Buch lesen: «Der Berg»
IVICA PRTENJAČA
DER BERG
ROMAN
Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof
In jenen Tagen wandte ich mich den Menschen zu Und sah dunkle sandige Wege, ich kann es jetzt noch nicht glauben.
Stjepan Gulin
Die Fliege landet auf Jesu Haarlocke, dann wechselt sie unvermittelt auf das Hajduk-Poster, wo sie den Oberschenkel eines Spielers hinaufläuft, dessen Blick in die Zukunft gerichtet ist. Dann fliegt sie auf und stürzt sich mehrmals verwegen gegen die geschlossene Fensterscheibe, auf der Suche nach einem Ausgang aus diesem Zimmer, in dem ich stehe und darauf warte, dass der Mann, den ich aus seinem Nachmittagsschlaf geholt habe, die Nummer meines Ausweises, meinen Vor- und Nachnamen und meine Handynummer notiert. Das ist Vorschrift, erklärt er mir, während er im Wandschrank, dessen Tür sich widerspenstig im Rosenkranz verhakt, den Schlüssel zur Karaule, zur Bergwarte sucht. Er sagt, dass mich das erste Mal einer von seinen Leuten hinaufbegleiten werde, aber erst gegen Abend, wenn die Sonne tiefer steht und sich jemand frei machen kann.
Das ist alles, nach dieser vorübergehenden Entlassung stehe ich wieder auf der Straße, es sind die ersten Junitage, wenn der Asphalt zu schmelzen beginnt und einem die drückende Schwüle wie eine Warnung gegen den Kopf schlägt. Ich sehe mich nach etwas Schatten um und beschließe, gleich neben den Räumen der Freiwilligen Feuerwehr Javorna zu bleiben, die ich gerade verlassen habe, ganz erfüllt von der Freiheit, die ich in diesem Moment fühle, hier in diesem kleinen Flecken, diesem Schmelzpunkt mehrerer Welten und zu einem einzigen Nachmittag verdichteter Jahrhunderte.
Ich habe keine Fragen gestellt, ich habe gerade noch meinen Namen stottern können, es kommt, wie es kommen soll, denke ich. Ich weiß nicht, wohin mit dem tödlichen Schweigen, mit dem Verstummen, zu dem sich meine Menschenverachtung und Weltmüdigkeit quälend ausgewachsen haben. Ich kann nicht mehr unter den Menschen sein, ich habe das Gefühl, als rissen sie mir das Fleisch von den Knochen, als fräßen sie mich mit ihrem unaufhörlichen Reden und Fragen. Sie belagern mich, sie verlangen etwas, was ihnen nicht zusteht und was ich ihnen nicht geben kann. In ihren schwächlichen Körpern sind sie durch die Bank großartige Künstler, Autoren, wichtige Journalisten, prägende politische Persönlichkeiten und irisierende Verführer der Unterhaltungsbranche. Alle haben sie für sich das Geheimnis des Lebens, des Glücks und des Erfolgs entdeckt. Wozu brauchen sie da mich? Wozu brauchen sie überhaupt all diese Auftritte und diese mühsam getippten Bücher, die sie mir auf den Tisch legen, damit ich ihnen eine Karriere verschaffe, damit ich sie ins Fernsehen bringe, vor die Kamera, die ihretwegen vor Langeweile stirbt. Wem außer sich selbst sind sie vonnöten, wenn sie mir den Auftrag für Kanapees und Gestecke für ihre Buchpräsentation oder ihre Vernissage erteilen? Diese aufdringlich lächelnde Liebenswürdigkeit, mit der sie an mich herantreten, ist mir unerträglich geworden.
An der Riva trocknen ausgespannte Netze, die, ein unglaubliches Bild, von einem alten Mann und einem Jungen geflickt werden. Aus der Konditorei, in deren Hauswand ein großer Kühlschrank eingelassen ist, dröhnt ein kranker elektronischer Rhythmus, und in der Tür steht in weißem Hemd ein streng blickender Mann mit dunklem Teint, der mit der gleichen Aufmerksamkeit die Vorübergehenden mustert, mit der er die zwei jungen Leute, ebenfalls in weißen Hemden, beobachtet, die die Tische abwischen und die Blumen auf der Terrasse gießen. Auf den Betonringen um die Palmen herum sitzt der eine oder andere Rucksacktourist, da ist auch einer mit einem Fahrradhelm auf dem Kopf, der auf den geschlossenen Knien ein iPad hält und schreibt. Er ist ganz in sein Tun vertieft, und der Bildschirm verdeckt seinen halben Oberkörper, zu sehen sind nur seine Arme von den Ellbogen an abwärts und etwas von seinen Füßen in den robusten Turnschuhen.
Im nahen Laden erstehe ich zwei Dosen Bier, ein halbes Brot, 200 Gramm Mortadella, zwei Tomaten und eine Streudose Salz, während ich warte, werde ich zu Mittag essen. Das Salz werde ich da oben sowieso brauchen, vermutlich wird mir jemand sagen, wie ich da oben das mit den Lebensmitteln machen soll, mit dem Wasser, es wird wohl eine Lösung geben.
Von hier, von der Riva aus, ist die Karaule nicht zu sehen, gibt es sie überhaupt und auf welcher Seite der Insel befindet sie sich, was ich die nächsten drei Monate sehen werde, ist für mich noch immer ein Geheimnis, zumindest die nächsten paar Stunden, bis sich jemand von den hiesigen Feuerwehrleuten, so ist mir gesagt worden, frei machen kann.
Mit dem Messer, mit dem ich, als ich noch auf Urlaub fuhr, Tintenfische gejagt habe und das mich auf diesem Ausflug ins Ungewisse unbedingt begleiten muss, schneide ich das Brot auf meinen Knien in zwei Hälften und belege sie mit Mortadella, deren scharfer Geruch den der Palme überdeckt. Auf dem fettigen Papier viertle ich die Tomaten, salze sie ausgiebig und bereue es im selben Moment: Was erwartet mich auf dem Weg zur Karaule, gibt es da oben überhaupt Wasser, und werde ich bereits in der ersten Nacht wegen dem Salz Probleme bekommen?
Ist dieses Salz nur die Angst vor der Einsamkeit, die ich mir so sehr gewünscht habe? Die Angst vor den Nächten in der Wildnis, vor dem vergessenen Rascheln und Flirren, dem nächtlichen Flattern und Huschen, den Geräuschen des Sterbens und Gebärens weitab von den Menschen und ihren Versuchen der Selbstbefreiung in dem kleinen Ort am Meer, den ich, wenn alles so läuft wie geplant, in diesem Sommer vor Feuersbrünsten bewahren werde.
Ein Bier an einem so heißen Nachmittag hat nichts zu besagen, auf die Schnelle noch ein zweites zu trinken bedeutet, die Schweigsamkeit abzulegen, die ich die letzten zwei Jahre gepflegt und an mir geschätzt habe, bedeutet, mit dem jungen Mann zu reden, der mich den schmalen Trampelpfad hinunter ans andere Ende des Orts führt und mir das Kloster zeigt, das im Sommer von zahlreichen Priestern zwecks Erneuerung aufgesucht wird, wie er sagt.
Meint er geistige Erneuerung? Ja, das meint er, es kommen auch Fremde, sie sprechen die Sprache nicht, aber sie stehen da und beten, und danach gibt es genug zu tun an der Riva, in den Cafés. Er ist Kellner, sein Vater ist Diabetiker, er hat eine ältere Schwester, die nie geheiratet, aber einen Freund hat, sie haben sogar denselben Nachnamen, aber weißt du, verwandt sind sie nicht.
Hinter dem Kloster, hinter dem Friedhof, hinter einem Olivenhain, hat die Freiwillige Feuerwehr ihre Garage, in der ein auf Hochglanz polierter alter MAN steht, viel Gerätschaft, Feuerlöschgeräte und Handfeuerlöscher zum Pumpen, unmittelbar vor der Garage liegt ein großer Haufen Sand, fast schon ein Hügel, und dahinter stehen die Karosserien zweier Land Rover, ohne Räder, ohne Türen, mit zerschlagenen Scheiben, aber ungewöhnlich sauber. Auf einem sehe ich ein Messingschild, in das mit Großbuchstaben eingraviert ist: JAVORNA – VELEBIT 1992 112. BATAILLON
– Ist das Kriegsbeute? – frage ich ihn.
– Ach wo, mein Vater hat sie angeschleppt, es tat ihm leid, sie da oben verrosten zu lassen. Ich meine, auf dem Velebit. Aber wie die Autos zu Schrott wurden und was mit ihnen passiert ist, weiß ich nicht, angeblich sind unsere Leute damit gefahren, als sie dort waren, aber die einen sagen, sie sind damit gefahren, die anderen sagen, sie sind nicht damit gefahren, mein Vater sagt, sie sind, mein Onkel sagt, sie sind nicht. Wer soll das jetzt wissen, das ist ja schon ewig lange her, sie stehen hier, die Touristen knipsen sich manchmal vor ihnen. Siehst du, hier fehlen Teile, eines Nachts hat jemand die komplette Kardanwelle abmontiert und mitgenommen, vielleicht für eine freza, wer weiß.
Einem Schränkchen hat Dino eine grüne Tasche entnommen, in der sich Funkgeräte befinden.
– Jemand hat schon wieder die Batterien abgezweigt, das waren bestimmt die, die auf Schweine gehen, soll sie der Teufel holen, jetzt muss ich weder zurück in den Ort, ohne die kannst du da nicht rauf. Aber lass deine Sachen hier, du wirst ja sowieso hier übernachten, dann können wir sie dir morgen in Ruhe einpacken. Gehen wir jetzt zurück.
– Ich würde gern gleich hierbleiben, bring die Batterien morgen mit, wenn es nur das ist.
– Was willst du hier allein, mein Gott?
– Ach, ich werde ja drei Monate allein sein, da kommt es auf einen Tag mehr oder weniger nicht an.
– Du hast recht, du bist verrückt. Das sieht man.
– Warte, Dino, was für Schweine?
– Wildschweine, die Insel ist voll davon.
Hinter der Garage ist ein niedriger Raum mit mehreren Liegen, einer Duschkabine und einem hübschen antiken Transistorradio, das ich nicht vorhabe einzuschalten, mit einem Haufen alter Zeitungen, die ich nicht anrühren werde, und einem großen, dick verkorkten Glasbehälter. In ihm schimmert im spätnachmittäglichen Licht eine honigfarbene Flüssigkeit, in die jemand mehrere Zweige gesteckt hat. Ich ziehe den Korken heraus, es riecht nach Kräutern und Feigen, ich will nicht probieren.
Massenquartiere sind ein trauriger Anblick, sie haben immer mit Krieg zu tun, mit Nachtalarm, Unruhe, Albtraum und dem Gefühl des Fremdseins. Hotelzimmer machen auf eigene Weise Angst, zumeist durch das Fehlen von Menschlichem, genauer, durch das Imitieren von Wohnlichkeit. Wie oft habe ich auf die Bilder in den Hotelzimmern gestarrt, irgendwelche Aquarelle oder Tempera, und mich gefragt, wer diese lausigen Kulissen braucht, wen wärmen, wen bewahren sie vor der Leere, die sich einstellt, wenn die Tür des Hotelzimmers zufällt und wie eine Trauerbotschaft ins Herz schneidet. Dieser Schlafraum erinnert mich an meine beiden Kasernen und an das einzige Hostel, in dem ich je übernachtet habe, nachdem sich mir auf der Straße eines Städtchens auf dem flachen Land, in schlechtem Englisch, zwei Prostituierte aus einem der volksdemokratischen Länder des Ostens angeboten hatten.
Ich war erschrocken und angeekelt und habe sie davongejagt. Sie spuckten mir nach.
Dieser lang gestreckte niedrige Raum ist ordentlich und sauber, der Betonboden ist gefegt, die Wände sind geweißt, die Feuchtigkeit hat ihnen etwas zugesetzt, in der Deckenmitte hängt eine einzige Glühbirne, die Betten stehen aufgereiht, ohne Bettzeug, aber mit hochgestellten Matratzen, die wegen der nächtlichen Feuchtigkeit zu Sommeranfang trocknen und lüften sollen und wie ragende Grabmäler dastehen, zwischen denen ich einschlafen und aufwachen werde.
Ich will nichts tun, nichts anrühren, ich will in meinem schlaffen Kokon bleiben, unberührt, reglos. Gleichzeitig möchte ich mir das schwere Hemd der Trägheit und des schleichenden Verfalls vom Leib reißen. Ich will mich verändern, mich bewegen, und deshalb lege ich die Matratze auf das Bett am Fenster, schalte das Radio ein, finde das Dritte Programm, lege mich auf mein flaches Lager und blättere in den alten Zeitungen, manche von vor zwei Jahren. Mit der Zeit stirbt in den Zeitungen alles, Nachrichten hören auf Nachrichten zu sein, wer geheiratet hat, lässt sich mittlerweile scheiden, die Automodelle werden längst als Gebrauchtwagen gehandelt, Wirtschaftsthemen wandern in den Chronikteil, und all das Gedruckte ist keine Minute Aufmerksamkeit oder jemandes Leben wert. Außer den Todesanzeigen.
Sie enthalten in ihrer unglaublichen Form, in wenigen Worten, in einem Bild und der Liste der Trauernden, alles zugleich: Liebe, Leben und Tod.
Da steht, dass nach kurzer schwerer Krankheit ein diplomierter Ökonom gestorben ist und Buba, Bobo, Ogi, Grozda und Stanislav um ihn trauern. Aber mehr als um alles andere tut es mir leid um die ganz alten Menschen aus den Dörfern, um die, die sich im ganzen Leben nur einmal für den Ausweis haben fotografieren lassen, wo sie dann ganz ernst dastehen wie die Indianer, voller Angst um das Stückchen Seele, das ihnen dieses Abkonterfeien rauben wird. In ihren Trachten, unter den Kopftüchern, unter den altertümlichen Kappen, begleiten mich diese Gesichter in meine dreimonatige unbekannte Ewigkeit.
Denn die Ewigkeit ist nach ihrem ureigenen grundlegenden Merkmal eine unbekannte.
Ich finde ein Glas, schenke mir von dem Schnaps mit den geheimnisvollen Kräutern ein und warte auf den Morgen, warte auf jemanden, der kommen und mir sagen wird, dass das, was ich hier tue, einen Sinn hat, aber ich höre nur die Käfer und Mäuse, wie sie über den Sandhaufen laufen, der unter ihren Beinchen nachgibt und rieselt, wie sich meine nächtlichen Nachbarn gegenseitig auffressen und wie irgendwo ein Esel schreit, wie dieses starke Geräusch von der Erde widerhallt und den Berg hinaufsteigt, den ich morgen erklimmen werde und von dem ich, das hoffe ich zumindest, nackt und frei herabsteigen werde, ohne dieses schwere schale Schweigen, das mir die Glieder abschnürt und das Denken lähmt.
Die Buchhandlung, in der ich gearbeitet habe, existiert nicht mehr, sie wurde geschlossen, nicht lange, nachdem ich in das großes Verlagshaus gewechselt war und danach ins Museum für moderne Kunst. In ihre Räume zog, nachdem die Bücher ausgezogen waren, das Institut für ein besseres Leben ein, ein kleines Unternehmen für Blendwerk und Prophetie, das sich aber auch nicht lange halten konnte, die ganze Straße, in der sich meine Buchhandlung befunden hatte, starb allmählich dahin, und so verzog sich auch das Institut ins Internet und spukt jetzt in Privatwohnungen herum, wo es unmittelbaren Zugang zum Kern des besseren Lebens hat – weiterhin ungreifbar, aber hochwillkommen. Nicht existent, aber real. Impulse sind teuer, Séancen noch teurer, das bessere Leben hingegen ist billig, ein echtes Massenphänomen, das sich bereits wenige Sekunden nach Herstellung der Verbindung einstellt.
Ich verkaufte keine Bücher mehr, jetzt leitete ich dank meiner relativen Schreibfertigkeit die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, ich war ihr einziger Vertreter, sodass ich ein Gutteil meiner Arbeitszeit damit verbrachte, Einladungen zu kuvertieren und Etiketten mit den Namen der Einzuladenden zu drucken. Davon gab es genug. Weil es sich dabei um eine für jemanden wie mich völlig ungeeignete Tätigkeit handelte, kam es regelmäßig vor, dass auch ein prominenter Verstorbener eine Einladung bekam, nicht hingegen die engere Verwandtschaft des Autors oder Künstlers, zu dessen Buchpräsentation oder Vernissage ich einlud. Das ergab durchaus Sinn, denn die meisten Menschen, die anfangs schüchtern unseren Verlagskorridor betraten, um uns ihre Manuskripte zu bringen, verloren später, vor allem wenn ihr Buch erschienen war, alle Schüchternheit und beanspruchten wie selbstverständlich ihren Teil der Ewigkeit. Ein eigenes veröffentlichtes Buch war der Imperativ, der die schwere Tür der Selbsterkenntnis aufsperrte und der eigenen Existenz das verdiente und ihr zukommende Ausrufezeichen hinzusetzte. Und warum sollte man zu einer solchen Präsentation nicht auch einen unserer würdigen Toten einladen, damit er ihnen aus seiner Ewigkeit heraus zittrig die Ehre erwies!
Im Museum war es im Wesentlichen das Gleiche, nur dass die Korridore breiter waren und die Kälte beim Anblick des Museumsgebäudes stärker, bedrohlicher wirkte. All diese Maler, Videokünstler, Konzeptualisten, Fotografen, diese ganze hoffnungsfrohe Welt, die keine Sprachgrenzen kennt, da sie ihre Werke gleich auf Englisch betitelt, alle diese Wichtigtuer, die kaum mehr kennen als ihren schmalbrüstigen poetischen Faden, der allzu oft bei dem Versuch verloren geht, eine starke Metapher zu kreieren, und dann wieder auftaucht, aufblitzt, aufzittert im Versuch einer autobiografischen Kontemplation, um dann ein weiteres Mal zu erlöschen und aufzuflammen, all die Schulterklopfer, die mit den Kustoden über Formate, über Ausleuchtung, Montage und Videoprojektion sprechen und sich generell nicht zurechtfinden ohne einen Input dieser oder jener Art, dieser ganze Kitsch der mediokren Verdummung der Welt in diesem Teil Europas ergoss sich genau in meinen Hof, genauer, auf meinen Arbeitstisch.
Neben den amikal entspannten Buchpräsentationen und Vernissagen war alles andere nur Qual und Vergeblichkeit, die aus mir das eine Mal einen Trinker machten, das andere Mal einen depressiven Spaziergänger, in jedem Fall einen Unglücklichen, der dem Ganzen kein Vergnügen abgewinnen konnte, wie es ein anderer an seiner Stelle wohl gekonnt hätte: ein bisschen arbeiten, ein bisschen reisen, dann zuvorkommend und tendenziös mit ausgesuchten Köpfen auf Ausstellungen und Präsentationen plaudern, dann wieder reisen, seine Arbeit einer Praktikantin übertragen, Direktor werden, und so weiter.
Jedenfalls habe ich auch diese Art Ausstellungen eröffnet. Es gab einen Schlüssel zum Erfolg: immer gut angezogen kommen, in einem Anzug, wegen dem man weder mit dem eigenen Konterfei im Spiegel noch mit seiner Bequemlichkeit in Konflikt gerät; sich wenigstens eine halbe Stunde vor Ausstellungseröffnung unter die Leute mischen, aber allein bleiben, den ersten Satz finden und mit ihm das Publikum, das auf die schlimmsten Formen der Langeweile gefasst ist, auf eine Berg- und Talfahrt amüsanter Gefälligkeiten und charmanter Belanglosigkeiten mitnehmen, mitunter auch eine steile Talfahrt hinab, wie sie die Achterbahnen in den Vergnügungsparks der ganzen Welt hinunterjagen, die sich ebenfalls langweilt.
In Erinnerung sind mir nur wenige Begegnungen mit nur wenigen Menschen geblieben.
Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal die Mikrofone stehen ließ, um mir ein Glas Wein zu holen und mich von den Leuten zu entfernen, wie ich mich hinter dem Rücken viel größerer und breiterer Menschen, als ich es war, versteckte, wie ich in dem Gewimmel und Geschwalle, das nach einer solchen Vernissage immer aufbrandet, mein Recht auf ein wenig Alleinsein einforderte. Alles war völlig übertrieben, die ganze Abscheulichkeit, die Gestecke mit den bunten Blumen, die nach den Chemieplantagen des europäischen Nordens rochen, die Fotografen, die vor unserem Tisch auf dem Boden kauerten und mit ihren abgegriffenen Apparaten wie wahnsinnig Fotos schossen, nervös, unterbezahlt und getrieben von Scheidung und Unterhaltszahlungen. Die Verwandtschaft in den ersten Reihen erwartungsfroh. Die Freunde in den hinteren Reihen leicht verschämt, anonym.
Ich hielt mich fern von denen, die eine Ausstellung haben wollten und dafür einen Rat suchten.
Von denen, die eine hatten und ein Publikum suchten.
Von denen, die nur jemanden zum Reden suchten.
Von denen, die den Satz begannen mit: Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr an mich, aber …
Von den Trinkern, die um zu essen und zu trinken zur Präsentation kamen, und sich dabei gegenseitig mit den Ellbogen wegdrängten.
Von denen, die mit den Achseln zuckten, und von denen, die übertrieben klatschten.
Von denen, die sagten, sie seien nur zufällig gekommen, sie seien auf der Durchreise.
Von denen, die nicht gehen wollten, selbst wenn alles schon vorbei war.
Im Grunde blieb mir nur der Kellner, sein Blick und seine Hand mit dem kalten Jameson, herübergereicht über die ganze hochfahrende Sinnlosigkeit hinweg.
Aus der Wohnung, in der ich gut fünf Jahre verbracht hatte, aus dem Nirgendwo Neu-Zagrebs, war ich in eine Einzimmerwohnung in der Draškovićeva gezogen, gegenüber dem Unfallkrankenhaus, im zweiten Stock. Die Wohnung war abgewohnt und nicht funktionell, so wie fast alle Wohnungen in diesen alten Häusern im Zentrum. Es liegt allerdings ein gewisser Charme in der Dicke der Wände und der Zugluft durch die Fenster. Als ich einzog, konnte ich nicht ahnen, dass diese Wände all die langen und inhaltsleeren und doch irgendwie angenehmen Gespräche gründlich und vollständig aufsaugen würden, die ich mit Katarina, meiner mittlerweile Ex-Frau, einer Anwältin in der Kanzlei Nedoklan und Drakulić, führte. Aber diese Zugluft sollte an einem einzigen Nachmittag auch jenes kleine Quäntchen Sinn und gemeinsames Bedürfnis davonwehen, das uns drei Jahre hindurch einander nahegebracht und uns zu Eheleuten gemacht hatte, die sich nie, aber auch wirklich nie wegen irgendetwas stritten, die sich in diesen drei Jahren nie, wirklich nie ganz nahe gefühlt hatten, auch nicht in jenem Aufblitzen der Jugend, das dem Halbdunkel der Lebensmitte vorangeht, dem Abgrund der Vierziger, der retroversen Gravitation, in der die Dinge wie von selbst verständlich zu werden beginnen. Wenn, ohne dass der Mensch allzu viele Fragen stellt, alles klar wird, diese Klarheit aber das Gesicht des Todes hat, den Geruch einer Brandstätte.
Katarinas Name wurde bald der dritte auf dem Messingschild in der Berislavićeva 11, dort war schön zu lesen: Anwaltskanzlei Nedoklan, Drakulić und Mazur-Nedoklan, und ich ging, als hätte mich jemand von Maulkorb und Leine befreit, mit federndem Schritt die volle Länge der Draškovićeva hinunter, mit lockeren Schultern und schlenkernden Armen, wie ein Mensch geht, der gerade allen Ballast abgeworfen hat und jetzt die Kraft erprobt, die ihn noch immer vorwärtstreibt. Dieses Mal in Richtung Unfallkrankenhaus.
Es ist Tag geworden, und jetzt sehe ich klarer, wo ich bin, ich bin einige Male die Garage abgeschritten, bin den Pfad hinaufgestiegen, der sich durch den Olivenhain zu der kleinen Anhöhe schlängelt, von wo aus sich die Nordhälfte von Javorna einsehen lässt, die Riva, wie sie sich windet und plötzlich endet, der kleine Hafen mit den Booten, der Kombi, der die Zeitungen zum einzigen Kiosk des Ortes bringt, der einheimische Fischer, der vor dem Laden, unter einer der Palmen, seinen nächtlichen Fang ausstellt. Zwei weiße Styroporkisten, die aus dieser Entfernung leer zu sein scheinen. Ich gehe wieder hinunter und setze mich vor die Garage, ich bin bereit, gewaschen, habe gepackt, bin ein bisschen gespannt, ich sehe, wie am Rande des Sandhaufens eine Panzerschleiche kriecht, sie ist fast schwarz, dick, länger als einen Meter, mit ihrem plumpen Kopf schiebt sie die Steinchen vor sich auseinander und kriecht langsam ins Gebüsch. Ich fühle mich unwohl, ich werfe einen Stein nach ihr, als ich Stimmen höre, die von gegenüber der Garage kommen, vom Feld. Zwei männliche Stimmen und ein Trappeln, ein Schnauben. Ich richte mich auf, und vor mir stehen Dino und ein älterer Mann, der einen beladenen hellgrauen und ungewöhnlich großen Esel führt, dessen Last in eine Zeltplane gewickelt und dessen Schwanz mit einem kurzen Strick fixiert ist.
– Guten Morgen, hast du dich ausschlafen können hier in unserem gottverlassenen Nest, ich bin Stanko, und das hier ist für dich die nächsten drei Monate das wichtigste Geschöpf auf Erden, ein Esel mit großem E.
Ich strecke die Hand aus und verliere mich in dem großen dunkelgrauen Auge, das mich ruhig und unverwandt ansieht. Stanko schenke ich nur einen flüchtigen Blick, er ist ein Mann in den Siebzigern, vital und behände, die Hand, die er mir entgegenstreckt, ist kräftig und fest, die Hand eines Mannes, der kein Zögern kennt. Er ist der Sekretär der Freiwilligen Feuerwehr, und ihm ist die Aufgabe zugefallen, mich für meinen Aufenthalt in der Karaule auszurüsten. Gestern hatte es Dino in guter Absicht ein wenig eilig mit mir, heute Morgen haben er und Stanko sich erinnert, wohin ich eigentlich will und warum. Sie haben diesen Esel fast unmenschlich beladen, seinen Schwanz haben sie festgebunden, damit er sich während des Aufstiegs nicht im Gestrüpp verheddert und, wie mir Dino sagt, niemandem ins Gesicht wischt, an einigen Stellen ist der Pfad auf meinen Gipfel schmal und steil, man muss sich festhalten und gut aufpassen.
– So – beginnt Stanko – hier auf dem Esel ist Verpflegung, ein bisschen Werkzeug und ein Solarmodul, damit du Strom hast fürs Handy und den Computer …
– Ich habe keinen Computer.
– Gut, jedenfalls hast du hier das Modul und den Akku, die werden wir montieren, wenn wir oben sind, die Karaule ist sauber, wir waren vor ein paar Wochen oben, die Zisterne ist gefüllt, das Wichtigste hast du. Und was alles andere betrifft, findest du dich entweder selbst zurecht oder rufst uns an, und wir machen alles fertig, und du kommst runter und holst es.
– Klar, es ist ja nicht so weit.
– Nein, anderthalb Stunden Fußmarsch.
Dino verstaut das Funkgerät in einer Tasche, ich verspüre eine leichte Nervosität im Bauch, ein Ziehen in den Muskeln.
– Gehen wir – sagt Stanko und bugsiert den Esel um.
Dino und ich folgen ihnen, wir schweigen, ich atme bereits schwer, in mir wirbeln meine ganze Depression und Erstarrung auf, meine ganze Trägheit, meine letzten Jahre, die ich bei der Arbeit oder in den Kaffeehäusern sitzend zugebracht habe. Etwas von diesem schrecklichen Mitgepäck drängt aus meiner Kehle, aus meinem Mund, in das Gestrüpp und unter die Zikaden, will ein für alle Mal aus mir heraus. Meine Beine tun mir weh, mein Rücken tut mir weh, aber mehr als alles andere drückt und würgt mich dieser Krampf, dieser Knoten in meiner Brust, der erst gelöst werden muss. Ich gehe auch zum Durchatmen auf diesen Berg. Ein Mensch voller Menschenverachtung atmet in der Regel flach. Ich bin gekommen, um das zu ändern.
Nach wenigen hundert Metern leichten, für mich dennoch mühsamen Aufstiegs bleiben wir bei einem einsamen Haus stehen, Stanko ruft vom Hof aus hinein, und schon steht ein kräftiger bärtiger Mann mit einer Flasche selbstgemachtem Kräuterschnaps und einem Stapel Plastikbecher in der Tür, er kommt näher und sagt langsam, sehr langsam:
– Stane, wir wollen doch einen Schnaps vor dem Aufstieg trinken, nicht wahr?
Wir trinken ihn und verabschieden uns, der Bärtige ist Stankos Neffe, unverheiratet, an der Schwelle zum Fünfziger, ein halber Eremit, dem es sogar in einem so kleinen Ort wie Javorna gelungen ist, zurückgezogen und fast unsichtbar zu leben. Zumindest die letzten paar Jahre. Seit er sich das Nachtsichtgerät für seinen Karabiner angeschafft hat, schläft er nachts selten, er geht auf die Jagd, nimmt Maiskolben, lockt damit die Wildschweine an, schießt sie. Tagsüber schläft er natürlich und ruht sich aus, die Wildschweinjagd in diesem Gelände ist anstrengend, und die Ausbeute ist groß, manchmal sogar zwei Tiere pro Nacht. Stanko spricht, während wir gehen, über seinen Neffen voller Liebe und in einer Art Verzweiflung, die man bei Männern in reiferen Jahren antrifft, in denen die Lebenssäfte noch immer strömen und die sich noch keiner Krankheit und Altersschwäche hinzugeben gedenken. Diese Verzweiflung schneidet in den Morgen, obwohl sie nur in zwei Wörter gepresst geflüstert wird: keine Frau.
Wir setzen unseren Weg fort, hin und wieder drehe ich mich um, um noch einen Blick auf Tomos Haus zu werfen, ein mächtiger Steinbau in einem weitläufigen Olivenhain. Im Hof, neben einem schwarzen Lada Niva, albert Tomo mit seinen zwei Hunden herum. Der kleinere, der schwarze, rennt dem weit geworfenen Fell eines Keilers hinterher, während der größere, der weiße, nur dasteht, jault und kläfft, überströmend von hündischer Liebe und Ergebenheit. Schließlich hebt Tomo ihn zu sich herauf, küsst ihn auf die Schnauze, legt sich ihn um den Hals wie ein Lamm und füttert ihn mit etwas aus seiner Hand.
Wir haben den Olivenhain hinter uns gelassen und gehen jetzt einen breiten Pfad unter Kiefern, die hier von österreichisch-ungarischen Soldaten gesetzt wurden, genauer gesagt, von ihrem Hauptmann, der die Insel mehrere Jahre lang gehalten hat. Wie und wann er sie gehalten hat, kann oder will mir Stanko nicht sagen, auf jeden Fall habe ich mit der Frage übertrieben, genauer gesagt, mit der Banalität dieser Frage.
– Pah, als wäre das so wichtig – entschließt sich Dino mir zu helfen – wichtig ist doch, dass die Kiefern noch immer dastehen und dass wir jetzt im Schatten gehen und nicht in der Sonne.
Ich sehe aufs Handy, es ist neun Uhr, der Rücken unter dem Rucksack ist völlig nass, meine Beine geben bereits nach, und wir haben noch gar nicht mit dem Aufstieg begonnen. Stanko bemerkt meine Qualen, wir bleiben unter einer Baumkrone stehen, um kurz auszuruhen, trinken etwas Wasser und setzen unseren Weg in einem etwas lebhafteren Tempo als vorher fort. Ich weiß, je steiler der Aufstieg, desto schneller muss man gehen, Stanko ist so ein Mensch, wenn es schwerer wird, wird er stärker.
Ich gehe hinter dem Schwanz des Esels und sehe, wie seine Last hin und her schwankt, wie sich seine Beine bei jedem Schritt in den steinigen Pfad stemmen und wie alles zusammen so harmonisch und sicher wirkt. Wir kommen auf ein kahles Flachstück hinaus, von hier bis zum Gipfel wird es wohl keinen Schatten mehr geben, die Vegetation ist niedrig, Gestrüpp und Macchia, ein paar vor sich hin kümmernde Eichen, da fragt man sich, wo verstecken sich all die Wildschweine in dieser kahlen Landschaft.
Der Pfad verengt sich und wird gefährlich steil, an manchen Stellen muss ich mich mit dem Stock abstützen, um nicht den Abhang hinabzurutschen bis zur Riva und der Eisdiele, ich sehe zum Ort hinunter, aus dieser Entfernung sind die Menschen noch zu erkennen, aber nur die Oberkörper und Köpfe, Arme und Beine verlieren sich in der flimmernden Hitze dieses Morgens, des fünften Juni.
Zum Glück wieder eine ebene Passage. Wir bleiben an einer Schafstränke stehen, unter einem großen Felsvorsprung, der sich über diese Lichtung wölbt, ein kleiner Rastplatz. Den halben Weg haben wir, sagt Stanko, das Schlimmste ist geschafft, lacht Dino, und genau wie mir meine Führer gesagt haben, brauchen wir jetzt nur noch gerade nach oben zu gehen, es gibt keine Serpentinen mehr, nur noch den geraden Pfad bis zur Karaule. Steil, gefährlich und der Sonne ausgesetzt.
Stanko nimmt aus der über die Schulter geworfenen Tasche ein Stück Brot und eine Wurst, die wir in Stücke reißen und aufteilen.
– Das ist das Beste auf der Welt, Tomo macht sie, schade, dass wir nicht noch welche mitgenommen haben, als wir bei ihm waren, die ist vom Jungschwein, koste mal, wie gut.
Der kostenlose Auszug ist beendet.