Buch lesen: «Isolde Kurz – Gesammelte Werke», Seite 8

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1866

Wenn die al­ten Achtund­vier­zi­ger zu­sam­men­ka­men, so lag eine Ver­klä­rung auf ih­ren Ge­sich­tern, sie sag­ten: Weißt du noch – der Völ­ker­früh­ling! Und zau­ber­ten durch ihre blo­ßen Mie­nen für die Nach­ge­bo­re­nen das Bild ei­ner kur­z­en, un­be­schreib­lich schö­nen Zeit her­auf, wo das Glück leib­haft auf Er­den ge­wan­delt und wo alle Men­schen Brü­der ge­we­sen. Bis die Re­ak­ti­on mit ei­si­gem Hauch vom Nord all die­se Wun­der­blü­ten ge­knickt und den Völ­ker­mai in Eis und Schnee be­gra­ben hat­te. Un­se­re rea­lis­ti­sche­re Jo­se­phi­ne er­zähl­te frei­lich auch An­ek­do­ten aus dem Völ­ker­früh­ling, die zeig­ten, dass der Frei­heits­kampf nicht von al­len Sei­ten gleich ide­al auf­ge­fasst wur­de, wie das Stück­lein von je­ner Nach­bars­frau, die ju­belnd sag­te: Tei­le wel­let se, tei­le! – und ih­rem aus­zie­hen­den Freischär­ler nachrief: Dass du mir ja eine neue Ma­trat­ze mit­bringst! – Mei­ne El­tern ge­hör­ten bei­de zu den al­ten Achtund­vier­zi­gern. Doch ging mein ge­mä­ßig­ter, po­li­tisch viel tiefer bli­cken­der Va­ter dar­in lan­ge nicht so weit wie mei­ne Mut­ter. Be­son­ders teil­te er ihr Ver­trau­en auf ein selbst­los für an­de­rer Völ­ker Frei­heit ein­tre­ten­des Frank­reich durch­aus nicht. Hat­te er doch in sei­nem schö­nen »Va­ter­lands­ge­dicht« von 1848 die Stel­le:

Dem Er­we­cker in dem Wes­ten

Blei­be hold, er will nicht mehr,

nach­träg­lich ver­än­dert in das war­nen­de:

Dem Er­we­cker in dem Wes­ten

Gib das Sei­ne, gib nicht mehr.

Auch zeugt die im Freun­des­kreis oft er­zähl­te An­ek­do­te, dass er ein­mal sei­nen un­bot­mä­ßi­gen Söh­nen zu­rief: Ihr ver­dient es, preu­ßisch zu wer­den! doch mehr von sei­nem heim­li­chen Hu­mor und von der vä­ter­li­chen Nach­sicht als von der Schär­fe sei­ner po­li­ti­schen An­sich­ten. Bei mei­ner Mut­ter da­ge­gen ging im­mer al­les aus dem Vol­len, da gab es kei­ne Ab­stu­fun­gen, kei­ne Zwei­fel, sie muss­te lie­ben oder has­sen. Als der sechs­und­sech­zi­ger Krieg her­an­rück­te, wur­de sie von ei­nem wah­ren Verzweif­lungs­sturm er­fasst und ihre Er­re­gung zit­ter­te in un­se­ren Kin­der­her­zen nach. Da sie des Ita­lie­ni­schen mäch­tig war, schrieb sie einen Brief an Ga­ri­bal­di, worin sie ihn be­schwor, die­sem »frei­heits- und bru­der­mör­de­ri­schen« Kamp­fe fern­zu­blei­ben. Sie glaub­te in ih­rem Kin­der­ge­müt ernst­lich, welt­po­li­ti­sche Ent­schlie­ßun­gen hin­gen von Prin­zi­pi­en ab. An­de­re wa­ren noch nai­ver. Ein Gym­na­si­al­pro­fes­sor schrieb an Bis­marck und gab ihm po­li­ti­sche Ratschlä­ge nach Pla­ton und Thu­cy­di­des. Dass Bis­marck nicht auf sei­ne Dar­le­gun­gen ein­ge­gan­gen, be­klag­te er noch spä­ter sei­nen Schü­lern ge­gen­über als großen Feh­ler. Aber dicht ne­ben dem Ko­mi­schen lag die Tra­gik. Auf dem Blä­si­berg, ei­nem Gut in der Nähe von Tü­bin­gen, das Pro­fes­sor We­ber, der Leh­rer der Land­wirt­schaft an der Hoch­schu­le, Gat­te der nach­mals als Frau­en­recht­le­rin stark her­vor­ge­tre­te­nen Mat­hil­de We­ber, be­wirt­schaf­te­te, hielt sich seit kur­z­em ein jun­ger, aus Eng­land ge­kom­me­ner Prak­ti­kant Na­mens Fer­di­nand Co­hen auf. Er schrieb sich aber Blind mit dem Na­men sei­nes Stief­va­ters, des in Lon­don als Flücht­ling le­ben­den be­kann­ten Achtund­vier­zi­gers. Mei­ne Mut­ter hat­te ihn bei ei­nem Be­such auf dem Blä­si­berg ken­nen ge­lernt. Sie schil­der­te ihn als einen stil­len, wohl­er­zo­ge­nen, aber sehr ver­schlos­se­nen Men­schen. Frau We­ber be­mut­ter­te ihn lie­be­voll. Ei­nes Ta­ges war er ganz plötz­lich ver­schwun­den mit Hin­ter­las­sung ei­nes Brie­fes, in dem er Ab­schied auf im­mer nahm. Und gleich dar­auf brach­ten die Zei­tun­gen die Nach­richt, dass ein Fer­di­nand Blind-Co­hen in Ber­lin am hel­len Tage auf Bis­marck ge­schos­sen und, da er ihn ver­fehl­te, sich selbst ent­leibt habe. Tief war der Ein­druck des At­ten­tats in al­len Krei­sen. Die einen hiel­ten den Tä­ter für einen er­ha­be­nen Mär­ty­rer, des­sen Ma­nen poe­ti­sche To­ten­op­fer dar­ge­bracht wur­den, die an­de­ren fluch­ten ihm als ei­nem ver­bre­che­ri­schen Aus­würf­ling. Heu­te wür­de man sa­gen: ein Fa­na­ti­ker mit ge­trüb­tem Ur­teil und rei­nem Glau­ben. Er hat­te durch den Tod des einen Man­nes den Krieg noch auf­zu­hal­ten ge­hofft. Darf man es Zu­fall nen­nen, was die Ku­gel des ge­wand­ten Schüt­zen ab­lenk­te? Hät­te er ge­trof­fen, so gäbe es heu­te kein Deut­sches Reich. Ich be­sit­ze noch eine Fo­to­gra­fie von ihm aus dem Nach­lass mei­ner Mut­ter, die mir im­mer et­was Un­heim­li­ches hat­te: ein ele­gan­ter, eng­lisch ge­klei­de­ter jun­ger Mann, ritt­lings auf dem Stuhl sit­zend, mit düs­ter fa­na­ti­schen Au­gen, in de­nen eben der Ent­schluss zu sei­ner ir­ren Tat zu rei­fen scheint.

Als der Krieg aus­brach, schmie­de­ten so­gar wir Kin­der an­ti­preu­ßi­sche Ge­dich­te. Ei­nen ech­ten Preu­ßen aus Preu­ßen­land hat­ten wir zwar noch nicht ge­se­hen, aber wir nah­men an, dass ihm zu ei­nem Un­hold we­nig feh­len kön­ne. Da kam ei­nes Ta­ges ge­ra­de um die Mit­tags­zeit vom He­chin­gi­schen her ein Lei­ter­wa­gen vor un­se­rem Hau­se an­ge­ras­selt, der ganz mit schwarz-wei­ßen Fähn­chen um­steckt und von preu­ßi­schem Mi­li­tär be­setzt war. Ich sah die­se Fähn­chen für ein sehr großes Un­glück, für eine un­mit­tel­ba­re Be­dro­hung un­se­rer Frei­heit an. Es schi­en mir Pf­licht, we­nigs­tens einen Ver­such zur Ret­tung mei­ner Hei­mat zu wa­gen. Wenn es mir ge­län­ge, ei­nes der Fähn­chen, viel­leicht das äu­ßers­te an der uns zu­ge­wand­ten Ecke, her­ab­zu­ho­len, dann hät­te ich, wenn nicht der Frei­heit eine Gas­se, so doch we­nigs­tens der Un­ter­drückung eine Ecke ab­ge­bro­chen. Wäh­rend ich aber auf den Au­gen­blick zur Aus­füh­rung mei­nes Vor­ha­bens lau­er­te, wur­de ich zu Tisch ge­ru­fen, und jetzt war es zu­nächst nicht mög­lich, sich heim­lich zu ent­fer­nen. Als ich wie­der ans Fens­ter sprin­gen konn­te, fuhr eben der Wa­gen in ras­seln­dem Trab mit all sei­nen Fähn­chen da­von. Ich starr­te ihm un­ter ge­misch­ten Ge­füh­len nach: es war nun doch nicht so übel, dass ich nicht in die Lage kam, ge­gen die preu­ßi­sche Hee­res­macht vor­zu­ge­hen. Der Wa­gen ras­sel­te über die Neckar­brücke in die Stadt hin­ein und auf der Lust­nau­er Stra­ße wie­der zur Stadt hin­aus, und sie­he, es blieb al­les wie zu­vor! Die Stu­den­ten san­gen die al­ten Lie­der und tran­ken so viel Bier wie je, nie­mand war ver­sklavt wor­den, noch war ir­gend­ei­ner See­le von den Preu­ßen sonst ein Leid ge­sche­hen. Die Erin­ne­rung an den ge­plan­ten Fähn­chen­raub lässt es mir ganz ver­ständ­lich er­schei­nen, dass so oft im Krie­ge Kin­der durch lei­den­schaft­li­che Re­den Er­wach­se­ner zu ei­ner un­sin­ni­gen Tat ver­an­lasst wer­den, die her­nach viel­leicht ein gan­zes Haus in Ge­fahr bringt.

Im fol­gen­den Jah­re lern­te ich dann einen wirk­li­chen Preu­ßen ken­nen, und dazu einen der al­ler­merk­wür­digs­ten Men­schen, die mir je be­geg­net sind. Es war der Schrift­stel­ler und Po­pu­lär­phi­lo­soph Dr. Al­bert Dulk aus Kö­nigs­berg. Sein Le­ben ist ein Ro­man, den man nicht schrei­ben kann, weil er als Er­fin­dung viel zu un­wahr­schein­lich wäre. Er hat­te län­ge­re Zeit ganz ein­sam im stei­ni­gen Ara­bi­en ge­lebt, um dem Geis­te des Urchris­ten­tums nä­her­zu­kom­men und die land­schaft­li­chen Ein­drücke für sein Haupt­werk Der Irr­gang des Le­bens Jesu zu ge­win­nen. Küh­ne Aben­teu­er­lust und su­chen­de Phi­lo­so­phie la­gen in ihm bei­sam­men. Als au­ßer­or­dent­li­cher Schwim­mer und über­haupt kör­per­lich her­vor­ra­gend be­güns­tig­ter Mensch hat­te er den Bo­den­see durch­schwom­men und ähn­li­cher Stücke mehr ge­leis­tet. Jetzt leb­te er in Stutt­gart mit sei­nen drei Frau­en, die er gleich­zei­tig be­saß und mit de­nen er im üb­ri­gen ein ganz nor­ma­les Fa­mi­li­en­le­ben führ­te. Er hat­te sich im engs­ten Kreis einen klei­nen frei­re­li­gi­ösen An­hang ge­grün­det, für den er in sei­nem Hau­se das Pries­ter­amt ver­sah. So hat­te er sich auch nach selbst­ge­schaf­fe­nem Ri­tus mit sei­nen zwei spä­te­ren Frau­en sel­ber ge­traut. Er konn­te die­se drei­fa­che Ehe in Stutt­gart ganz öf­fent­lich und un­an­ge­foch­ten durch­füh­ren, denn es wohn­te da­mals in dem klei­nen Schwa­ben­land die weit­her­zigs­te Ro­man­tik Tür an Tür mit dem be­schränk­tes­ten Spie­ßer­tum. Trotz der un­ge­wöhn­li­chen Fa­mi­li­en­ver­hält­nis­se herrsch­te re­ger ge­sel­li­ger Ver­kehr im Dulk­schen Hau­se, und es war kei­nes­wegs Bohê­me, was dort ein- und aus­ging; Künst­ler­schaft, Schrift­stel­ler, Po­li­ti­ker lie­ßen sich durch die dor­ti­ge Ei­gen­art nicht ab­schre­cken. Noch weit mehr aber zeugt es von der zwin­gen­den Per­sön­lich­keit die­ses Man­nes, dass er die drei Frau­en, die glei­che Rech­te und glei­che An­re­de ge­nos­sen, in Lie­be und Ein­tracht zu­sam­men­hielt, so­weit in mensch­li­chen Ver­hält­nis­sen dau­ern­de Lie­be und Ein­tracht mög­lich sind. Sie gin­gen im­mer völ­lig gleich ge­klei­det, ver­tru­gen sich schwes­ter­lich und hin­gen mit schwär­me­ri­scher Ver­eh­rung an dem Man­ne. Mit der Zeit ver­schob sich das häus­li­che Gleich­ge­wicht ein we­nig zu­guns­ten der Zu­letzt­ge­kom­me­nen, de­ren Ehe kin­der­los blieb und die dar­um ihre gan­ze Zeit der die­nen­den Lie­be wid­men konn­te. Die­se Lie­be war eine Art Got­tes­dienst in im­mer­wäh­ren­der stil­ler Ver­zückung. Frau Else durf­te ihn auch auf sei­nen nächt­li­chen Spa­zier­gän­gen durch die nicht all­zu si­che­ren Wäl­der Stutt­garts be­glei­ten. Nach­dem sie ihm mo­na­te­lang auf den un­heim­li­chen Nacht­gän­gen, die er noch dazu un­be­waff­net mach­te, aus der Fer­ne nach­ge­schli­chen war, um im Fal­le der Not bei­zu­sprin­gen oder sein Los zu tei­len, wur­de sie, als er die treue Ge­folg­schaft ent­deck­te, zu sei­ner Ka­me­ra­din er­höht und ge­noss nun in die­sen stil­len Nacht­stun­den das sel­te­ne Glück, ihn un­ge­teilt zu be­sit­zen. Dulk hat­te eine An­zahl Dra­men ge­schrie­ben, die in der Öf­fent­lich­keit we­nig Glück mach­ten. Am be­kann­tes­ten wur­de Je­sus der Christ, sei­ne feu­rigs­te und pa­ckends­te Schöp­fung, worin die Ver­mäh­lung des Über­sinn­li­chen mit dem Ra­tio­na­lis­mus ver­sucht ist und Jo­seph von Ari­ma­thia im Lich­te ei­ner halb­mys­ti­schen Va­ter­schaft er­scheint. In der Auf­fas­sung Ju­das Is­cha­riots als des feu­ri­gen jü­di­schen Pa­trio­ten, der in Chris­tus den ir­di­schen Er­lö­ser sucht und sich ent­täuscht von ihm ab­kehrt, ist er an­de­ren Dich­tern, dar­un­ter auch Hey­se, vor­an­ge­gan­gen.

Jetzt kam Dulk nach Tü­bin­gen, um mei­nem Va­ter, den er bis da­hin nicht ge­kannt hat­te, ein neu­ver­fass­tes Lust­spiel vor­zu­le­sen. Er brach­te eine sei­ner Frau­en und sei­ne Toch­ter Anna mit, die mei­ne Al­ters­ge­nos­sin war und sich schnell an mich an­schloss. Dulk war ein hoch­ge­wach­se­ner schö­ner Mann mit schwar­zem Haar und Bart bei blau­en Au­gen und klar­ge­schnit­te­nen Zü­gen. Auf­fal­lend wirk­ten in der süd­deut­schen Luft sein schar­fer ost­preu­ßi­scher Ak­zent und die straf­fen nord­deut­schen Be­we­gun­gen. Auch sein gan­zes We­sen war nord­deutsch ernst­haft und im­mer­zu fei­er­lich pa­the­tisch; der Schwa­ben­hu­mor blieb ihm und er dem Schwa­ben­hu­mor un­ver­ständ­lich. So hat­te auch sei­ne An­knüp­fung mit mei­nem Va­ter kein er­sprieß­li­ches Er­geb­nis. Es war da­mals im Schwa­ben­lan­de üb­lich, dass die Män­ner alle ihre be­son­de­ren An­ge­le­gen­hei­ten beim Gla­se ab­ma­ch­ten, dar­um »streb­ten« auch die bei­den an je­nem war­men Som­mer­nach­mit­tag nach ei­nem klei­nen Wirts­gärt­lein in dem na­he­ge­le­ge­nen Dor­fe De­ren­din­gen. Al­lein mein Va­ter konn­te der er­zwun­ge­nen Lau­ne des Dulk­schen Stückes kei­nen Ge­schmack ab­ge­win­nen und kam ziem­lich an­ge­grif­fen von der Sit­zung nach Hau­se. Auf die Fra­ge des Ver­fas­sers, was er da­von hal­te, hat­te er geant­wor­tet: Ich weiß nicht, was ich dazu sa­gen soll. Ent­we­der hat das Stück kei­nen Hu­mor oder ich habe kei­nen. Je­ner aber ver­stand die Mei­nung nicht und sag­te beim Nach­hau­se­kom­men zu mei­ner Mut­ter: Ich kann nicht her­aus­brin­gen, was Ihr Ge­mahl von dem Stücke hält, su­chen Sie es doch zu er­grün­den. – Es fehl­te sei­ner im­mer­wa­chen Geis­tig­keit an dem er­gän­zen­den Ge­gen­stück der Na­tur­haf­tig­keit, aus wel­cher ge­gen­sätz­li­chen Ver­bin­dung erst der Hu­mor ent­springt; der rei­ne Geis­tes­mensch hat kei­nen und der rei­ne Na­tur­mensch eben­so­we­nig. Dulks Dich­tungs­art hat­te durch­gän­gig et­was prin­zi­pi­en­mä­ßig Ge­dank­li­ches, denn sei­ne Be­ga­bung war nicht trieb-, son­dern wil­len­haft. Er ge­hör­te zu den stärks­ten Wil­lens­men­schen, die mir be­geg­net sind. Die­ser star­ke Wil­le, auf das ge­rich­tet, was ei­gent­lich au­ßer­halb der Wil­lens­sphä­re liegt, mach­te ihn den Schwa­ben, de­nen die Poe­sie ein in­ne­res Blü­hen des Men­schen, fast mehr nur einen Zu­stand als eine Tä­tig­keit be­deu­te­te, ei­ni­ger­ma­ßen un­heim­lich, und er blieb im­mer ein Frem­der un­ter ih­nen, ob­wohl er würt­tem­ber­gi­scher Staats­bür­ger ge­wor­den war.

Die zar­te, hoch­auf­ge­schos­se­ne Anna durf­te ein paar Tage bei mir blei­ben, wor­aus sich eine dau­ern­de Freund­schaft ent­spann. Sie wur­de je­des Jahr auf ein paar Wo­chen un­ser Gast, und auch ich durf­te sie in Stutt­gart be­su­chen. Ein­mal – es war wäh­rend des 70er Krie­ges – wohn­te ich auch ei­ner Sonn­tags­fei­er im Dulk­schen Hau­se bei, die mit wech­seln­den Ge­sän­gen und An­ru­fun­gen an die Welt­see­le einen ganz lithur­gi­schen Cha­rak­ter hat­te.

Die Geburt der Tragödie

Wenn ich mein Le­bens­buch zu­rück­blät­te­re, so kann ich selt­sa­mer­wei­se kei­ne in­ne­ren Wand­lun­gen fin­den, viel­mehr scheint es mir, als hät­te ich von der Stun­de mei­ner Ge­burt an im­mer im glei­chen geis­ti­gen Luft­kreis ge­lebt. Die­sen Um­stand weiß ich mir nur aus un­se­rer häus­li­chen Ver­fas­sung zu er­klä­ren. Eine ab­ge­son­der­te Kin­der­stu­be hat­te es bei uns nicht ge­ge­ben, wir wa­ren zwi­schen den Fü­ßen der Gro­ßen und un­ter ih­ren Ge­sprä­chen her­an­ge­wach­sen, ohne mit Be­wusst­sein auf­zu­mer­ken. Spä­ter schi­en es mir dann, als käme ich über­all in be­kann­te Ge­gen­den, die ich mir jetzt nur et­was ge­nau­er an­zu­schau­en brauch­te. Eben­so stand mir die el­ter­li­che Bü­che­rei un­be­schränkt zu Ge­bo­te. Nie­mand frag­te, was ich las. Die El­tern dach­ten je­den­falls, da man uns so frü­he das Reich des Höchs­ten und Schöns­ten im Schrift­tum al­ler Zei­ten er­schlos­sen hat­te, da Goe­the und Schil­ler, die Grie­chen, Sha­ke­s­pea­re und Cer­van­tes im­mer auf un­se­rem Wege la­gen, so sei eine ei­gent­li­che Lei­tung durch die Bü­cher­welt über­flüs­sig. Aber sie hat­ten nicht an den kind­li­chen Für­witz ge­dacht. In mei­nes Va­ters Bü­cher­schrank be­fan­den sich ne­ben der Sa­gen­kun­de, die mein gan­zes Ent­zücken war, auch mit­tel­al­ter­li­che Wer­ke astro­lo­gi­schen und ne­kro­man­ti­schen In­halts, alte schweins­le­der­ne Schar­te­ken, von de­nen er ge­wiss nicht dach­te, dass sie Kin­dern ge­fähr­lich wer­den könn­ten. Gera­de die­se hol­te sich der klei­ne Bü­cher­mar­der her­aus, um sie un­be­ob­ach­tet zu ver­schlin­gen. Und die rei­ne Luft un­se­rer grie­chi­schen Göt­ter- und Hero­en­welt wur­de durch das scheuß­lichs­te Bro­cken­ge­sin­del ver­seucht. Zwar bei Tage war ich stark­geis­tig und lach­te mit den Brü­dern über das Ge­s­pens­ter­we­sen, aber so­bald die Son­ne zu sin­ken be­gann, be­son­ders an Win­ter­aben­den, wur­de mir be­klemmt zu­mu­te, denn nun wuchs es un­heim­lich aus der Däm­me­rung her­aus und streck­te hun­dert Arme nach mir. In Ge­gen­wart der Er­wach­se­nen war ja zu­nächst noch Schutz, und be­son­ders in die war­me Nähe der müt­ter­li­chen Rö­cke wag­te sich nichts Ge­s­pens­ti­sches her­an, aber des Nachts im Bett, so­bald die Lich­ter ge­löscht wa­ren, ge­hör­te die Welt den Dä­mo­nen. Es gab dann fürch­ter­li­che Din­ge, die kei­nen Na­men hat­ten. Aus den auf­ge­häng­ten Klei­dern ka­men sie ge­kro­chen, die Blu­men der Ta­pe­te, die in ge­heim­nis­vol­lem Zu­sam­men­hang mit der Un­ter­welt stan­den, lie­ßen sie aus ih­ren Kel­chen schlüp­fen, und das Hand­tuch war mit ih­nen im Bun­de, denn es lieh ih­nen die Kör­per­lich­keit und den weiß­li­chen Schein, um mich zu schre­cken. Den gan­zen Raum rings um das Bett nahm das Zwi­schen­reich ein, da­ge­gen gab es kei­nen Schutz, nur im Bet­te sel­ber war Si­cher­heit. Aber eine un­ter der De­cke vor­ste­hen­de Ze­hen­spit­ze wäre den Geis­tern un­rett­bar ver­fal­len. Also muss­te man sich eng zu­sam­men­zie­hen, um je­des Glied des Lei­bes vor ih­nen zu schüt­zen, bis ein er­bar­men­der Schlum­mer das wild­po­chen­de Kin­der­herz be­schwich­tig­te. Dann aber ka­men die Träu­me und mach­ten die Angst­ge­dan­ken zu wirk­li­chen Ge­scheh­nis­sen. In die­ser qual­vol­len Ge­s­pens­ter­furcht scheint die be­dau­erns­wer­te Kind­heit, wenn sie nicht gut über­wacht wird, die dump­fe Früh­zeit des Men­schen­ge­schlechts wie­der­ho­len zu müs­sen. Aber kaum dass der lie­be Mor­gen mir den Spuk ver­jag­te, so er­gab ich mich im Schutz der Son­ne aufs neue dem Gift­ge­nuss.

In Scheibles »Klos­ter« hat­ten wir die An­lei­tung zu wei­ßer und schwar­zer Ma­gie ge­fun­den, den Schlüs­sel Sa­lo­mo­nis und Fausts Höl­len­zwang. Wir stu­dier­ten und rät­sel­ten an dem Schem­ham­pho­rasch und dem ge­heim­nis­vol­len Abr­a­kada­b­ra her­um, das wir auf großen Pa­pier­bo­gen kunst­ge­recht ab­wan­del­ten. Wenn wir uns aber un­be­ob­ach­tet wuss­ten, so ver­such­ten wir uns am Höl­len­zwang. Wir mal­ten als­dann mit Krei­de einen Zau­ber­kreis auf den Fuß­bo­den, füll­ten ihn mit den vor­ge­schrie­be­nen Zei­chen und Zah­len aus, stell­ten uns eng zu­sam­men­ge­drängt hin­ein, wo­bei streng zu be­ach­ten war, dass auch kein Zip­fel ei­nes Klei­dungs­stückes über den ma­gi­schen Kreis her­vor­ste­he, weil das sehr ge­fähr­lich ge­we­sen wäre, und be­fah­len den höl­li­schen Herr­schaf­ten zu er­schei­nen. Dass sie nicht ge­horch­ten, war mir sehr an­ge­nehm; ich hät­te auch nicht ge­wusst, was von ih­nen ver­lan­gen, denn ich trug we­der nach Schät­zen noch nach über­mensch­li­chem Wis­sen ein son­der­li­ches Be­gehr. Aber des Nachts in mei­nen Träu­men er­schie­nen sie doch und nah­men mir den Frie­den. Wie die an­dern sich zu den in­ne­ren Fol­gen un­se­rer Höl­len­küns­te stell­ten, weiß ich nicht. Von Ed­gar kann ich an­neh­men, dass er sei­ne Über­le­gen­heit wahr­te, denn er ver­stand es, durch Wil­lens­kraft trotz star­ker Fan­ta­sie­an­la­ge alle aber­gläu­bi­schen Re­gun­gen nie­der­zu­zwin­gen, wie ich ihn über­haupt bei sei­ner zar­ten Kör­per­be­schaf­fen­heit nie­mals und vor kei­ner Sa­che in Furcht ge­se­hen habe. Wie gern hät­te ich es ihm dar­in gleich­ge­tan! Im Schei­ble wa­ren die al­ten Pup­pen­spie­le von Faust und die Ge­schich­te sei­nes Fa­mu­lus Chri­stoph Wa­gner ab­ge­druckt, worin der letz­te­re nach sei­nes Meis­ters Höl­len­fahrt sich sel­ber auf die Zau­be­rei ver­legt und nach Ablauf der be­dun­ge­nen Zeit von sei­nem höl­li­schen Die­ner, dem Au­er­hahn, zer­ris­sen und in den Schwe­fel­pfuhl ab­ge­führt wird. Auf dem Stich, der die­se gräu­li­che Be­ge­ben­heit dar­stell­te, wa­ren die Ge­bei­ne des un­se­li­gen Fa­mu­lus zu se­hen, wie sie der böse Geist her­um­ge­streut hat, schau­er­li­cher­wei­se ab­ge­nagt wie Kü­chen­kno­chen. Die­se Ab­bil­dung grub sich mir mit un­ver­lösch­li­chen Zü­gen ins Herz, und so­bald ich nachts die Au­gen schloss, stand sie vor mir, dass mich das Grau­en über­mann­te. Ich glaub­te zwar kein Wort von der gan­zen graus­li­chen Ge­schich­te und sah auch das Bild bei Tage mit über­le­ge­nem Lä­cheln an, aber im Dun­keln wur­de ich wehr­los. Erst als ich Goe­thes Faust ken­nen lern­te, scho­ben sich die rei­nen Ge­stal­ten der Dich­tung vor jene Spuk- und Zerr­bil­der, die durch sie ent­kräf­tet und ge­bannt wur­den. Die Angst­träu­me aber dau­er­ten mei­ne gan­ze Ju­gend hin­durch in ver­än­der­ter Ge­stalt fort und stei­ger­ten sich mit­un­ter bis zur Hal­lu­zi­na­ti­on. Das Schlimms­te war, so oft die Liebs­ten und Nächs­ten durch ir­gend­ein rät­sel­haf­tes ei­ge­nes Ver­schul­den im Trau­me ver­lie­ren zu müs­sen. Erst wenn die Son­ne wie­der Macht be­kam, auch so­lang sie sich noch un­ter dem Ho­ri­zont be­fand, fiel der Alp­druck ab. Wel­che Er­lö­sung, wenn dann noch in der Däm­me­rung von der Kü­che her, wo die treue Jo­se­phi­ne wal­te­te, ein un­ter­drück­tes Geräusch ver­nehm­bar ward und mit ei­nem Male sich der Ge­ruch frisch ge­mah­le­ner Kaf­fee­boh­nen durch das Haus ver­brei­te­te. Gott­lob, die Lie­ben leb­ten noch, es gab noch einen Mor­gen­kaf­fee auf der Welt, und die sor­gen­de Lie­be wach­te auch heu­te. Ich möch­te doch die Se­lig­keit mei­ner ers­ten Ju­gend nicht zu­rück­ha­ben, wenn ich all die Angst, das Schuld­ge­fühl, die bö­sen Träu­me und was sonst die jun­ge See­le be­dräng­te, wie­der in Kauf neh­men müss­te.

Un­ter­des­sen hat­te auch das Le­se­gift, wo­mit ich mich durch­tränk­te, all­mäh­lich aus sich selbst ein heil­sa­mes Ge­gen­gift er­zeugt: ich be­gann sel­ber zu schrei­ben, was die Ängs­te wun­der­sam be­schwich­tig­te. Der der­be, volks­tüm­li­che Stil des Faust­schen Pup­pen­spiels hat­te mir’s an­ge­tan und dräng­te mich, ein Dra­ma in der glei­chen Stilart zu ver­fas­sen. Ich wähl­te mir einen Hel­den aus der va­ter­län­di­schen Ge­schich­te, Her­zog Ul­rich von Würt­tem­berg, nicht als hoch­her­zi­gen Ver­bann­ten, wie ihn Hauff ver­herr­licht hat, son­dern vor sei­nem Sturz in der Ty­ran­nen­lau­ne. Wo­her ich das ge­schicht­li­che Rüst­zeug er­hielt, weiß ich nicht mehr, ver­mut­lich be­schaff­te es der gute Papa aus der ihm un­ter­stell­ten Uni­ver­si­täts­bi­blio­thek. Ul­richs Ehe­zwist mit der zun­gen­schnel­len Sa­bi­ne von Bay­ern und die Lie­be zu der schö­nen, sanf­ten Ur­su­la Thum­bin, der Ge­mah­lin sei­nes Stall­meis­ters Hans von Hut­ten, gab die Fa­bel des Stückes ab. Dass ein spä­ter Nach­fahr des Thumb­schen Ge­schlech­tes, der Baron Al­fred Thumb, ein Ju­gend­freund und ehe­ma­li­ger Ver­eh­rer mei­ner Mut­ter, nach dem mein Bru­der Al­fred be­nannt war, uns häu­fig be­such­te und uns auf sein Sch­löss­chen in Un­ter­boi­hin­gen ein­lud, hat­te auf mei­ne Muse be­geis­ternd mit­ein­ge­wirkt. Na­tür­lich durf­te der von der Fama um­her­ge­tra­ge­ne Fuß­fall des stol­zen Her­zogs vor sei­nem Va­sal­len, den er ver­geb­lich mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men an­fleh­te, zu ge­stat­ten, »dass er sei­ne ehe­li­che Haus­frau lieb­ha­ben möge, denn er könn’ und wöll’ und mög’s nit las­sen«, in mei­nem Stück nicht feh­len. Ich ließ so­gar in mei­ner Ein­falt den Lan­des­va­ter einen Frau­en­tausch vor­schla­gen, der von dem Hut­ten mit Hohn zu­rück­ge­wie­sen wird.

Und da nun die­ser, nach­dem er den kitz­li­gen Vor­gang stadt­kun­dig ge­macht, so un­vor­sich­tig ist, dem tief­ge­kränk­ten Ge­bie­ter un­ge­wapp­net zur Jagd im Schön­buch zu fol­gen, über­fällt und er­schlägt ihn der Furcht­ba­re im ein­sa­men Forst und hängt höchstei­gen­hän­dig den To­ten an eine Ei­che, wie in der Ge­schich­te Würt­tem­bergs mit klei­nen Ab­wei­chun­gen zu le­sen. Am Schluss muss­te noch Ul­rich von Hut­ten als Vet­ter des Er­schla­ge­nen und als Ge­ni­us ei­ner neu­en Zeit auf­tre­ten und dem De­spo­ten sei­nen fei­er­li­chen Bann­fluch zu­schleu­dern: Tu Sue­vi­ci no­mi­nis ma­cu­la! usw., was sich in dem Hu­ma­nis­ten­la­tein sehr stil­ge­mäß aus­nahm. Die Hand­lung ging Schlag auf Schlag und war durch eine un­ge­mein dras­ti­sche Spra­che noch mehr be­lebt; Her­zog und Stall­meis­ter be­war­fen sich mit Hohn­re­den wie die ho­me­ri­schen Hel­den. So kam es, dass das Stück bei den sonst sehr kri­ti­schen Brü­dern eine güns­ti­ge Auf­nah­me fand, und da man in den Weih­nachts­fe­ri­en war, wo sie Zeit hat­ten, sich mit mei­ner Muse zu be­schäf­ti­gen, wur­de be­schlos­sen, es auf­zu­füh­ren. Die gute Fina be­schaff­te einen Vor­hang, durch den man einen Büh­nen­raum vom Wohn­zim­mer ab­tei­len konn­te, der Weih­nachts­baum muss­te sym­bo­lisch den gan­zen Schön­buch vor­stel­len und war zu­gleich be­stimmt, als Ei­che den ge­henk­ten Rit­ter zu tra­gen. Da­mit es nicht an ei­nem Wald­hin­ter­grund feh­le, mal­te ich noch mit grü­ner Far­be einen Laub­baum von un­be­kann­ter Fa­mi­li­en­zu­ge­hö­rig­keit auf die Rück­wand un­se­res Klei­der­schranks. Es wa­ren köst­li­che Tage der ge­spann­tes­ten Er­war­tung. Aber schon bei der Pro­be er­eig­ne­te sich ein stö­ren­der Zwi­schen­fall. Ed­gar hat­te den Her­zog über­nom­men, ich spiel­te den ge­henk­ten Rit­ter, und in der ers­ten Sze­ne ging al­les leid­lich, als aber der be­wuss­te Fuß­fall an die Rei­he kom­men soll­te, wei­ger­te sich der Dar­stel­ler des Ul­rich und fand die vor­ge­schrie­be­ne Hand­lung un­ter sei­ner Wür­de. Wer ihn da­mals kann­te, den selt­sa­men, je­dem Ge­fühls­aus­druck wi­der­stre­ben­den, gänz­lich sprö­den Kna­ben, der muss­te ein­se­hen, dass er nicht zum Schau­spie­ler ge­bo­ren war und dass man ihm nicht zu­mu­ten durf­te, vor der Schwes­ter zu kni­en, auch nicht, wenn sie in Rit­ter­tracht steck­te. Merk­wür­dig war nur, dass er sich nicht schon beim Le­sen ver­wahrt hat­te. Lei­der war die Ver­fas­se­rin die­ser Ein­sicht noch nicht fä­hig; vom Feu­er ih­rer Schmie­de glü­hend, woll­te sie die Än­de­run­gen, die er vor­schlug, nicht zu­ge­ste­hen, sie schie­nen ihr nicht nur ge­gen die ge­schicht­li­che Echt­heit, son­dern auch ge­gen die Psy­cho­lo­gie zu strei­ten, denn wenn der Her­zog kei­nen Fuß­fall ge­tan hat­te, so brauch­te er auch kei­ne Selbs­t­er­nied­ri­gung an dem Va­sal­len zu rä­chen, die­ser konn­te kei­nen Ver­trau­ens­bruch be­gan­gen ha­ben, und da­mit fiel zu­gleich sein ver­häng­nis­vol­ler Leicht­sinn weg, dem be­lei­dig­ten Herrn al­lein ins Ge­höl­ze zu fol­gen. Da ich nicht nach­ge­ben zu kön­nen glaub­te, bat er sich aus, we­nigs­tens jetzt in der Pro­be ver­schont zu blei­ben; her­nach bei der Auf­füh­rung wol­le er schon al­les recht ma­chen.

Der große Tag kam her­an, vor dem Vor­hang sa­ßen er­war­tungs­voll die Zu­hö­rer, dar­un­ter mit be­denk­li­cher Mie­ne so­gar das sonst bei un­se­ren Spie­len sel­ten an­we­sen­de Fa­mi­li­en­haupt, au­gen­schein­lich mit ei­ner ban­gen Ah­nung kämp­fend. Nicht ohne Grund, denn als der Vor­hang auf­ge­hen soll­te, er­hob sich hin­ter der Sze­ne ein Wort­wech­sel, der nicht zum Stück ge­hör­te und der bald in Wei­nen und Schluch­zen über­ging. Ed­gar hat­te mir näm­lich vor dem Heraustre­ten zu­ge­flüs­tert: Dass du’s weißt: ich tue den Fuß­fall doch nicht. Ich war in Verzweif­lung; ich fleh­te ihn an, mein Stück nicht durch sei­ne Hals­star­rig­keit zu Fall zu brin­gen, ich woll­te ja gern zehn Fuß­fäl­le vor ihm tun für die­sen einen; um­sonst, er blieb bei sei­ner Wei­ge­rung. Die Auf­füh­rung muss­te ab­ge­sagt wer­den; die Ku­lis­sen wur­den weg­ge­räumt, und die El­tern hat­ten alle Mühe, zwei fas­sungs­lo­se Kin­der zu trös­ten, in­dem der Va­ter sein schluch­zen­des Töch­ter­lein, die Mut­ter den tief er­schüt­ter­ten Sohn in die Arme nahm.

Aber die tra­gi­sche Muse, die nun ein­mal her­ab­ge­stie­gen war, ließ sich so leicht nicht wie­der ver­scheu­chen, sie nahm viel­mehr einen hö­he­ren Schwung, in­dem sie die Pro­sa­re­de und den Stil des Kas­perl­thea­ters auf­gab, um sich den klas­si­schen Stof­fen und dem he­ro­i­schen Jam­bus zu­zu­wen­den. Zu­nächst mach­te ich Mama die Freu­de, Vol­tai­res »Me­ro­pe«, die ihr un­ter sei­nen Dra­men am bes­ten ge­fiel, zu ih­rem Ge­burts­tag in deut­sche Blank­ver­se zu über­set­zen. Als ich mit der Ar­beit fer­tig war, gab mir die da­bei er­wor­be­ne me­tri­sche Ge­len­kig­keit die Lust zu ei­nem ei­ge­nen Ver­su­che ein, denn warum soll­te im­mer Mr. de Vol­taire zwi­schen mir und mei­nen Hel­den ste­hen? Dem ers­ten Mes­se­ni­schen Krieg, der ge­ra­de in der Ge­schichts­stun­de an der Rei­he war, ent­nahm ich mei­nen Stoff: Die Toch­ter des Ari­sto­demus. Frei­lich ein et­was heik­ler Ge­gen­stand für ein zwölf­jäh­ri­ges Mäd­chen. Aber ich führ­te das Stück durch alle fünf Akte hin­durch glück­lich zum Schluss, wo­bei ich über den ver­fäng­li­chen Punkt glatt hin­weg­kam, ver­mut­lich hat­te ich ihn sel­ber nicht ganz ver­stan­den.

Mama, die ich zur Ver­trau­ten mach­te, ju­bel­te über die­se Leis­tung. Mein mes­se­ni­scher Pa­trio­tis­mus und der ge­gen Spar­ta ge­rich­te­te Groll, in dem sie so et­was wie eine an­ti­preu­ßi­sche Spit­ze zu füh­len glaub­te, ent­zück­ten sie. Aber nun war es mit mei­nem See­len­frie­den vor­bei. Tem­pe­ra­ment­voll, wie sie in al­lem war, be­mäch­tig­te sie sich mei­nes Schat­zes und ließ ihn von Hand zu Hand ge­hen, ohne nach mei­ner Emp­fin­dung zu fra­gen. Ich be­saß kei­ne ver­schließ­ba­re Lade, in die ich ihn hät­te ret­ten kön­nen, wie der glück­li­che­re Ed­gar, an des­sen heim­lich ge­schmie­de­ten Ver­sen sich nie­mand ver­griff. Es ging mir mit der Tra­gö­die wie mit den Ge­dich­ten. In wel­che Schub­la­de ich das Heft ver­ste­cken moch­te, es wur­de im­mer wie­der aus­ge­gra­ben, und der ge­schmei­chel­te Mut­ter­stolz, die Ne­cke­rei­en der Brü­der, die neu­gie­ri­gen Fra­gen frem­der Be­su­cher schu­fen mir mein ei­ge­nes Mach­werk zum Pla­ge­dä­mon um. Denn, ob Lob oder Ta­del, man konn­te mich nicht tiefer krän­ken, als in­dem man über­haupt von sei­nem Da­sein wuss­te. Und kei­ne See­le be­trat das Haus, die nicht da­von er­fuhr. Ich stand wie in ei­nem Re­gen­guss, der mich bis auf die Haut durch­näß­te. Es gab dann Trä­nen und Vor­wür­fe, die nicht das ge­rings­te fruch­te­ten. Nur der Va­ter ver­stand mich, er fuhr mir lä­chelnd mit der Hand über die Stirn und sag­te nichts; wie war ich ihm für sein Zart­ge­fühl dank­bar! Noch nach Jah­res­frist – man weiß, was die Län­ge ei­nes Kin­der­jah­res be­sa­gen will – war die un­glück­li­che Mes­se­nie­rin nicht ver­ges­sen. Ich er­in­ne­re mich ei­nes Vor­mit­tags, wo ein frem­des Ehe­paar nach mei­nen El­tern frag­te. Gleich dar­auf kam mein Müt­ter­lein her­ge­flo­gen (ihr Ge­hen war im­mer wie ein Flie­gen) und rief tri­um­phie­rend zur Tür her­ein: Mo­ritz Hart­mann ist da! Wir hat­ten die­sen Na­men oft von ihr ge­hört als den ei­nes Dich­ters und Frei­heits­man­nes, dem sie in ih­rem Her­zen einen Al­tar er­rich­tet hat­te. Die Reim­chro­nik des Pfaf­fen Mau­ri­zi­us führ­te sie häu­fig im Mun­de. Auch von der sprich­wört­li­chen Lie­bens­wür­dig­keit des ös­ter­rei­chi­schen Poe­ten war schon die Rede ge­we­sen. Alle teil­ten ihre Freu­de, dass er so un­er­war­tet nach Tü­bin­gen ge­kom­men war. Nur mir mit mei­ner grie­chi­schen Tra­gö­die auf dem Ge­wis­sen schwan­te Ar­ges. Und rich­tig war noch kei­ne Vier­tel­stun­de ver­gan­gen, so wur­de ich ins Be­suchs­zim­mer ge­ru­fen. Da stand der be­rühm­te Gast schon im Auf­bruch vor dem Kana­pee, ein Mann von we­nig an­sehn­li­chem Wuchs – an der Sei­te mei­nes hoch­ge­wach­se­nen Va­ters er­schi­en er fast klein –, aber edel­ge­schnit­te­nem Ge­sicht mit schwar­zem Bart und Haar; ne­ben ihm eine lä­cheln­de Frau, de­ren Er­schei­nung einen Ein­druck von stil­ler Har­mo­nie und Güte hin­ter­ließ. Und rich­tig galt sein ers­tes Be­grü­ßungs­wort mei­nem Trau­er­spiel. Er hat­te aber nichts von der schul­meis­ter­li­chen oder iro­ni­schem Über­le­gen­heit, mit der sonst Er­wach­se­ne in sol­chen Fäl­len Kin­der be­han­deln; nur ein ganz klei­ner Schalk ging durch sei­ne Mie­ne, als er frag­te:

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