Irr(e)-Fahrt_nach_Wien_-_Ein_Reisetagebuch_

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Irr(e)-Fahrt nach Wien

Ein Reisetagebuch

J. B. Camelon

Umschlaggestaltung: J. B. Camelon

Zeichnungen: J. B. Camelon, Thomy Kessler

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-844-4568

INHALTSVERZEICHNIS

Vor dem 1. Tag: In der Stammkneipe / letzte Vorbereitungen

(Passau)

Montag, 20. September

1. Tag: Abfahrt / erste Pannen / Bekanntschaft mit Felix und den „Schmeißfliegen“

(Passau – Aschach)

Dienstag, 21. September

2. Tag: Werkstatterfahrungen / Klaustrophobie / Bekanntschaft mit Kathrin und Jens

(Aschach – Linz – Mauthausen – Mitterkirchen)

Mittwoch, 22. September

3. Tag: Endlich neue Schuhe! / Besichtigung vom Stift Melk (fehlgeschlagener Versuch) / „per Du“ mit den Schmeißfliegen

(Mitterkirchen – Ybbs – Melk)

Donnerstag, 23. September

4. Tag: Zeckenbiss! Krankenhaus! Und noch eine Phobie… / Stiftsbesichtigung / Schlange!! / Taschenmesser weg /Wiedersehen mit Kathrin und Jens / Restaurantabend mit den Schmeißfliegen

(Melk – Dürnstein - Krems)

Freitag, 24. September

5. Tag: Unfall!! / Abschied von den „Schmeißfliegen“ / Einzug in die Jugendherberge / Bekanntschaft mit drei Amerikanerinnen

(Krems -Wien)

Samstag, 25. September

6. Tag: Besuch der Schlösser „Schönbrunn“ und „Belvedere“ / Café „Havelka“/ Knie! Knie! Knie! Knie! (Wien) Sonntag, 26. September 7. Tag: Möbelauktion im „Dorotheum“ / Versuchte Besichtigung der Spanischen Hofreitschule / Prater / Suche nach dem „Jazzland“ (Wien) Montag, 27. September 8. Tag: Rückfahrt mit Schnaps und Mut - und Wehmut! (Passau - Wien) Dienstag, 28. September Nach der Rückkehr: Das blaue Wunder! Fotoüberraschung (Passau) Freitag, 1. Oktober

Das sind WIR:

Supersportlich! Durchtrainiert! Bestens organisiert! 1 A ausgerüstet!

Na ja…okay…das sind wir …kaum trainiert…dürftig ausgerüstet…auf klapprigen Rädern…Yeah!!


Liste von den Dingen, die wir mitnehmen werden, weil wir sie a) unbedingt brauchen oder b) wollen (auch unbedingt):

Fahrräder, Fahrradtaschen, mindestens sechs Paar Socken, mindestens sechs Slips, zwei Ersatz-BH`s, mindestens ein Paar Schuhe abgesehen von den Turnschuhen, Pässe (!!!), Geld, und zwar Schillinge (Geld wechseln nicht vergessen!), Taschenlampen, Taschenmesser, Kugelschreiber, Adressbuch, Pflaster, Nagelfeile bzw. Schere, mindestens noch zwei T-Shirts und zwei Blusen, einen warmen Pullover bzw. Strickjacke, Schal, Jeans, Zahnpasta, Zahnbürste, Kamm, Duschgel, Deo, Regenjacke, Sonnenbrille, Sonnenbrille, Sonnencreme, was zu lesen (Buch).

Dinge, die nur Berit mitnimmt:

Kontaktlinsenreiniger, Aufbewahrungsbehälter und natürlich die Kontaktlinsen selbst, Brille plus Etui, Wimperntusche, Kajalstift, Haarclips, Haargummi, Labello.


Dinge, die nur Hannah mitnimmt:

Luftpumpe.

Chapter 1 / Vor dem ersten Tag: In der Stammkneipe / letzte Vorbereitungen

Montag, 20. September: Passau


Berit:

Als Hannah und ich neulich in der Jugendherberge Passau unsere Jugendherbergsausweise abholten, bekamen wir auch ein kleinformatiges Heftchen mit der Aufschrift „Reisetagebuch“ in die Hand gedrückt – witzige Idee! Aber während unserer Fahrradtour von Passau nach Wien, für die wir die Ausweise benötigen, werden wir wohl kaum dazu kommen, irgendwas `reinzuschreiben.

Wir wollen einfach mal `rauskommen aus der Stadt und dem Studentenalltag und uns dabei gleichzeitig sportlich betätigen. Erleben werden wir dabei wohl eher nichts Aufzeichnungswürdiges: wir werden den ganzen Tag Rad fahren und abends vermutlich völlig erschöpft in ein Jugendherbergsbett fallen. Aber jetzt kann ich schnell noch was `reinschreiben!


Also:

Bis eben saßen wir noch auf der Veranda unserer Stammkneipe „Roma“, Hannah und ich - und zwar beide aus unterschiedlichen Gründen sehr mäßig gelaunt: Hannah hat gerade einen Durchhänger, was ihr Studium angeht, und bezweifelt, dass sie ihr erstes juristisches Staatsexamen schafft, und mir geht es erstens genauso und zweitens hatten mich letzte Nacht mal wieder die in voller Laustärke abgespielten Pornofilme meiner Nachbarn um den Schlaf gebracht.


Die Videokonsumenten sind die Kellner des chinesischen Restaurants, über dem ich wohne. Dass es sich um keine Original-Geräusche, sondern Filme handelt, weiß ich nur deshalb, weil sie mal einen Nachbarn von meinem Flur gebeten hatten, ihnen den Videorekorder zu erklären und die Kassette einzulegen. Der hat mir die Story dann belustigt erzählt, als wir uns zufällig im Hausflur begegneten…er hat gut lachen: er wohnt ja auch zur Straße `raus, und nicht wie ich mit Fenster zum Hinterhof und den Chinesen gegenüber! Dann hätte er ihnen wohl nicht so bereitwillig geholfen!

Ruhestörung ist ja ohnehin mein größtes Problem in dieser miesen Bude mit den dünnen Wänden. Einmal habe ich einen Nagel in die Wand geschlagen und beim Nachbarn kam er aus der Wand `raus!

Außerdem fühle ich mich nicht mehr sicher, seit an meinem letzten Geburtstag plötzlich ein fremder Mann in meiner Wohnung stand, als ich gerade im Eingangsflur vor der Kochzeile stand und Chili Con Carne zubereitete. Ich kann mich doch nicht immer einschließen, nur weil die Tür auch außen eine Klinke hat! Ich nehme an, der Mann war auf der Suche nach lohnenden Diebstahlsobjekten. Ich brüllte ihn wütend an, und er rannte sofort weg. Es ist wohl ratsam, umzuziehen – wieder mal!


In dem komischen Wohnblock, in dem ich vorher wohnte und in dem ich Hannah kennengelernt habe, die dort immer noch wohnt, wimmelte es von obskuren Gestalten: Der schizophrene Junge, der sich die Haare mit irgendeiner Substanz zu einem spitzen Turm formte und immer mit sich selbst sprach, die polnische Prostituierte im Apartment neben meinem (die mein Vormieter mit keinem Wort erwähnt hatte), ihr ebenfalls tschechischer oder polnischer Lover, der im gleichen Haus wohnte und der manchmal, wenn ich abends nach Hause kam, neben einem Baum stand und nur wegen seiner glimmenden Zigarette zu sehen war, und nicht zuletzt mein Stalker. In der Universitätsbibliothek hatte er mich zum ersten Mal gesehen, dann ständig verfolgt, und dass er im gleichen Haus wohnte wie ich, entdeckte ich zu meinem Entsetzen an einem Silvesterabend, als ich

gerade zufällig aus dem Fenster schaute und ihn das Haus verlassen sah…


Leider merkte auch er es kurz darauf und hämmerte einmal minutenlang an Hannahs Tür, als ich mich zu ihr geflüchtet hatte. Das war schon Auszugsgrund genug!

Einmal entdeckte ich morgens Blut im Hausflur (angeblich von einer Messerstecherei, sagte eine andere Nachbarin mir).

Und auf dem Weg draußen waren sogar ziemlich oft Blutflecken. Ich weiß auch nicht…Blut hat irgend etwas an sich, dass man es sofort als solches erkennt, sogar im Dunkeln auf der Straße.

Einmal sagte ein Besucher von Hannah: „He – das steht ein Polizeiwagen vor der Tür!“ Und sie sagte:“ Na und? Es ist eher was Besonderes, wenn mal kein Polizeiwagen vor der Tür steht!“

Und dann all die Spinnen, die ich immer wieder in meiner Wohnung fand! Eine war so groß, dass ich mich fast zu Tode erschreckte, als ich sie an der Wand sitzen sah! Ich warf einen Schuh an die Wand – wobei ich anfing, wie verrückt zu zittern - und einen Freund bitten musste, die Leiche zu entsorgen, weil ich es nicht schaffte: Spinnenphobie! Beim Akt des Schuhwurfs liefen mir sogar Tränen übers Gesicht vor Entsetzen.

Selbst am Auszugstag stand noch einmal mein Stalker vor der Tür und bat um einen Liter Milch, und wenig später kam die Polizei und fragte, ob ich den Mieter So-und-so kenne.

Ich war so froh, als ich endlich wieder eine Wohnung im Zentrum gefunden hatte! Und nun habe ich dauernd das Theater mit der Ruhestörung: entweder beim Nachbarn auf der anderen Seite der dünnen Wand ist Party, oder auf der anderen Hofseite laufen die Videofilme in voller Laustärke!

Jedenfalls waren Hannah und ich beide übermüdet, genervt und schlecht gelaunt, zumal in der Kneipe nichts los war und der gelangweilte Wirt immer wieder versuchte, uns in ein Gespräch zu verwickeln.

Wir sprachen unsere ab morgen geplante Radtour nach Wien nochmal durch.

Das sind ungefähr 313 Kilometer auf dem Donauradweg, die Angaben hierzu differieren etwas, ich habe auch die Zahl 326 gelesen. Jedenfalls sind es mehr als 300 Kilometer.Insgesamt ist der Donauradweg viel länger, er führt von der Quelle der Donau in Donaueschingen bis zu deren Mündung ins Schwarze Meer und berührt dabei die folgenden Länder: Deutschland, Österreich, Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Bulgarien und Rumänien.

Aber dafür muss man dann schon sehr durchtrainiert sein und vor allem bessere Räder haben!

Hannah und ich fahren fast täglich mit unseren Fahrrädern, aber die längsten Strecken, die wir in den letzten Jahren zurückgelegt haben, waren Ausflüge vom Passauer Stadtzentrum bis zum oberen Stausee und in den Neuburger Wald, was beides innerhalb von 45 Minuten zu schaffen ist.

Und wir haben nur ganz normale Sporträder, und zwar nicht gerade neuestes Baujahr!

Dies wird unsere erste längere Tour!

Hannah ließ sich nicht von dem Vorhaben abbringen, auch den Rückweg mit dem Rad zurückzulegen. Davon wird in allen Radwanderreiseführern abgeraten: wegen Steigung und Gegenwind! Ostwärts mit der Hauptwindrichtung ist die empfohlene Fahrtrichtung. Auf dem Rückweg führe man also GEGEN die Hauptwindrichtung.

 

Hoffentlich kriege ich Hannah noch dazu herum, den Zug zu nehmen! Es sieht aber nicht danach aus. „Du hörst immer auf andere!“ warf sie mir vor. „Ein Reiseführer ist nicht ANDERE! Das sind gesammelte Erfahrungswerte!“ entgegnete ich. „Ach Quatsch!“ Und so gab ein Wort das andere.

Was ist nur mit ihr los? So ein Dickkopf! Und ich kann einfach keinen plausiblen Grund erkennen, wider alle Vernunft mit den Rädern zurückzufahren! Wie soll das erst werden, wenn wir unterwegs sind, wenn wir jetzt schon streiten!

Ich bereue diese Schnapsidee schon halb.


Mir wird auch allmählich klar, dass wir nicht besonders toll vorbereitet sind mit unseren alten Fahrrädern.

Die Kneipenwirte haben uns heute Abend noch schnell Satteltaschen geliehen, als sie von unserem Vorhaben hörten. Zufällig hatten sie auch gerade eine Radtour gemacht und die Satteltaschen noch in einem Nebenraum der Kneipe herumliegen. Die sind knallbunt - damit leuchten wir dann wohl kilometerweit!

Wir hatten überlegt, dass es mit Rucksack eigentlich auch gehen müsste: wenn man damit stundenlang laufen kann, müsste man damit auch stundenlang Rad fahren können, oder? Die Wirte schüttelten nur die Köpfe über diese Idee.


Als Hannah und ich uns gerade so richtig wegen der Rückfahrt in den Haaren hatten, kam Daniel mit zwei Freunden in die Kneipe. Er sah die Radtaschen, hörte von unserem Vorhaben – und lachte schallend! Wie all unsere Freunde und Bekannten auch!

Keiner traut uns die 300-Kilometer-Tour zu, aber denen werden wir`s schon zeigen!


Daniel – den ich eigentlich nur oberflächlich von einem gemeinsamen Nebenjob her kenne, woher also will er beurteilen, wie sportlich ich bin? - wies uns freundlicherweise noch darauf hin, dass es laut Wetterbericht ab morgen eine Woche in Strömen regnen soll. Daraufhin schwärmte ich ihm von meinem wasserdichten Schneehemd vor. Genaugenommen ist es nicht meins, sondern gehört meiner ehemaligen Nachbarin Ragna, die so freundlich war, es mir zu leihen. Ein todschickes Teil! Weiß, mit bunten Neonsternen auf einem Ärmel. Ragna war etwas ungehalten, als sie mich dabei erwischte, wie ich an der Innpromenade in ihrem Schneehemd herumspazierte: “Jetzt schon???“ Ich soll es wohl nur für alle Fälle einpacken. „Es darf ruhig regnen - ich habe ein ganz tolles Schneehemd! Es ist semipermeabel!“ sagte ich stolz zu Daniel. „Na super“, meinte er, „dann läuft der Regen ja nur rein und nicht `raus!“ So eine miesmacherische kleine Ratte. Gönnt einem auch nichts. Als er anfing, uns einen Horrorfilm zu erzählen (er kam nämlich gerade aus dem Kino), gingen wir entnervt.

Hannah ist schon nach Hause gefahren. Und zwar mit dem Fahrrad! Denn das Haus, in dem sie wohnt (und in dem ich auch mal wohnte), liegt ja ziemlich weit weg vom Zentrum, durch den Tunnel auf die andere Seite der Donau, Richtung Ilzstadt, und dann noch einen Berg `rauf.

Sie fährt die Strecke natürlich mindestens einmal täglich, und deshalb ist sie viel trainierter als ich. Denn ich kann seit dem letzten Umzug überall zu Fuß hingehen. Außer, ich will Hannah besuchen oder zum Stausee.


Angeblich befahren jährlich ungefähr 300.000 Leute den Donauradweg. Es ist nach dem Bodenseeradweg die zweitmeistbefahrene Radstrecke Europas. 60.000 – 70.000 Leute fahren jährlich die ganze Strecke von Passau nach Wien. Was die können, können wir auch! Ich wüsste nicht, warum nicht!


Ich denke, ich bin mit den Vorbereitungen für morgen so gut wie fertig. Ich habe alles, was ich morgen mitnehmen will, aus den Schränken genommen und auf dem Fußboden aufgestapelt. Und ich habe sogar noch das Geschirr für morgen früh bereitgestellt und die Kaffeemaschine vorbereitet, damit Hannah und ich bei mir frühstücken können, bevor wir losfahren…man, ich bin richtig aufgeregt!!

Andere machen jedes Jahr mehrere Urlaube, und zwar viel weiter weg quer über den Erdball – aber wir als arme Studentinnen haben solche Erfahrungen eben nicht zu verbuchen. Für uns ist dies jetzt was Besonderes. Und wir können dann auch endlich mal sagen:“ Wir waren im Urlaub!“


Spaßeshalber werden wir auch dieses Reisetagebuch einpacken, aber auch Hannah meint: „Da schreiben wir sowieso nichts `rein.“

Sooo, ich habe das dumpfe Gefühl, dass ich sowieso nicht schlafen kann. Ich glaub`, ich geh nochmal kurz in die Disco, um ein paar Leute zu treffen - aber nicht lang! Ich muss noch die Fahrradtaschen packen, und wir wollen ja morgen um acht Uhr früh aufbrechen!

Chapter 2 / 1. Tag: Abfahrt / erste Pannen / Bekanntschaft mit Felix und den „Schmeißfliegen“
Dienstag, 21.September: Passau - Aschach


Hannah:

Eigentlich wollte ich schon um acht Uhr bei Berit sein, aber von wegen! Daraus wurde nichts. Erst gegen halb neun stand ich mit schlechtem Gewissen vor dem China-Restaurant, über dem Berit wohnt, und erwartete, dass sie mir wegen der Verspätung Vorwürfe machen würde, denn sie ist ein richtiger Pünktlichkeitsfanatiker!

Stattdessen meldete sich erst nach dem sechsten Klingeln über die Sprechanlage, und zwar total verpennt: „Was machst du denn hier – jetzt schon???“

Ich ging die Treppe hoch zu ihr in den dritten Stock (einen Fahrstuhl hat dieses alte Gemäuer leider nicht) und dachte, ich sehe nicht recht: Da stand sie im Bademantel, mit verquollenen Augen, gerade aus dem Bett gepurzelt, und entschuldigte sich wortreich. Während sie duschte, ging ich nochmal los und besorgte Semmeln. Und kochte Kaffee!


Berit:

Na ja, es ist gestern doch noch etwas später geworden. Peinlich! So früh loszufahren, war ja eigentlich meine Idee gewesen, glaube ich mich zu erinnern. Während Hannah Kaffee kochte, packte ich meine Radtaschen, dazu war ich letzte Nacht leider nicht mehr gekommen.

Wie geplant, frühstückten wir gemeinsam. Das Frühstücksgeschirr musste dann stehenbleiben, weil wir uns einbildeten, in Zeitdruck zu sein. Aber wir hatten noch die sicherlich sehr sinnvolle Idee, unsere Fahrradketten zu ölen! Nur womit? Ich hätte schwören können, dass ich irgendwo so in kleines Plastikfläschchen mit einer Art langen Tülle herumstehen hatte, das Fahrradöl enthielt. Aber nachdem ich überall gesucht hatte – auch im Badezimmer und im Küchenschrank – ohne fündig zu werden, benutzten wir schließlich Salatöl. Das müsste eigentlich den gleichen Effekt haben. Öl ist Öl, oder?

So extrem war unsere Verspätung dann gar nicht, relativ pünktlich um zehn fuhren wir los!


In unserem Reiseführer wird Passau als Dreiflüssestadt mit barock-italienisch geprägtem Stadtbild bezeichnet. Interessant. Was ist noch mal „Barock“? Ich glaube, Barock ist immer rund und Gotik ist spitz. Nachdem ich schon ein paar Jahre in dieser Stadt lebe, werde ich mich bei Gelegenheit diesbezüglich mal schlau machen. Ist ja peinlich.

Das Schöne an Passau ist, dass man fast jeden, den man trifft, schon mal gesehen hat. Die Stadt hat ja nur um die 50.000 Einwohner und ein relativ kleines Zentrum. Wenn man samstags in der Fußgängerzone jemand trifft und sich festratscht, laufen innerhalb der nächsten halben Stunde garantiert zwanzig andere Leute an einem vorbei, die man kennt. Andererseits hat das auch Nachteile: wenn man mal eine schlechte Phase hat (so wie Hannah und ich zur Zeit) und gern für eine Weile niemand treffen will, hat man keine Chance, in irgendeinem anderen Stadtteil unterzutauchen.

Während man in einer Großstadt auch in anderen Stadtvierteln Kinos, Kneipen, Restaurants, Geschäfte etc. findet und eine Großstadt eigentlich eine Ansammlung aus lauter Kleinstädten ist, hat man in Passau nur die Wahl zwischen ganz zuhause zu bleiben oder die Stadt für eine Weile zu verlassen, wenn man für eine Weile niemandem, den man kennt, begegnen möchte.

Hannah und ich brauchen einfach mal eine kleine Luftveränderung. 300 Kilometer ist nicht wirklich eine Riesenentfernung, aber da wir ja mehrere Tage unterwegs sein werden, wird es uns viel weiter vorkommen!

Das erste Problem stellte sich bereits fünf Minuten nach der Abfahrt, da wir uns nicht einigen konnten, in welcher Richtung der Grenzübergang Achleiten liegt, und unsere zahlreichen Karten zu Rate ziehen mussten.


Hannah:

Peinlich, peinlich…hoffentlich hat uns keiner beobachtet, der uns kennt! Der Zöllner an der Grenze grinste über das ganze Gesicht, als wir ihm übermütig entgegenschlingerten. Natürlich mussten wir anhalten. Mich wies er freundlicherweise darauf hin, dass mein Ausweis in einem Jahr abläuft, der von Berit sei erst in neun Jahren fällig. Woraufhin ihm Berit versicherte: „Na ja, bis dahin bin ich wieder zurück“!


Berit:

Gleich hinter der Grenze fielen und zwei Männer mittleren Alters auf! Ebenfalls auf Rädern. Der eine hatte Radtaschen, der andere hatte eine Sporttasche auf den Gepäckträger geklemmt. Offensichtlich hatten auch sie eine längere Tour vor sich, die sie spontan geplant hatten. Hannah belegte sie sogleich mit dem liebevollen Kosenamen „Schmeißfliegen“ und äußerte die düstere Zukunftsprognose, dass wir sie wohl bis Wien nicht mehr loswürden!

(Bis hierher – Aschach – hat sich dies bewahrheitet. Wir sitzen gerade in einer Kneipe, während wir dies hier schreiben – hoffentlich kommen die beiden nicht gleich `rein!)



Hannah:

Bloß nicht!

Zunächst rasten wir ganz euphorisch los; das heißt, Berit raste, ich strampelte mühsam hinterher. Kein Wunder, denn sie hatte wesentlich ökonomischer gepackt als ich (= ein Paar Schuhe reicht) und deshalb nur leichtes Gepäck; ich dagegen habe meine Radtaschen total vollgestopft mit allem, was ich in der Eile gefunden habe und meinte, auf der Reise gebrauchen zu können…ich wollte ja pünktlich bei Berit sein, die sich dann schön viel Zeit zum Packen nahm, während ich das Frühstück machte! Das war etwas unfair.


Berit:

Gar nicht wahr! Was kann ich dafür? Hannah hätte ja auch schon am Abend vorher in Ruhe packen können, statt in letzter Minute, bevor sie losfuhr zu mir. Hannah – denk dran, dass ich nicht nur was Neues `reinschreibe in dieses Heft, sondern auch das lese, was du geschrieben hast…!

Meine Packweise erklärt sich daraus, dass erstens meine Taschen kleiner sind und zweitens ich meine Schuhe VERGESSEN habe! Mal sehen, vielleicht lässt sich unterwegs, spätestens in Wien, ein preiswertes Paar auftreiben.

Nach den ersten fünfundzwanzig Kilometern besichtigten wir das Stift Engelhartszell, ein altes Zisterzienserkloster. Außerdem kauften wir Lebensmittel (10 Schillinge) und ich ging aufs Klo (1 Schilling).

Wir kamen dann zur Schlögener Schlinge: laut Reiseführer durchquert hier die Donau in einer 180 Gradkehre die Böhmische Masse. Hä? Und was heißt das jetzt? Etwa, dass wir genau in entgegengesetzter Richtung weiterfahren, indem wir uns um 180 Grad drehen? Dann müssten wir in wenigen Stunden wieder in Passau sein. Wieso kann man sich in einem Reiseführer nicht so ausdrücken, dass es jeder versteht?

Streckenweise hatten wir Gegenwind.


Hannah:

Hoho, und was für ein Orkan uns entgegenkam! Berits Kommentar dazu: „Wenn wir jetzt aufhören zu treten, treiben wir nach Passau zurück!“



Berit:

Aber größtenteils war die Strecke sehr angenehm, abgesehen von dem Detail, dass plötzlich mein Vorderreifen platt war! Da standen wir nun, umgeben von Bäumen, links die Donau, rechts die Berge, kein Mensch weit und breit, schon gar keine Reparaturwerkstatt. Das war doch nicht zu glauben! Kaum sechs Stunden unterwegs und schon eine Panne! Wenn das Daniel und die anderen wüssten! (Werden wir denen natürlich nicht erzählen. Das behalten wir wohl lieber für uns.) Hannah behauptete hartnäckig: „Das liegt am Ventil!“ Leider entdeckten wir, dass das Ventil nicht austauschbar war….

Hannah:

…und dass der Schlauch tatsächlich ein piepsiges Loch hatte! Das heißt: nicht wir entdeckten das, sondern so ein barmherziger Streckengenosse. Während wir ganz „fachmännisch“ (…) mit Schraubenzieher, nassem Taschentuch und Luftpumpe herumhantierten, ertönte plötzlich eine Stimme: “Können wir euch helfen?“ und schon stand der Retter neben uns! Ein absoluter Profi:

Eins-A-gestylt von der Socke bis zu den Handschuhen, die er auch während seines Einsatzes nicht auszog. Das weibliche Pendant dazu, wohl wie er um die vierzig Jahre alt und vermutlich seine Frau, stand daneben und leistete seelischen Beistand.



Berit:

Der Retter heißt übrigens Felix, also „der Glückliche“, aber die Glücklichen waren wohl eher wir! Den besagten Mangel entdeckte er übrigens, indem er den Schlauch mit der Zunge befeuchtete (igitt!!).

 

Hannah:

Er wollte dann wissen: „Habt ihr einen Ersatzschlauch?“ und Berit antwortete: „Nein, aber ein Flickzeug.“ So musste er nun wohl oder übel anfangen, das Loch zu flicken.

Berit:

Felix diagnostizierte außerdem, dass ein falscher Schlauch im Vorderreifen war, nämlich einer für ein Rennrad, und dass außerdem das Ventil ein nicht austauschbares Blitzventil war, was wir ja auch schon selbst festgestellt hatten. Ich hatte das Rad vor drei Jahren für 100 DM von einem japanischen Studenten gekauft, der nach Tokio zurückkehren wollte und dort kein Rad brauchte. Er hatte es ein Jahr zuvor von jemandem gekauft, der es auch aus zweiter Hand hatte. Kurz nachdem ich es gekauft hatte, fing die schwarze Farbe an, abzublättern. Darunter war das Rad silberfarben! Auch der Markenname war überpinselt, und der Rückstrahler mit einem anderen Markennamen gehörte gar nicht an das Fahrrad. Jetzt erinnere ich mich plötzlich daran, dass, als vor einigen Monaten auch mal irgendwas kaputt war am Rad, ein Bekannter von mir ausrief:“ Die Teile an deinem Fahrrad stammen ja aus verschiedenen Jahrhunderten!“ Ich hatte mir bei dem Satz gar nichts weiter gedacht. Und nun passten nicht mal Schlauch und Mantel zusammen! Wie soll man überhaupt ein richtiges Ersatzteil beschaffen, wenn man nicht mal weiß, wer der Hersteller des Fahrrades ist?

Erschwerend kam hinzu, dass Hannah und ich das Ventil bei unseren Reparaturbemühungen total verbogen hatten.

Ich erkundigte mich bei Felix nach den Vorzügen eines Blitzventils, und er sagte: „Damit kann man in einer affenartigen Geschwindigkeit aufpumpen!“ Was er tat auch tat – er pumpte wie besessen. Nur leider hielt der Reifen die Luft nicht, und je mehr Felix sich abmühte, desto tiefer sank sein Stimmungsbarometer. Ziemlich genervt beförderte er plötzlich aus seinen Radtaschen einen neuen Schlauch zutage und machte Anstalten, ihn auf meinen Reifen zu montieren.


Hannah:

Ich war total platt und konnte es nicht fassen:“ Den wollen Sie uns wirklich geben?“ „Na ja, es bleibt mir wohl nichts anderes übrig“, sagte Felix in resigniertem Tonfall. Okay, schon verstanden. Nachdem er vorher den Kavalier herausgekehrt hatte, wollte er jetzt nicht kneifen! Wir sagten vorsichtshalber nichts, während Felix sich weiter abmühte, um diese einmalige Chance auf einen nagelneuen Ersatzschlauch nicht zu verderben. Jedoch leider passte der Ersatzschlauch nicht! Nun war auch Felix ratlos. Aber wie es der Zufall wollte: mitten in dieser absoluten Verzweiflungsphase kam Retter Nr. 2: ein sympathischer mitteljunger Mann nebst Freundin. Der stellte dann fest: Das Ventil ist absolut in Ordnung! Nach dem Blas-, Druck- und Knet-Test des Schlauches musste auch Felix dies akzeptieren. Als nun vier fremde Leute sich um unser Reparaturproblem rissen und Berit und ich entmündigt daneben standen, bekam ich einen Lachkrampf und hatte Mühe, ihn zu unterdrücken!

Berit:

Hannah schaffte es absolut nicht, ihren Lachkrampf zu unterdrücken und die beiden fremden Männer sahen sie stirnrunzelnd an; sie fühlten sich wohl ausgelacht und nicht ernst genommen. Das junge Paar fuhr weiter. Felix schwang den kaputten Schlauch und fragte uns: “ Probieren wir`s?!“ Wir nickten resigniert, und er montierte den kaputten Schlauch wieder auf den Reifen. Dann fuhren auch er und seine Frau eilig weiter. Er drehte sich noch einmal um und rief: „ Wenn wir uns in Aschach in einer Kneipe treffen, können Sie mir ein Bier ausgeben!“ Wofür denn eigentlich? Höchstens für Mühe und Zeit, bzw. Zeitverschwendung, denn das Ergebnis ist ja leider gleich null! Auch wir radelten eilig weiter, nachdem Hannah ihr zahlreiches Werkzeug zusammengeklaubt hatte. Die Reparaturbemühungen von Felix erwiesen sich bald als unzureichend, was kein Wunder war, nachdem Felix ja eigentlich nichts anderes getan hatte, als den kaputten Reifen wieder aufzupumpen.

Der Reifen ließ leider sehr bald wieder Luft, ich hielt das Rad fest und Hannah pumpte wie wild.


Und siehe da – wer kam da wohl hoch zu Rad des Weges? Die Schmeißfliegen! Also die beiden Männer, die wir schon kurz nach der Abfahrt gesehen hatten! Hilfsbereit bleiben sie stehen und sprachen uns an. Sie hatten, wie sie berichteten, zwischendurch auch einen Platten gehabt. Nachdem wir ihnen von unserem Malheur berichtet hatten, waren sie voller Hochachtung, dass wir in zwischen genauso weit gefahren waren wie sie: immerhin inzwischen mehr als 50 km insgesamt!!



Hannah:

O je, und dann machten die beiden ihrem Kosenamen alle Ehre….Aber ich muss zu gegeben, dass sie zum Aufpumpen des besagten eigenwilligen Vorderreifens von Berit durchaus zu gebrauchen waren! Ganz Kavalier, nahmen sie mir die Pumpe aus der Hand und mühten sich ihrerseits damit ab. Und tatsächlich: es funktionierte! Die Luft hielt vorläufig! Tja, und dann bot sich eine gemeinsame Weiterfahrt natürlich geradezu an…


Berit:

„Glauben Sie ja nicht, wir würden uns absichtlich an Ihre Katzenaugen heften! Mein Computer sagt mir: wir haben die gleiche Geschwindigkeit: 18 km / h!“ sagte der eine. Wir beeilten uns, zu versichern, dass wir uns natürlich in keinster Weise von ihnen verfolgt fühlten!


Hannah:

Unter diesen Schmeißfliegen muss man sich zwei Herren um die fünfzig vorstellen, durchaus attraktiv und gepflegt und mit Top-Fahrrädern. Als Begleiter für uns aber natürlich viel zu alt! Sie würden uns irgendwie das Gefühl vermitteln, als wären wir mit zwei Aufsichtspersonen unterwegs, zwei ältliche Onkel oder so!! Sie sind übrigens sehr neugierig: nach Strich und Faden wurde wir nach unserem Studentenleben ausgefragt. Als die beiden mal kurz hinter uns zurückblieben, warf mir Berit einen vielsagenden Blick zu und raunte mir zu: „Die sind doch schwul, oder?“ Auf diese Idee war ich noch überhaupt nicht gekommen!

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