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Die Schlucht

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»Ist er jetzt dort?« fragte er, auf die Schlucht zeigend.

Man hörte seinen schweren, keuchenden Atem. Sie sah ihn voll Bestürzung an und trat hinter die Bank.

»Ich fürchte mich, Iwan Iwanowitsch, verschonen Sie mich! Gehen Sie fort!« flüsterte sie voll Entsetzen, während sie beide Arme vorstreckte, als wollte sie ihn von sich abwehren.

»Zuerst schlage ich ihn tot, dann . . . gehe ich fort!« sagte er, seiner selbst kaum mächtig.

»Wollen Sie das um meinetwillen tun . . . oder um Ihretwillen?«

Er schwieg und sah zu Boden. Dann begann er mit großen Schritten auf und ab zu gehen.

»Was soll ich tun? Belehren Sie mich, Wjera Wassiljewna!« sprach er, immer noch ganz außer sich vor Zorn.

»Vor allem beruhigen Sie sich und sagen Sie mir, warum Sie ihn töten wollen! Sie wissen nicht, ob ich das will . . .«

»Er ist Ihr Feind, und folglich auch . . . der meinige . . .« sagte er kaum vernehmlich.

»Soll man denn seinen Feind töten?«

Er senkte den Kopf auf die Brust und sah die Stücke der zerbrochenen Peitsche zu seinen Füßen. Er hob sie auf, als ob er sich seines Wutanfalles schämte, und steckte sie in die Tasche seines Mantels.

»Ich habe mich nicht über ihn beklagt, vergessen Sie das nicht! Ich allein bin schuld . . . er ist im Recht . . .« sprach sie leise mit so schmerzlichem, von furchtbarer innerer Qual zeugendem Ausdruck, daß Tuschin unwillkürlich ihre Hand ergriff.

»Sie müssen entsetzlich leiden, Wjera Wassiljewna!« sagte er.

Sie schwieg, während er sie voll Teilnahme und Verwunderung ansah.

»Ich verstehe nicht . . .« fuhr er fort – »er soll im Recht sein, Sie beklagen sich nicht . . . wovon wollten Sie dann mit mir reden? Warum haben Sie mich hierher gerufen? . . .«

»Ich wollte, daß Sie alles wissen sollen . . .«

Sie wandte sich ab und blickte schweigend nach der Schlucht. Auch er sah dorthin und blickte dann mit fragendem Ausdruck auf sie.

»Hören Sie, Wjera Wassiljewna, lassen Sie mich nicht im Dunkeln tappen! Wenn Sie es für notwendig hielten, mir ein Geheimnis anzuvertrauen, das . . .« – er mußte sich bei diesen Worten sichtlich Zwang antun – »das nur Sie allein angeht, dann erklären Sie mir die ganze Geschichte . . .«

»Ich wußte nicht, wie ich Ihr heutiges Benehmen deuten sollte . . . Der Ausdruck Ihres Gesichts, die sonderbaren Blicke, die Sie mir zuwarfen – das alles ließ mich annehmen, daß Sie um die Sache wissen. Ich wollte offen mit Ihnen reden, wollte Ihre Meinung ergründen . . . Ich habe vorschnell gehandelt . . . Doch das ist nun gleich, früher oder später hätte ich Ihnen alles gesagt . . . Setzen Sie sich, hören Sie mich an – und dann stoßen Sie mich von sich!«

Er stützte die Ellbogen auf die Knie, barg sein Gesicht in den Händen und hörte zu, wie sie ihm in kurzen Worten ihre Geschichte erzählte. Er stand auf, ging ein Weilchen auf und ab und blieb dann vor ihr stehen.

»Sie haben ihm vergeben?« fragte er.

»Was vergeben? Sie sehen, daß . . . ich allein schuld bin . . .«

»Und . . . Sie haben Abschied von ihm genommen? – Oder hoffen Sie, daß er sich besinnt und zurückkehrt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Zwischen uns ist nichts Gemeinsames . . . wir sind innerlich längst geschieden. Ich werde ihn niemals wiedersehen.«

»Jetzt beginne ich ein wenig zu begreifen, wenn ich auch noch nicht ganz klar sehe,« sagte Tuschin nach kurzem Besinnen und atmete tief auf wie ein Stier, von dessen Halse man das Joch genommen. »Ich dachte, Sie seien frech hintergangen worden . . .«

»Nein, nein . . .«

»Und Sie rufen mich zu Hilfe; ich dachte, Sie riefen den Bären, daß er Ihnen zu Diensten sei – es wäre ein rechter Bärendienst geworden,« fügte er, die Trümmer seiner Peitsche aus der Tasche ziehend und ihr vorzeigend, hinzu.

»Darum nur stellte ich diese ungehörige Frage nach dem Namen . . . Verzeihen Sie mir, um Gottes willen, und sagen Sie mir noch das eine: warum haben Sie mir das alles anvertraut?«

»Ich wollte nicht, daß Sie von mir besser denken, als ich es verdiene . . . wollte nicht eine Hochschätzung genießen, deren ich nicht wert bin . . .«

»Wie wollen Sie das bewirken? Ich werde von Ihnen nie anders denken, als ich stets gedacht habe, und werde Sie genau so hochschätzen, wie ich es immer getan.«

Ein Lichtstrahl erglänzte in ihren Augen und erlosch sogleich wieder.

»Sie wollen sich zu dieser Hochschätzung zwingen,« sagte sie. »Sie sind gut und großmütig: die arme Gefallene tut Ihnen leid, Sie wollen sie aufrichten . . . Ich kann Ihre Großmut verstehen, Iwan Iwanowitsch, doch ich bedarf ihrer nicht. Wessen ich bedarf, das ist, daß Sie alles wissen, daß Sie Ihre Hand nicht zurückziehen, wenn ich Ihnen die meinige reiche.«

Sie hielt ihm ihre Hand hin, und er küßte sie. Mit Ungeduld hatte er ihre Worte angehört.

»Ich kann mich nicht zwingen, Wjera Wassiljewna, jemanden hochzuschätzen,« sagte er in zurückhaltendem, fast beleidigtem Tone. »Ein Tuschin lügt nicht. Wenn ich jemanden hochachte, so zeige ich ihm das auch, und wenn ich es nicht tue, lasse ich ihn darüber nicht im Zweifel, wie ich über ihn denke. Sie aber schätze ich ganz so, wie ich Sie bisher geschätzt habe, und ich liebe Sie – verzeihen Sie, daß ich das Wort schon wieder gebrauche – vielleicht noch mehr als früher, weil Sie . . . unglücklich sind. Sie haben einen großen Kummer, ganz so wie ich. Sie haben die Hoffnung auf Glück verloren . . . es war nicht notwendig, daß Sie mir Ihr Geheimnis anvertrauten . . .« fügte er düster, fast verzweifelt hinzu. »Hätte ich es selbst von anderer Seite erfahren, ich hätte nicht aufgehört, Sie zu achten. Sie sind nicht verpflichtet, dieses Geheimnis irgend jemandem preiszugeben. Es gehört Ihnen ganz allein, niemand darf sich darum zu Ihrem Richter aufwerfen.«

Nur mit Mühe stieß er diese Worte hervor und seufzte schwer auf, als er zu Ende gesprochen, wobei er sich bemühte, Wjera diesen Seufzer nicht hören zu lassen. Seine Stimme bebte wider seinen Willen. Man sah es ihm an, daß die Bürde dieses Geheimnisses, die er Wjera erleichtern wollte, jetzt auch auf ihm schwer lastete. Er litt – und wollte es um jeden Preis vor ihr verbergen, daß er litt . . .

»Ich hätte es Ihnen doch sagen müssen, sobald Sie mir Ihren Antrag machten . . . Ich durfte Sie nicht belügen.«

Er schüttelte verneinend den Kopf.

»Meinen Antrag konnten Sie mit einem kurzen ›Nein‹ beantworten,« sagte er. »Da Sie mich aber Ihrer besonderen Freundschaft würdigen, hätten Sie mir, um mir dieses ›Nein‹ zu versüßen, in Ihrer liebenswürdigen, gütigen Art zu verstehen geben sollen, daß Sie einen andern lieben. Das hätte genügt. Ich hätte nicht einmal gefragt, wen Sie lieben. Das Geheimnis aber hätten Sie für sich behalten sollen, darin hätte durchaus kein Betrug gelegen. Ja, wenn Sie trotz der Liebe zu einem andern meinen Antrag angenommen hätten . . . aus Furcht, oder aus sonst einem Grunde: das wäre ein Betrug gewesen . . . ein Fehltritt, eine Ehrlosigkeit. Doch deren sind Sie eben nicht fähig. Und das da . . .« er nickte mit dem Kopfe nach der Schlucht und fügte im Flüstertone, wie für sich, hinzu: »das ist ein Unglück . . . ein Irrtum . . .«

Nur schwer und langsam kamen die Worte aus seinem Munde, seine ganze Bärenkraft bot er auf, um den eignen Schmerz zu unterdrücken, damit sie nur ja nicht merkte, was in ihm vorging.

»Ein Unglück!« flüsterte er. »Er geht gerechtfertigt aus der Schlucht hervor – und Sie als die Schuldige! Wo steckt da die Wahrheit? . . .«

»Ich hätte es Ihnen auf jeden Fall gesagt, Iwan Iwanowitsch. Nicht um Ihretwillen, sondern um meinetwillen hätte ich es getan . . . Sie wissen, wie sehr ich Ihre Freundschaft schätzte: es wäre für mich eine Qual gewesen, es vor Ihnen zu verheimlichen. Jetzt ist mir leichter ums Herz – ich kann Ihnen in die Augen sehen, ich hintergehe Sie nicht, habe Sie nicht getäuscht . . .«

Tränen erstickten Ihre Stimme, und sie barg ihr Gesicht in ihrem Taschentuch. Er selbst war nahe daran zu weinen, doch zuckte er nur zusammen, verneigte sich und küßte ihr wieder die Hand.

»Das ist eine andere Sache: ich danke Ihnen, Wjera Wassiljewna!« sprach er hastig und suchte seine Erregung zu verbergen. »Ihre Worte tun mir wohl . . . ich sehe, daß Ihre Freundschaft für mich unter dem andern Gefühl nichts eingebüßt hat, daß sie stark ist, trotz des andern Gefühls . . . Das ist ein großer Trost für mich! Auch das schon wird mich glücklich machen . . . mit der Zeit, wenn wir uns beide beruhigt haben . . .«

»Ach, Iwan Iwanowitsch, wenn es doch möglich wäre, dieses Jahr aus meinem Leben auszustreichen . . .«

»Man muß es rasch vergessen – das ist so gut, als wenn es ausgestrichen würde . . .«

»Wo aber soll ich die Kraft schöpfen, um das alles zu ertragen, um zu vergessen?«

»Bei den Freunden,« flüsterte er – »und unter diesen . . . auch bei mir . . .«

Sie schien leichter zu atmen – als hätte sie wieder frische Luft geschöpft. Sie hatte das Gefühl, daß da neben ihr eine Kraft sich rege, die ihr Schutz versprach, daß in der Person dieses Mannes ein fester, granitener Berg sich vor sie stellte, in dessen Schatten sie sich flüchten und den ersten Ansturm der Verzweiflung und Enttäuschung, das Erlöschen der noch rauchenden Leidenschaft abwarten konnte.

»Ich glaube an Ihre Freundschaft, Iwan Iwanowitsch, und ich danke Ihnen,« sagte sie, ihre Tränen trocknend. »Es ist mir ein wenig leichter ums Herz . . . und es wäre mir noch leichter, wenn . . . die Großtante nicht wäre.«

»Sie weiß es noch nicht?« fragte er und schwieg dann plötzlich, in dem Gefühle, daß in seiner Frage ein Vorwurf liege.

Er neigte den Kopf und suchte sich vorzustellen, wie Tatjana Markowna das alles ertragen würde. Er konnte ein banges Gefühl nicht unterdrücken, suchte jedoch seine Befürchtungen vor Wjera zu verheimlichen.

»Heute ging es der Gäste wegen nicht, sehen Sie . . . doch morgen soll sie alles erfahren . . . Leben Sie wohl, Iwan Iwanytsch, ich leide entsetzlich . . . Ich muß mich hinlegen . . .«

 

Er sah Wjera lange an.

»Mein Gott!« dachte er, und er zitterte förmlich vor Wut – »was für ein blinder Tölpel muß dieser Wolochow sein . . . oder . . . was für eine Bestie!«

»Haben Sie nicht irgendeinen Auftrag für mich? Soll ich nicht irgendwo etwas ausrichten? . . .« fragte er.

»Ja . . . bitten Sie doch Natascha, sie möchte morgen oder übermorgen zu mir kommen.«

»Und ich – darf ich in der nächsten Woche kommen?« fragte er schüchtern – »darf ich mich erkundigen, ob Sie sich beruhigt haben? . . .«

»Beruhigen Sie sich vor allem selbst, Iwan Iwanytsch – und leben Sie wohl! Ich kann mich kaum auf den Beinen halten.«

Er verabschiedete sich von ihr und jagte mit seinen Pferden so rasch den steilen Berg hinab, daß er beinahe selbst in die Schlucht abgestürzt wäre. Ab und zu wollte er nach seiner Gewohnheit zur Peitsche greifen, doch faßte er statt ihrer nur die zerbrochenen Bruchstücke in der Tasche, die er auf dem Wege zerstreute. Dennoch kam er zu spät, um noch über die Wolga setzen zu können; er übernachtete bei einem Freunde in der Stadt und fuhr erst am nächsten Morgen in aller Frühe nach seinem Walde.

Sechstes Kapitel

Am nächsten Tage gab es in Malinowka ein reges Leben und Treiben. Das ganze Haus war in Aufregung, Lakaien, Köche, Kutscher – alle liefen geschäftig durcheinander; die einen bereiteten das Frühstück, die andern spannten die Pferde vor die Equipagen, und alle waren vom frühen Morgen ab betrunken. Nur die Großtante verhielt sich wider ihre Gewohnheit schweigsam und war sogar ein wenig niedergeschlagen, als sie Marsinka zur Fahrt über die Wolga, wo sie ihre zukünftigen Verwandten besuchen sollte, abfertigte. Sie gab ihr keine guten Lehren mit auf den Weg, keine wohlgemeinten Ratschläge und Warnungen, ja sie gab sogar auf Marsinkas Fragen, welche Kleider und sonstigen Sachen sie mitnehmen sollte, nur ganz zerstreute Antworten. »Nimm mit, was du willst,« sagte sie und beauftragte Wassilissa und die Kammerzofe Natalia, die Marsinka begleiten sollte, alles Erforderliche einzupacken.

Sie übergab ihr geliebtes Kind der Obhut Maria Jegorownas, der Mutter des Bräutigams, und schärfte diesem in ernsthaftem Tone ein, er solle dort, in seinem Dorfe, den Respekt vor seiner Braut nicht außer acht lassen, namentlich wenn Fremde, etwa die Nachbarsleute oder sonst jemand, anwesend sein sollten. Die Freiheiten, die er hier unter ihren Augen und den Augen seiner Mutter sich im Verkehr mit Marsinka herausgenommen, würden von anderen Leuten leicht falsch ausgelegt werden; namentlich solle er es unterlassen, mit ihr in Wald und Garten umherzutollen, wie er es hier getan.

Wikentjew war bei diesen warnenden Worten ein klein wenig errötet, als hätte es ihn verletzt, daß die Großtante ihm nicht Takt genug zutraute, und auch seine Mutter biß sich leicht auf die Unterlippe und klopfte in leisem Takt, wie in leichter Ungeduld, mit dem Schuh auf den Fußboden auf. Als Tatjana Markowna diese Wirkung ihrer Worte bemerkte, schlug sie sogleich einen freundschaftlichen Ton an, klopfte ihrem lieben Nikolenjka auf die Schulter und meinte, sie wisse ja selbst, wie überflüssig ihre Worte seien, aber es sei nun einmal die leidige Gewohnheit alter Weiber, Moral zu predigen. Dann seufzte sie still für sich und sprach bis zur Abfahrt der Gäste überhaupt nicht mehr. Zum Frühstück erschien auch Wjera – sie war sehr blaß, und ihre Augen verrieten, daß sie nur wenig geschlafen hatte. Sie sagte, sie fühle sich leichter, nur habe sie noch ein wenig Kopfschmerzen.

Tatjana Markowna war freundlich gegen sie, die Wikentjewa jedoch warf ihr mitten im Gespräch zwei oder drei verstohlene Blicke zu, die zu fragen schienen: »Was ist mit ihr? Warum hat sie Kopfschmerzen, ohne doch krank zu sein? Warum ist sie gestern nicht zum Mittagessen erschienen, warum kam sie nur auf einen Augenblick, um bald wieder mit Tuschin fortzugehen, mit dem sie eine ganze Stunde lang im Dämmerlicht spazieren ging? . . .« Und so weiter, und so weiter.

Die kluge und pfiffige Dame gab aber diesen Fragen weiter keine Folge, sie guckten nur so für einen Augenblick heimlich aus ihren Augen heraus. Wjera hatte jedoch die forschenden Blicke recht wohl bemerkt, obschon die Wikentjewa an Stelle des Zweifels rasch das teilnehmende Mitgefühl hatte aufmarschieren lassen. Auch Tatjana Markowna hatte die Fragen in den Augen der andern gelesen.

Wjera blieb dabei vollkommen gleichgültig, im Gegensatz zu Tatjana Markowna, die plötzlich den Kopf sinken ließ und zu Boden blickte.

»Nun werden auch schon fremde Leute stutzig – und ich weiß von nichts! Und dabei ist sie doch vor meinen Augen geboren, ist mein Kind, das mir vertrauen sollte!« dachte sie traurig.

Wjera war bleich, ihr Gesicht war wie von Stein; nichts war darin zu lesen. Alles Leben darin war wie eingefroren, obschon sie mit Maria Jegorowna, mit Marsinka, mit Wikentjew über alles mögliche sprach. Sie fragte die Schwester besorgt, ob sie sich auch mit warmem Schuhwerk versehen habe, sie ermahnte sie, für die Fahrt ein dickes Wollkleid anzuziehen, bot ihr ihren eigenen Plaid an und gab ihr den dringenden Rat, bei der Überfahrt über die Wolga im Wagen sitzen zu bleiben, damit sie sich nicht erkälte.

Raiski hatte einen Spaziergang gemacht und kehrte zum Frühstück wieder heim. Auch er hatte ein so ernstes, entschlossenes Gesicht, als ob ihm ein Zweikampf oder sonst ein ernster Schritt bevorstände, auf den er sich vorbereiten müsse. Es schien sich in seinem Wesen etwas geklärt und geformt zu haben, das düstere Gewölk von gestern schien verschwunden. Er blickte auf Wjera ebenso ruhig wie auf die andern und wich auch den Blicken der Großtante nicht mehr aus, was dieser wieder Anlaß zu neuer Beunruhigung gab.

»Der führt etwas Neues im Schilde: er blickt ganz anders als gestern, spricht auch anders, wie sich selbst zum Possen. O Gott, welch ein Wirrwarr . . . was ist nur mit ihnen?« dachte sie.

Raiski hatte den Wikentjews versprochen, sie auf zwei Tage zu besuchen, und ging mit Vergnügen auf den Vorschlag des Bräutigams ein, mit ihm auf die Jagd und den Fischfang zu gehen.

Endlich brachen die Gäste auf. Tatjana Markowna und Raiski fuhren bis ans Ufer mit, während Wjera, nach einem zärtlichen Abschied von Marsinka, sich auf ihr Zimmer zurückzog.

Es war eine enge Welt, in der Wjeras Leben sich bisher abgespielt hatte, und sie sollte nun noch enger werden. Ihre ungewöhnliche, tief angelegte Natur hatte sich lange Zeit mit dem Vorrat von kleinen Beobachtungen und Erfahrungen begnügt, die sie rings um sich eingesammelt hatte. Einige wenige Menschen ersetzten ihr die große Welt; was ein anderer durch viele Begegnungen, in vielen Jahren und an vielen Orten sich erwirbt, das hatte sie in zwei, drei stillen Winkeln diesseits und jenseits der Wolga, im Verkehr mit fünf, sechs Personen, die für sie die Menschenwelt repräsentierten, in den wenigen Jahren seit dem Erwachen ihres selbständigen Denkens sich zusammensuchen müssen. Ihr Instinkt und ihr Eigenwille hatte ihr bisher die Gesetze ihres Mädchenlebens diktiert, und ihr Herz hatte mit seinem Gefühl erraten, wem sie ohne Bedenken ihre Sympathien zuwenden dürfe.

Sie war mit dem Verschenken dieser Sympathien sehr vorsichtig gewesen – sie teilte sie nicht so verschwenderisch an alle Welt aus wie Marsinka. Abgesehen vom Kreise der Ihrigen unterhielt sie nur zu der Frau des Priesters, die ihre Busenfreundin war, und zu Tuschin, den sie ganz offen ihren Freund nannte und als solchen behandelte, engere Beziehungen. Niemand sonst konnte auf ihre Zuneigung Anspruch erheben.

Sie verlor dabei den roten Faden des Lebens nicht aus dem Auge, und die kleinen Erscheinungen rings um sie herum, die schlichten, wenig komplizierten Menschen, mit denen sie in stetem Verkehr stand, gaben ihr Gelegenheit, auch für das größere Leben da draußen ihre Schlußfolgerungen zu ziehen und ihre Willenskraft an den veralteten Begriffen, dem Despotismus und den groben Sitten ihrer Umgebung zu messen und zu üben.

Auf diesem einfachen Grunde hatte sie mit Geschick und gutem Verständnis sich den breit angelegten, kühnen Plan eines komplizierteren Lebens mit anderen Forderungen, andern Ideen und Gefühlen zurechtgelegt, die sie zwar nicht kannte, wohl aber erriet, indem sie gleichsam zwischen den Zeilen des einfachen Wirklichkeitslebens, das sie umgab, die Sprache eines anderen, höheren Lebens herauslas, nach dem ihr Geist sich sehnte und ihre Natur verlangte.

Sie hatte rings um sich geschaut und dabei nicht das gesehen, was ist, sondern das, was sein sollte, was sie gern als Wirklichkeit gesehen hätte, und da es tatsächlich nicht existierte, so entnahm sie dem einfachen Leben, das sie umgab, nur das wirklich Lebendige, Zuverlässige und schuf sich so ein Bild des Lebens, das zu jenem, welches sie umgab, bis auf wenige Ausnahmeerscheinungen im Gegensatz stand.

Und wie sie mit ihren Sympathiebeweisen vorsichtig und sparsam war, so bewegte sie sich auch im Bereich des Denkens und Wissens nur mit vorsichtigen, mißtrauischen Schritten vorwärts. Sie hatte die Bücher in der Bibliothek des alten Hauses gelesen – anfangs nur, um sich die Langeweile zu vertreiben, ohne Auswahl und System, hatte aus den Fächern genommen, was ihr gerade unter die Hand kam, war auf den Inhalt neugierig geworden und hatte schließlich einzelnes mit Begeisterung verschlungen.

Bald aber fühlte sie die Unfruchtbarkeit und Zwecklosigkeit eines solchen Herumirrens in fremden Geistesgebieten heraus. In geschickter Weise wußte sie Koslow im Gespräche auf dies und das zu führen, was sie gerade las, ohne ihn geradezu zu fragen oder ihm mit besonderem Eifer zuzuhören, wie sie überhaupt vor niemandem damit prahlte, daß sie so mancherlei wußte und kannte, was den Leuten, mit denen sie zusammenkam, verschlossen blieb. Nachdem sie so an Koslows Urteil ihr eigenes geschärft, las sie die Bücher noch einmal und fand sie nun schon weit klarer und interessanter. Später bat sie der Priester, Nataschas Gatte, ihm doch Bücher zu bringen, und wiederum hörte sie, ohne gerade zum Seminaristen zu werden, mehr oder weniger zerstreut zu, wenn er sich über die bei der Lektüre empfangenen Eindrücke und Anregungen äußerte.

Nach ihnen kam dann Mark und trug in alles das, was sie gelesen, gehört und sich an Wissen angeeignet hatte, den neuen Gedanken einer totalen Verneinung aller bisherigen Vorstellungen und Begriffe, aller göttlichen und irdischen Autorität, alles bisherigen Lebens, aller alten Wissenschaften, aller hergebrachten Tugenden und Laster hinein. In vorschnellem Triumphgefühl war er, den Sieg voraussehend, vor ihr aufgetaucht und – hatte eine Enttäuschung erlebt.

Mit Erstaunen hatte sie diesen neuen, plötzlich hervorbrechenden Strom von kühnen Ideen geschaut, doch hatte sie sich nicht blindlings von ihm fortreißen lassen, etwa in kleinlicher Furcht, daß sie sonst leicht als rückständig gelten könnte, sondern war erst einmal mit ihrer feinfühligen Vorsicht an die Prüfung der neuen Wahrheiten herangetreten, die dieser feurige Apostel so eifrig verfocht.

Vor allem fiel ihr das Schwankende und Einseitige seiner Ansichten auf – sie sah die Lückenhaftigkeit und Verlogenheit dieser Propaganda, auf die ihr Träger so viel lebendige Kraft, so viel Begabung, so viel kecken Witz verschwendete. Sie sah diese grenzenlose Eitelkeit und Dünkelhaftigkeit, die sich erhaben dünkte über die fertig vorliegenden, schlichten Lebensmaximen, einzig darum, wie sie meinte, weil sie schon fertig vorlagen.

Zuweilen glaubte sie in diesem unwiderstehlichen Drange nach einer neuen Wahrheit nur die Unfähigkeit zu sehen, sich in die alte Wahrheit hineinzufinden. Die »neue Wahrheit« erschien in der Darstellung ihres leidenschaftlichen Verfechters als ein Etwas, das man nicht erst durch Anspannung aller seelischen Kräfte, durch geistigen Kampf und geistige Anstrengung zu erringen brauchte, sondern fix und fertig in die Tasche stecken konnte, indem man einfach das Alte unterschiedslos verachtete und von den plötzlich Gott weiß woher aufgetauchten neuen Autoritäten ohne Namen und Vergangenheit, ohne Geschichte und Recht jenes Neue auf Treue und Glauben hinnahm.

Sie suchte in der neuen Lehre, die ihr Mark so begeistert vortrug, etwas Zuverlässiges und Lebendiges, auf das sie sich stützen, das sie liebgewinnen könnte – ein festes, untrügliches Fundament, wie sie es in dem alten Leben vorfand, dem sie um dieses Untrüglichen, Lebendigen und Zuverlässigen willen seine Lächerlichkeit, Schädlichkeit und Abgelebtheit verzieh.

Sie litt unter diesen offenbaren Mängeln der alten Ordnung, die sich als Hemmungen des Lebens erwiesen; sie fühlte oft genug ihre Fesseln und wäre wohl bereit gewesen, um der Wahrheit willen ihre Hand einem feurigen Kameraden zu reichen, der ihr Freund, ihr Gatte, oder was er sonst wollte, geworden wäre. Sie wäre mit ihm in den Kampf gezogen gegen die Feinde aus dem alten Lager, hätte mit ihm die Lüge bekämpft, den Schmutz fortgefegt, in die dunklen Ecken hineingeleuchtet, hätte nicht nur einen Tytschkow, sondern auch der Großtante, soweit sie sich ihrer eignen Einsicht zum Trotz auf das Alte stützte, die Gefolgschaft verweigert und sie, wenn möglich, auch selbst auf den neuen Weg geführt. Aber um dies zu können, hätte sie die feste, unerschütterliche Überzeugung gewinnen müssen, daß die Wahrheit auch wirklich bei dem Neuen war.

 

Sie traute noch nicht, war noch von schweren Zweifeln befangen, ob sie nicht irre, ob der Apostel sich auch wirklich im Besitze der Wahrheit befinde, ob dort, wohin er so leidenschaftlich strebte, in der Tat etwas so Hohes, Hehres und Heiliges sei, das die Menschen nicht nur von allen alten Fesseln zu befreien, sondern ihnen auch ein neues Amerika zu entdecken, ihnen frische Luft zuzuführen, sie über sich selbst zu erheben, ihnen mehr, als sie besaßen, zu geben vermöchte.

Sie hörte sich die Schilderungen an, die er von dem neuen Glückszustande der Menschheit entwarf, las die Bücher, die er ihr brachte, verglich, was sie an neuen Ideen darin fand mit dem, was die alten Autoritäten lehrten – und konnte kein neues Leben, kein neues Glück, keine neue Wahrheit, kurz nichts von alledem, was der kühne Apostel versprach, darin finden.

Und doch folgte sie ihm, erfüllt von dem heißen Wunsche, endlich in Erfahrung zu bringen, was sich hinter dieser seltsamen, kühnen Erscheinung verbarg.

Sie Sache lief vorläufig auf eine schonungslose Verurteilung und Verneinung alles dessen hinaus, an was die Mehrzahl der Lebenden glaubte, was sie liebte, worauf sie hoffte. Auf alles das drückte Mark den Stempel seiner Feindschaft und Verachtung. Aber Wjera sah doch auch selbst so vielerlei in der alten Zeit als verwerflich an. Sie sah und kannte all die Mängel und Leiden auch ohne ihn – und wollte von ihm nun wissen: wo ist Amerika? Doch ihr Kolumbus zeigte ihr statt der lebendigen Ideale des Wahren und Guten, der Liebe, der menschlichen Entwicklung und Vervollkommnung nur eine Reihe von Gräbern, die das zu verschlingen drohten, wovon die Menschheit bisher gelebt hat. Was sie da sah, waren die mageren Kühe des Pharao, die die fetten Kühe auffraßen, ohne selbst fett zu werden.

Er riß im Namen der Wahrheit die Krone vom Haupte des Menschen, degradierte ihn zum tierischen Organismus und beraubte ihn seiner anderen, untierischen Wesenheit. In der Liebe sah er nur eine Reihe flüchtiger Begegnungen und grober Sinnengenüsse, er entkleidete sie all der Illusionen, mit denen der Mensch sie schmückt, und von denen das Tier nichts weiß.

Der Lebensprozeß hatte nach der Auffassung dieses Neuerers seinen Endzweck in sich selbst. Indem er die Materie in ihre Teile zerlegte, glaubte er auch schon alles, was in dieser Materie zum Ausdruck kam, zerlegt und ergründet zu haben. Indem er die Gesetze der Erscheinungen bestimmte, meinte er jene unbekannte Macht, die diese Gesetze gegeben, überwunden und vernichtet zu haben, einzig dadurch, daß er, unfähig, sie zu begreifen, sie schlankweg negierte. Indem er die Seele des Menschen und sein Recht auf Unsterblichkeit leugnete, predigte er gleichzeitig irgendeine neue Wahrheit, eine neue Ehrenhaftigkeit, ein neues Streben nach einer besseren Ordnung der Dinge und edleren Zielen und vergaß dabei ganz, daß alles dies doch im Grunde genommen überflüssig sei angesichts des Zufalls, der nach seiner Lehre die Welt regierte und die Menschheit als eine Art durcheinanderschwirrenden Mückenschwarms, eine wirre Masse von Individuen erscheinen ließ, die zweck- und ziellos hin und her rennen, sich nähren und vermehren, sich ein Weilchen an der Sonne wärmen und in dem sinnlosen Prozeß des Lebens wieder verschwinden, um einem neuen Schwarme Platz zu machen.

»Wenn sich das wirklich so verhält,« dachte Wjera, »dann verlohnt es sich nicht, an sich selbst zu arbeiten, damit man gegen Ende des Lebens besser, reiner, aufrichtiger und edler werde. Warum dann dieses Streben nach Vervollkommnung? Verlohnt sich das um der wenigen Jahrzehnte willen, die der Mensch lebt? Für diesen Zweck genügt es doch, gleich der Ameise Futter für den Winter einzubringen, genügt das bißchen praktische Lebenskenntnis und Anpassungsfähigkeit, die es ermöglicht, das zuweilen recht kurze Leben halbwegs warm und behaglich hinzubringen . . . Dazu bedarf es doch nur der besonderen Ameisenideale und Ameisentugenden. Doch – wo sind die Beweise, daß dem wirklich so ist? . . .«

Und er verlangte nicht nur Ehrlichkeit und Wahrheit, sondern auch Vertrauen und Glauben an seine Lehre, ganz so wie jene andere Lehre, die aber dafür das Leben nach dem Tode verspricht und als Pfand für dieses Versprechen schon in diesem Leben ihren Gläubigen tröstend zuruft: »Bittet, so werdet ihr empfangen, klopfet, so wird euch aufgetan!«

Diese neue Lehre gab tatsächlich nichts anderes als das, was schon vorher dagewesen, nur mit der Zutat von allen möglichen Demütigungen und Enttäuschungen, als Zukunftsbild aber zeigte sie nichts als Tod und Verwesung. Sie entnahm die Aufschriften ihrer Tugenden aus dem Buche der alten Lehre, begnügte sich mit dem leeren Buchstaben, ohne in Geist und Bedeutung einzudringen, und verlangte den Gehorsam gegen diesen Buchstaben mit einer zornigen Ungeduld, vor der die alte Lehre gerade gewarnt hatte. Und indem diese neue Lehre, diese »neue Kraft« sich einzig an dem animalischen Leben genügen ließ, erwies sie sich als unfähig, an Stelle des alten Lebensideals, das sie negierte, ein neues, besseres zu setzen.

Wenn Wjera so tiefer hineinschaute und hineinhorchte in alles das, was die Predigt des jungen Apostels für neue Wahrheiten und Entdeckungen, für eine neue Heilslehre ausgab, sah sie mit Erstaunen, daß alles das, was in seiner Predigt gut und zuverlässig war, keineswegs neu war, sondern vielmehr aus derselben Quelle stammte, aus der auch die Leute der alten Schule schöpften, daß die Keime aller dieser neuen Ideen, der neuen Zivilisation, die er so prahlerisch und geheimnisvoll verkündete, bereits in der alten Lehre enthalten waren.

Die Folge davon war, daß sie nur um so fester an dieser letzteren festhielt und überzeugt war, daß der Mensch, wie entwickelt er auch sein mag, sich doch von ihr nicht loslösen könne, ohne vom geraden Wege abzuweichen und Seitenpfade einzuschlagen oder gar rückwärts zu schreiten. Auch die Gegner der alten Lehre schienen ihre Argumente nur wieder aus ihr, der bekämpften, zu schöpfen – mit einem Wort, sie bot das einzige unfehlbare und vollkommene Lebensideal, außerhalb dessen es nur Irrtümer geben konnte.

Wjera hatte der Persönlichkeit des neuen Propagandisten gegenüber ihr Mißtrauen nicht unterdrücken können und war ihm im Anfang ausgewichen. Als sie ein paarmal seine kecken Reden vernommen hatte, machte sie sogar Tatjana Markowna auf ihn aufmerksam, und diese hatte ihre Leute beauftragt, darauf acht zu geben, daß er nicht in den Garten käme. Wolochow unternahm seine Streifzüge zumeist von der Schlucht aus, von der die Leute sich in abergläubischer Furcht vor dem Grabe des Selbstmörders fernhielten. Er hatte das Mißtrauen, das Wjera gegen ihn hegte, wohl bemerkt; er nahm sich vor, es zu überwinden, und es gelang ihm in der Tat, sie davon abzubringen.

Fast unmerklich war sie schließlich dazu gelangt, an die Aufrichtigkeit seiner einseitigen und oberflächlichen Überzeugungen zu glauben, und an Stelle ihres Mißtrauens war Erstaunen und Teilnahme getreten. Sie hatte zuweilen sogar Augenblicke, in denen sie an der Richtigkeit der von ihr selbst gesammelten Beobachtungen über das Leben und die Menschen wie an den für die Mehrzahl der Menschen maßgebenden Prinzipien zu zweifeln begann.

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