­chen wür­den … Schre­cken über Schre­cken, wie Klon­di­ke sie noch nicht er­lebt hat­te. Er fand ei­ni­ge An­hän­ger, aus der Ver­hand­lung wur­de ein Cha­os wild dis­ku­tie­ren­der und dro­hen­der Men­schen, und in die­sem To­hu­wa­bo­hu von Stim­men ge­lang es Fro­na, ih­rem Schütz­ling mit­zu­tei­len, was sie sich am Abend zu­vor zu sei­ner Ret­tung aus­ge­dacht hat­te.

»Sie wer­den alle ›Hän­de hoch‹ ma­chen, wenn sie auf ein­mal in drei Re­vol­ver­mün­dun­gen se­hen! In die­sem Au­gen­blick kannst du flie­hen. Das Boot liegt be­reit … küm­me­re dich nicht um uns, nicht um mei­nen Va­ter, nicht um mich, Vin­cent! Sie wer­den die Hand nicht an uns le­gen! Und selbst wenn! In die­ser Stun­de bist du dir selbst der Nächs­te …«

»Das ist Wahn­sinn«, hauch­te er, grau das Ge­sicht und mit ge­sträub­tem Haar.

»Aber es ist doch kei­ne an­de­re Ret­tung für dich!«

»Ich kann nicht, Fro­na.«

»Kämp­fen sollst du, für dein Le­ben kämp­fen!«

»Lass mich, lass mich.«

Die nächs­ten Zeu­gen, zwei Schwe­den, hat­ten aus ge­rin­ger Ent­fer­nung je­nen Auf­tritt be­ob­ach­tet, als Borg einen Wu­t­an­fall be­kam, weil St. Vin­cent und Bel­la zu­sam­men ge­lacht hat­ten. Es war ein lä­cher­lich klei­nes Be­geb­nis, das sie aus­führ­lich schil­der­ten, aber es ließ doch Schlüs­se auf die gan­ze Si­tua­ti­on in Borgs Hüt­te zu. Dann folg­te ein hal­b­es Dut­zend Zeu­gen, die im Auf­trag des Rich­ters den Schau­platz des Ver­bre­chens und die gan­ze In­sel un­ter­sucht hat­ten. Von den bei­den ge­heim­nis­vol­len Män­nern, die nach der An­ga­be Gre­go­rys den Mord be­gan­gen ha­ben soll­ten, hat­ten sie nicht die ge­rings­te Spur ge­fun­den.

Nach ih­nen be­trat zu Fro­nas Ent­set­zen Del Bi­shop den Zeu­gen­stand. Sie wuss­te, dass er Vin­cent hass­te, aber sie be­griff nicht, was er zur Sa­che aus­sa­gen konn­te. Im­mer hat­te sie ihn für einen gro­ben, aber ehr­li­chen Bur­schen ge­hal­ten. Ei­nen nied­ri­gen Ra­che­akt trau­te sie ihm nicht zu. Was wür­de er sa­gen? Als er den Eid ab­ge­legt hat­te, frag­te ihn der Rich­ter nach sei­ner Be­schäf­ti­gung.

»Ich su­che ›Gold­ta­schen‹!« rief er her­aus­for­dernd.

Gold­ta­schen­su­chen ist eine be­son­de­re Art der Gold­grä­be­rei, an die nur we­ni­ge glau­ben.

»Dann wirst du lang’ her­um­wüh­len müs­sen, mein Jun­ge«, höhn­te ein Mann im Au­di­to­ri­um. »Wenn du nicht vor­her ver­hun­gerst.«

Del be­kam einen ro­ten Kopf: »Herr Vor­sit­zen­der«, sag­te er, »ich weiß auch, was die Wür­de des Ge­richts ist. Aber das möch­te ich ganz be­schei­den zu ver­ste­hen ge­ben, wenn die Ver­hand­lung vor­bei ist, dann kriegt je­der, der sich hier ge­gen mich was her­aus­nimmt, einen Na­sen­stü­ber, dass er bis ›Zehn‹ zu Bo­den geht und viel­leicht noch ’n biss­chen län­ger lie­gen­bleibt.«

 

»Spre­chen Sie zur Sa­che!« be­fahl der Vor­sit­zen­de und schlug mit dem Ham­mer auf den Tisch. »Also Gold­ta­schen­su­cher sind Sie?« Da­bei lief über das Ge­sicht des sonst so sach­li­chen Man­nes das­sel­be brei­te La­chen, wie die meis­ten Ge­sich­ter im Saal es zeig­ten.

»Den ers­ten Na­sen­stü­ber, der auch aus Ver­se­hen in dem wer­ten Brot­la­den sit­zen könn­te, Herr Vor­sit­zen­der, den ver­spre­che ich Ih­nen. Sie wol­len nicht glau­ben, dass ich Gold­ta­schen fin­de? Na war­ten Sie! Fünf Mi­nu­ten, nach­dem der Jüng­ling da drü­ben bau­melt, kön­nen Sie Ihre kost­ba­ren Kno­chen sor­tie­ren, Herr Vor­sit­zen­der. Das nur ne­ben­bei, da­mit Sie Be­scheid wis­sen. Mein Name ist Bi­shop, we­nigs­tens einst­wei­len.«

»Das ist zu viel!«

Der Rich­ter warf den Rock ab und krem­pel­te die Är­mel hoch.

»Jetzt nur ran, du Lüm­mel!«

Bi­shop ging so­fort in Po­si­tur, und Fro­na durf­te einen Au­gen­blick hof­fen, dass das gan­ze Ge­richts­ver­fah­ren sich in eine je­ner Mas­sen­kei­le­rei­en auf­lö­sen wür­de, bei der ein­mal zu­schau­en zu dür­fen, sie sich schon lan­ge wünsch­te.

Vi­el­leicht war es ge­ra­de das, was der bra­ve Bi­shop er­rei­chen woll­te, um aus dem gan­zen Lyn­ch­ge­richt eine Far­ce, aus der Tra­gö­die eine Ko­mö­die zu ma­chen? Mit flam­men­den Au­gen schau­te Fro­na auf die bei­den Män­ner, die in pracht­vol­ler Box­hal­tung ein­an­der ge­gen­über­stan­den. Aber schreck­lich! Da warf Bill Brown sich da­zwi­schen.

»Muss ich Sie bit­ten, die Wür­de des Ge­richts wahr­zu­neh­men, Herr Vor­sit­zen­der? Es ist ein Skan­dal, es ist un­glaub­lich! Neh­men Sie die Ver­hand­lung auf! Wir sind hier nicht in der Bar! Au­ßer­dem schei­nen Sie bei­de zu ver­ges­sen, dass in die­sem Saal eine Dame sich auf­hält!«

Im Au­gen­blick war die Ruhe wie­der­her­ge­stellt, und Bi­shop sag­te aus, als wenn nichts ge­sche­hen wäre.

»Jetzt will ich Ih­nen mal so ei­ni­ges über den Herrn dar­bie­ten, den Dok­tor, so, was man ein Cha­rak­ter­bild nennt. Das ist näm­lich ein sau­be­rer Pa­tron, Sie wer­den sich wun­dern!«

Zum ers­ten Mal pack­te St. Vin­cent die Wut und über­wäl­tig­te fast sei­ne Verzweif­lung.

»Hal­ten Sie den Mund!« brüll­te er zit­ternd. »Herr Vor­sit­zen­der, das ist ein Ver­rück­ter! Soll die­ser Kerl, den ich ein­mal in mei­nem Le­ben ge­se­hen habe, über mei­nen Cha­rak­ter aus­sa­gen?«

»Ach so, du kennst mich nicht, mein Jung’?« frag­te höh­nisch der Gold­ta­schen­su­cher. »Na, da wer­den wir mal dei­nem Ge­dächt­nis so ’n bü­schen nach­hel­fen.«

»Ich bin dem Mann ein­mal im Le­ben be­geg­net, nur für ein paar Au­gen­bli­cke, und das war in Daw­son«, er­klär­te St. Vin­cent fest.

»Ist das so si­cher, Herr Dok­tor Gre­go­ry St. Vin­cent? Den­ken Sie mal nach – stel­len Sie sich mal vor, ich hät­te hier so eine lan­ge Klo­sett­bürs­te ums Kinn her­um und hie­ße nicht Bi­shop, son­dern Joe Brown! Und dann den­ken Sie mal an das ge­seg­ne­te Jahr 1884 zu­rück. Hat­ten Sie da nicht mal so ’n jun­gen See­mann na­mens Joe Brown, der von sei­nem Schiff de­ser­tiert war, in Lohn und Brot ge­nom­men? Tja, mein Jung’, jetzt fällt dir ja wohl so man­ches ein?«

Das Wie­de­rer­ken­nen zeich­ne­te sich auf Gre­go­rys Ge­sicht so deut­lich ab, dass rings­um ein höh­ni­sches La­chen tön­te. Man sah, dass in die­sem Au­gen­blick Gre­go­rys gan­zes Le­bens­ge­rüst in Stücke fiel. So wie er konn­te nur ein er­tapp­ter Spitz­bu­be aus­se­hen.

»Ja, sehr gut sind wir ja wohl nicht mit­ein­an­der ge­fah­ren, Sie und der arme Jun­ge, den Sie da in Dienst hat­ten, und der heu­te Bi­shop heißt. Sie mit Ihren Wei­bern, im­mer hin­ter den Wei­bern her, und über­all Krach und Stunk, und im­mer soll der gute Joe Brown Sie aus al­lem Salat wie­der her­aus­zie­hen! Tja, so war das ja wohl?«

»Ich pro­tes­tie­re!« rief Fro­na. »Ob Herr Dr. St. Vin­cent Lie­bes­ge­schich­ten ge­habt hat oder nicht, das hat mit die­ser Sa­che gar nichts zu tun.«

Bill Brown er­hob sich: »Herr Vor­sit­zen­der, Bi­shop ist un­ser Haupt­zeu­ge, und sei­ne Aus­sa­ge ist wich­tig. Da wir kei­ne Tat­zeu­gen ha­ben, kommt al­les auf In­di­zi­en an, und der Cha­rak­ter des An­ge­klag­ten muss bis in die letz­te Fal­te ge­prüft wer­den. Ich be­ab­sich­ti­ge, zu be­wei­sen, dass der An­ge­klag­te ein Lüg­ner und je­des Ver­bre­chens fä­hig ist. Ich will Fa­den zu Fa­den flech­ten, bis wir einen Strick in der Hand ha­ben, lang und stark ge­nug, um ihn dar­an auf­zu­knüp­fen. Ich bit­te, den Zeu­gen fort­fah­ren zu las­sen.«

Und Del fuhr fort: »Ein­mal muss­ten wir da die Strom­schnel­len hin­un­ter, mei­ne Her­ren, das war ge­ra­de kei­ne Hel­den­tat, aber ein Ver­gnü­gen kann man das auch nicht nen­nen. St. Vin­cent ver­steht was vom Ru­dern, aber ich lern’s in mei­nem Le­ben nicht, ich bin über­haupt nicht fürs Was­ser ge­bo­ren. Ob­wohl ich im­mer wie­der mit dem Was­ser zu tun hab’, da­von ab­ge­se­hen … das ist nun mal so Schick­salstücke. Lässt der Kerl mich nicht al­lein im Boot? Lässt mich die gan­ze gott­ver­fluch­te Höl­len­fahrt ma­chen und geht selbst am Ufer spa­zie­ren, warm, ge­sund und tro­cken? Ja, und wie denn mein Boot glück­lich ken­tert und die hal­be Aus­rüs­tung ver­lo­ren­geht und mein gan­zer Ta­bak und ich ge­ra­de noch mit knap­per Not das nack­te Le­ben ret­te, zwei Kno­chen ka­putt und die Nase ein ein­zi­ger Brei, schimpft er mich einen ›Chechaquo‹ und einen ›Tau­ge­nichts‹ und zieht mir zehn Dol­lar vom Lohn ab! Tja, so ist der fei­ne Herr da drü­ben! Und jetzt kom­men wir an die Ge­schich­te mit den Schwarz­fu­ßin­dia­nern. Ja, da hat auch nicht viel ge­fehlt, und ich hät­te für den gott­ver­fluch­ten Lüm­mel mein sü­ßes, jun­ges Le­ben her­ge­ben müs­sen.«

»Wie war das? Er­zäh­len Sie das ge­nau­er!« ver­lang­te der An­klä­ger.

»Na, we­gen so ’ner Squaw war das eben. Was soll’s denn sonst sein? Da hab’ ich ihn mit ge­nau­er Not aus der Bre­douil­le her­aus­ge­bracht und mich schließ­lich auch. Dann hat er mir ver­spro­chen, dass er sich bes­sern will. Aber vier Wo­chen spä­ter hat er schon wie­der die Pfo­ten an den In­dia­ner­wei­bern, und ich hab’ für ihn die Prü­gel be­zo­gen. Wie ich ihm da­nach vä­ter­lich zu­spre­chen will, ist er wie­der frech ge­wor­den, und da ist mir dann nichts üb­rig ge­blie­ben, als mal so ’n bü­schen an den Fluss hin­un­ter­zu­ge­hen! Und dann hab’ ich mei­nem Herrn Chef eine Por­ti­on Sau­res ge­ge­ben. Aber nicht zu knapp! Kön­nen Sie sich jetzt viel­leicht er­in­nern, Herr Chef?! Sol­che Dre­sche ha­ben Sie seit­dem nur noch ein­mal be­kom­men wie da­mals in der idyl­li­schen Mond­schein­land­schaft am ›Win­di­gen Arm‹! Mit den Wei­bern ver­steht er ja wohl um­zu­ge­hen, das muss ich al­ler­dings zu­ge­ben. Er pfeift nur so, und dann kom­men sie an­ge­wa­ckelt und ma­chen Kusch, und dann kann er ma­chen, was er will. Also, da war noch eine ver­dammt hüb­sche Squaw, fast so hübsch wie die Bel­la. Der pfiff er ja wohl auch, weil er nu mal die Schwä­che hat …«

»Es ge­nügt, Herr Zeu­ge«, un­ter­brach ihn der Vor­sit­zen­de. »Wir ha­ben ge­nug von den Squaws ge­hört.«

»Dies­mal bit­te ich, den Zeu­gen nicht zu stö­ren!« pro­tes­tier­te Fro­na und sah da­bei ganz sorg­los aus. »Jetzt scheint mir das The­ma wich­tig zu sein.«

»Im­mer das Un­ter­bre­chen!« knurr­te Bi­shop. »So ’n Vor­sit­zen­den habe ich in mei­nem gan­zen Le­ben noch nicht ge­se­hen. Und Sie kön­nen mir schon glau­ben, dass ich in ein paar Welt­tei­len mit dem Ge­richt so die eine oder an­de­re klei­ne Be­kannt­schaft ge­macht hab’. Ich könn­te schon lan­ge fer­tig sein, aber im­mer fährt mir da ir­gend so ein Grün­schna­bel da­zwi­schen. Ich bit­te auch um Ver­zei­hung, Herr Vor­sit­zen­der, na­tür­lich will ich Ih­rer Wür­de nicht zu nahe tre­ten. Also da hat­te mein Gre­go­ry ja wohl eine Wut auf mich, we­gen der vä­ter­li­chen Züch­ti­gung, wenn ich so sa­gen darf. Und au­ßer­dem hat er viel­leicht ge­dacht, eine hüb­sche Squaw im Boot ist bes­ser als so ’n bors­ti­ger Jung’ mit ’m Fuß­sack am Kinn. Auf ein­mal krieg’ ich da von hin­ten ei­nes mit dem Ge­wehr­kol­ben über das Köpf­chen, rein die Squaw ins Kanu, mich lie­gen­ge­las­sen und los … Wie das Yu­kon­land da­mals war, das wisst ihr ja, Jungs! Stellt euch da mal einen vor, ohne Aus­rüs­tung, mut­ter­see­len­al­lein, 1000 Mei­len tief in der Wild­nis. Ist das ein Wun­der, dass ich nicht gut auf den wer­ten Herrn zu spre­chen bin? Ge­ret­tet habe ich mich ja, sonst könn­te ich euch das al­les nicht er­zäh­len. Aber eine Ver­gnü­gungs­rei­se war es nicht, und dass ich nicht ver­hun­gert und er­fro­ren bin, das be­grei­fe ich selbst noch nicht ganz. Und nu hab’ ich ja denn hier auch so ’n Buch in der Hand, das hat mir die Frau von Pe­ter Whipp­le ver­kauft, und das ist ein sehr in­ter­essan­tes Buch, wenns auch auf rus­sisch ge­schrie­ben ist, und wenn ich auch kein Rus­sisch le­sen kann. Aber wenn hier ei­ner Rus­sisch le­sen könn­te, dann wär’ das schön. Denn da steht auch so ei­ni­ges drin, was den fei­nen Herrn ins rich­ti­ge Licht setzt.«

»Cour­ber­tin! Der kann Rus­sisch!« tön­te eine Stim­me aus der Men­ge. Man mach­te dem Fran­zo­sen Platz. Trotz sei­nem Zö­gern wur­de er in die vor­ders­te Rei­he ge­scho­ben.

»Sie kön­nen die Spra­che?«

»Sehr sleckt! Ick ’abe ver­ges­sen!«

»Nur los! Wir kri­ti­sie­ren nicht.«

Del gab dem Baron das Buch und schlug das ver­gilb­te Ti­tel­blatt auf.

»Groß­ar­tig, dass wir Sie ha­ben, Herr Baron. Nu man tau!«

Cour­ber­tin be­gann zö­gernd: »Die­ses Buch, ge­schrie­ben von Pa­ter Ja­konsk, ist ein kur­z­er Be­richt über sein Le­ben im Be­ne­dik­ti­ner­klos­ter zu Obi­dorski und eine aus­führ­li­che Be­schrei­bung sei­ner wun­der­ba­ren Aben­teu­er un­ter den Hir­schmän­nern in Ost­si­bi­ri­en.«

»Sa­gen Sie uns, wann das hüb­sche klei­ne Buch ge­druckt wor­den ist, Herr Baron?« ver­lang­te Del.

»War­schau, 1807.«

Der Gold­ta­schen­grä­ber tri­um­phier­te: »Auf­pas­sen; Jungs! Na­sen ge­spitzt! 1807!«

Der Baron las die Ein­lei­tung: »Es war al­les Ta­mer­lans Schuld«, be­gann er. Bei die­sen Wor­ten wur­de Fro­na lei­chen­blass, sie kroch förm­lich in sich zu­sam­men. Ein­mal sand­te sie ih­rem Va­ter einen ver­stoh­le­nen Blick zu, als bäte sie um Ver­zei­hung. St. Vin­cent starr­te sie an, sie fühl­te es, aber sie gab ihm kei­nen Blick zu­rück. Al­les, was er sah, war ein wei­ßes, völ­lig aus­drucks­lo­ses Ge­sicht.

»Als Ta­mer­lan mit Feu­er und Schwert durch Ostasi­en zog«, ging die Vor­le­sung wei­ter, »wur­den Staa­ten ver­nich­tet, Städ­te zer­stört und Stäm­me wie Staub in alle Win­de zer­streut. Ein un­ge­heu­res Volk wur­de zum Lan­de hin­aus­ge­jagt …«

»Über­sprin­gen Sie ein paar Sei­ten«, ver­lang­te Bill Brown, »wir kön­nen nicht die gan­ze Nacht hier sit­zen­blei­ben.«

»Die Be­völ­ke­rung der Küs­te be­stand aus Es­ki­mos, das sind hei­te­re und gut­ar­ti­ge Men­schen«, buch­sta­bier­te Cour­ber­tin. Plötz­lich wur­de sein Vor­trag flüs­si­ger, un­will­kür­lich sprach er wie aus­wen­dig vor sich hin:

»… sie nen­nen sich sel­ber Uki­li­ons, das heißt Mee­res­leu­te. Ich kauf­te ih­nen Hun­de und Pro­vi­ant ab, wir ka­men gut mit­ein­an­der aus. Aber die Uki­li­ons wa­ren ei­nem Bin­nen­land­stamm un­ter­tan, den Tschaut­schu­ins, das heißt in un­se­rer Spra­che ›Hir­schmen­schen‹. Die Tschaut­schu­ins sind ein wil­des, un­be­zwing­ba­res Volk, grau­sam und bos­haft, wie nur Mon­go­len wer­den kön­nen. Kaum hat­te ich die Küs­te hin­ter mir, da über­fie­len sie mich …«

Ein paar Sei­ten spä­ter er­klär­te Bill Brown: »Dan­ke, das ge­nügt. Wol­len Sie uns noch ein­mal sa­gen, wann das Buch er­schie­nen ist?«

»War­schau, 1807.«

In der Ver­samm­lung war kaum ein Mann, der den gan­zen Be­richt von St. Vin­cents Skla­ven­zeit, sei­nem Auf­stieg un­ter den Hir­schmän­nern und sei­ner Flucht nicht schon oft ge­hört hat­te oder min­des­tens vom Hö­ren­sa­gen kann­te. Aus dem Flüs­tern und Kopf­schüt­teln, mit dem der An­fang von Cour­ber­tins Vor­le­sun­gen auf­ge­nom­men wor­den war, wur­de lang­sam hei­te­res La­chen, und zu­letzt konn­te man glau­ben, in ei­nem Thea­ter zu sein, auf des­sen Büh­ne die lus­tigs­te Pos­se vor­ge­führt wur­de. Die Män­ner schlu­gen sich auf die Schen­kel, stie­ßen ein­an­der in die Sei­ten, und zu­letzt wur­de ihr La­chen ein Ge­brüll fas­sungs­lo­ser Hei­ter­keit.

»Willst du lie­ber nichts mehr mit der Ge­schich­te zu tun ha­ben?« frag­te Wel­se lei­se sei­ne Toch­ter. Ihr Ge­sicht hing voll von Trä­nen, aber sie schüt­tel­te den Kopf.

 

»Ich muss ihn trotz al­lem ver­tei­di­gen, Va­ter. Es ist mei­ne Pf­licht.«

*

St. Vin­cent war er­staun­lich tap­fer, als er end­lich das Wort be­kam, um sich zu ver­tei­di­gen. Vi­el­leicht hat­te er nach die­sem un­ge­heu­ren Aus­bruch von La­chen das Ge­fühl, ganz ernst sei die Ver­hand­lung nicht mehr. Je­den­falls sprach er klar und männ­lich und fass­te sich kurz. Sein Be­richt wi­der­sprach in kei­nem Punkt dem, was La Flit­che und John vor­ge­bracht hat­ten. Auch die Ge­schich­te mit dem Wasch­zu­ber stell­te er ge­nau so dar, wie die schwe­di­schen Zeu­gen es ge­tan hat­ten. Er gab zu, dass Bel­la mit sei­ner Waf­fe ge­tö­tet wor­den war, und be­haup­te­te, er habe sie Borg schon ei­ni­ge Tage zu­vor ge­lie­hen. Die An­kla­ge Bel­las sei un­be­greif­lich, ganz si­cher war die arme Frau ver­wirrt. Si­cher sei sie nicht mit ei­ner be­wuss­ten Lüge auf den Lip­pen ge­stor­ben. Er wol­le der To­ten kei­nen Stein ins Grab nach­wer­fen. Über die Aus­sa­ge Del Bi­shops wol­le er sich gar nicht äu­ßern. Das sei kin­di­sches, bos­haf­tes Ge­schwätz ei­nes Bur­schen, den man als Groß­maul und Rauf­bold kann­te. Der Mann sei mit ihm nach Alas­ka ge­kom­men, al­les an­de­re sei Er­fin­dung, zu tö­richt, um vor erns­ten Män­nern dar­auf zu ant­wor­ten. Ein Zeu­ge, der den Vor­sit­zen­den zum Bo­xen her­aus­for­dert und be­droht, sei kein Zeu­ge.

Jetzt er­hob sich Bill Brown: »Sie wol­len, An­ge­klag­ter, mit zwei ge­heim­nis­vol­len Män­nern einen furcht­ba­ren Kampf be­stan­den ha­ben?«

»Ja­wohl.«

»Wie kommt es dann, dass Sie ohne jede Wun­de, ja selbst ohne eine Schram­me aus die­sem Kampf her­vor­ge­gan­gen sind, wäh­rend der Kör­per des er­mor­de­ten John Borg eine gan­ze Rei­he furcht­ba­rer Wun­den trägt? Die­sel­ben Mord­bu­ben, die John Borg so schreck­lich zu­ge­rich­tet ha­ben, ha­ben mit Ih­nen ge­kämpft, ohne Sie auch nur zu ver­let­zen?«

»Das weiß ich nicht, das kann ich auch nicht er­klä­ren. Je­den­falls be­weist es nicht, dass ich John Borg oder sei­ne Frau ge­tö­tet habe.«

Da­mit schloss das Ver­hör.

Dann griff Fro­na ein. Sie wuss­te, dass die bes­te Pa­ra­de der Hieb ist, und pack­te den Stier am Horn:

»Ihre Fra­gen be­wei­sen doch ab­so­lut, was der An­ge­klag­te zu sei­ner Ver­tei­di­gung sagt. John Borg war – dies min­des­tens hat die Ver­hand­lung klar er­ge­ben – ein ei­fer­süch­ti­ger Wü­te­rich – im­mer im An­griff – be­waff­net – zehn Zen­ti­me­ter grö­ßer, zwan­zig Ki­lo­gramm schwe­rer als der An­ge­klag­te! Wie den­ken Sie sich die Nacht, wenn Gre­go­ry der Mör­der oder bes­ser ge­sagt der Tot­schlä­ger war? Ein Schuss von hin­ten, ein meuch­le­ri­scher Stoß mit dem Dolch ge­gen den Be­sit­zer ei­ner Skla­vin, nach der ihm der Sinn stand, das wäre mög­lich. Aber – mei­ne Her­ren – eine Rei­he furcht­ba­rer Ver­let­zun­gen, von de­nen kei­ne töd­lich war … wie soll er sie dem rie­sen­star­ken Borg zu­ge­fügt ha­ben, ohne selbst ver­wun­det zu wer­den? Und Bel­la? Bel­la soll­te zu­ge­se­hen ha­ben, wie die bei­den Män­ner mit­ein­an­der kämpf­ten, wie ihr Herr von dem Frem­den zu­schan­den ge­schla­gen wur­de, ohne ein­zu­grei­fen, ohne die Tür auf­zu­rei­ßen und gel­lend um Hil­fe zu schrei­en? Die Tat­sa­chen, Herr Kla­gean­walt, auf die Sie Ihre An­kla­ge stüt­zen, schla­gen Ih­nen ja selbst ins Ge­sicht! Nie hät­te ich ge­dacht, dass ein Mann, ein Ju­rist, an stren­ges lo­gi­sches Den­ken ge­wöhnt, so er­staun­li­che Schlüs­se zie­hen könn­te! Na­tür­lich müs­sen Drit­te auf dem Kampf­platz ge­we­sen sein, ob es ein Mann oder zwei Män­ner, wie der An­ge­klag­te sagt, ob es viel­leicht eine gan­ze Schar von Mord­bu­ben war, dar­auf kommt es nicht an! Es kommt nur dar­auf an, dass die Schlacht sich nicht zwi­schen dem Mör­der und sei­nem Op­fer al­lein ab­ge­spielt ha­ben kann. Mag St. Vin­cent ge­sün­digt ha­ben, mag er ein Lüg­ner und Re­nom­mist1 sein, ein Wei­ber­jä­ger … der Mör­der John Borgs und Bel­las kann er nicht sein! Und das Blut an sei­nen Hän­den? Man hat so lä­cher­lich viel Auf­he­bens von die­sem Blut ge­macht und da­bei über­se­hen, dass La Flit­ches ei­ge­ne Mo­kass­ins mit Blut be­fleckt sind! Ha­ben wir dar­aus den Schluss ge­zo­gen, Herr La Flit­che müs­se in den Han­del ver­wi­ckelt sein? Ha­ben wir be­haup­tet, er sei der Mör­der, weil sei­ne Füße durch Blut ge­wa­tet sind? Die­se Be­haup­tung ha­ben wir nicht er­ho­ben, weil sie wahn­sin­nig wäre, weil trotz al­len Blut­spu­ren auf Herrn La Flit­che auch nicht ein Schat­ten von Ver­dacht liegt.«

»Sehr rich­tig!«

»Gut ge­spro­chen!«

»Ich dan­ke Ih­nen, mei­ne Her­ren! Und eben­so rich­tig, eben­so un­leug­bar ist es, dass auf Herrn Gre­go­ry kein Schat­ten von Ver­dacht liegt. Er hat das Un­glück ge­habt, in eine An­ge­le­gen­heit voll ge­heim­nis­vol­ler Vor­gän­ge ver­wi­ckelt zu wer­den. Er hat das Un­glück ge­habt, in ei­ner Hüt­te zu schla­fen, in der Ent­setz­li­ches ge­sch­ah, in der es von Blut dampf­te und grau­en­haf­te Wun­den ge­schla­gen wur­den, an de­nen er aber kein Teil hat­te. Das ist al­les. Das Le­ben je­des Men­schen ist hei­lig, hier in der Ein­öde von Alas­ka so gut wie in New York oder in Stock­holm, mei­ne Her­ren! Sie wer­den die ei­ge­nen Hän­de nicht mit dem Blut ei­nes Men­schen be­schmut­zen, ge­gen den kein Schuld­be­weis zu er­brin­gen ist. Sie wer­den Ihr Ge­wis­sen rein hal­ten, mei­ne Her­ren Ge­schwo­re­nen!«

Fro­na hat­te un­er­hört plä­diert, mit Wucht und Feu­er, aber der Bei­fall, der sich nun er­hob, war so ra­send, dass sie selbst spür­te: er galt der tap­fe­ren Frau, der hüb­schen Frau, nicht ih­ren Ar­gu­men­ten. Zor­nig wand­te sie sich noch ein­mal an die Ver­samm­lung:

»Ich habe nicht um Ihren Bei­fall ge­buhlt, mei­ne Her­ren! Klat­schen Sie nicht in die Hän­de, als ob ich eine Schau­spie­le­rin wäre, son­dern ge­hen Sie in sich und be­reu­en Sie, dass Sie ei­nem Men­schen, der nichts ver­bro­chen hat, die qual­volls­ten Stun­den be­rei­tet ha­ben!«

Bill Brown gab sei­ne Sa­che nicht ver­lo­ren. Das Pa­thos, das manch­mal aus sei­nen Wor­ten ge­spro­chen hat­te, ließ er zu­nächst frei­lich fal­len, sein Plä­doy­er be­gann mit spitz­fin­di­ger Bos­heit und über­le­ge­nem Hohn. Aber spä­ter fiel er wie­der in Em­pha­se.

»Frem­de Män­ner, die kei­ne Spur zu­rück­ge­las­sen ha­ben, von de­ren Kom­men und Ge­hen nie­mand et­was ge­hört hat, sind in Borgs Hüt­te ein­ge­drun­gen, An­ge­klag­ter? Ihr Gast­wirt und sei­ne Frau sind in Ih­rer Ge­gen­wart er­mor­det wor­den, in lan­gem Kampf, wie die Ver­tei­di­gung be­wie­sen hat, und an Ihrem Kör­per ist kei­ne Schram­me zu se­hen? Von der ar­men In­dia­ne­rin hat man er­war­tet, dass sie ein­griff, dass sie min­des­tens die Tür auf­riss und mit gel­len­dem Ge­schrei Hil­fe her­beihol­te?

Aber Sie!

Ein Mann, der sich so vie­ler Hel­den­ta­ten rühmt, Sie ha­ben nicht ge­kämpft, Sie ha­ben nicht ein­mal ge­wagt, um Hil­fe zu ru­fen? Es mag vie­les dun­kel sein, was in die­ser dunklen Hüt­te in der ver­häng­nis­vol­len Nacht ge­sche­hen ist, aber Ihr Ver­hal­ten ist nicht dun­kel! Ob Sie ge­mor­det oder still­schwei­gend zu­ge­se­hen ha­ben, wie ge­mor­det wur­de, das geht uns wirk­lich nichts an! Auf je­den Fall liegt Ihre Schuld klar zu­ta­ge, Sie ha­ben min­des­tens das scheuß­lichs­te Ver­bre­chen be­gan­gen, das man in die­sem Lan­de kennt: das Ver­bre­chen nichts­wür­di­ger Feig­heit! Und des­halb hat die ster­ben­de Bel­la ih­ren letz­ten Atem ver­strömt, um Sie an­zu­kla­gen. ›Mör­der! Mör­der!‹ hat sie Ih­nen zu­ge­ru­fen, und die zit­tern­de Stim­me die­ser Frau soll jetzt in un­se­rem Mund noch ein­mal tö­nen, mit sol­cher Wucht und mit sol­cher Kraft, dass sie Ih­nen bis zur letz­ten Mi­nu­te Ihres Le­bens in den Ohren dröhnt: ›Mör­der! Drei­mal fei­ger Mord­bu­be!‹«