Buch lesen: «Isolde Kurz – Gesammelte Werke», Seite 40

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Denn auch zwi­schen ihr und ihm stand ich als die na­tür­li­che Ver­bin­dungs­brücke. Ihre ver­göt­tern­de Lie­be, die im­mer angst­voll an sei­nen Au­gen hing, konn­te ihm nur das Eine nicht ge­ben, das sie sel­ber nicht be­saß, Ruhe und Har­mo­nie, de­ren der Dich­ter­ge­ni­us be­darf. Ich hat­te ge­nug vom We­sen bei­der in mir, um ihn wie sie zu ver­ste­hen. Da­für hat­te mir die Na­tur schon ein äu­ßer­li­ches Zeug­nis auf­ge­prägt, in­dem sie mir in der lin­ken Hand­flä­che eine ge­naue Wie­der­ho­lung der zahl­rei­chen, zar­ten, viel­ver­äs­tel­ten und viel­durch­schnit­te­nen Li­ni­en sei­ner bei­den Hän­de mit­gab, worin sein höchst ver­fei­ner­tes Ge­müts­le­ben und sei­ne von Ge­gen­ge­wal­ten durch­kreuz­te Lauf­bahn ihr schwer­mü­ti­ges Sie­gel wie­sen. Die von der Mut­ter stam­men­den Li­ni­en der Rech­ten, die we­ni­gen, ein­fa­chen, lan­g­aus­lau­fen­den, wur­den als Schwung und Kraft und Freu­de ge­deu­tet. Mein Va­ter, der auf alle ge­hei­men Ru­nen­zei­chen ach­te­te, ent­deck­te als ers­ter in mei­nen Kin­der­händ­chen das selt­sa­me Na­tur­spiel, ohne nach der Aus­le­gung zu su­chen, die ich erst viel spä­ter durch Si­byl­len­mund emp­fing. Die­se zwei ge­gen­sätz­li­chen Blut­mäch­te ha­ben dann auch ab­wech­selnd mein Le­ben re­giert, frei­lich nicht in der gr­und­ein­fa­chen Wei­se, dass mir von der einen Sei­te al­les Freu­di­ge und Lich­te, von der an­de­ren al­les Dunkle und Tie­fe ver­erbt wäre, denn auch mein Va­ter war von Hau­se aus ein Son­nen­mensch und nur durch die Un­gunst ei­ner schwäch­li­chen und ärm­li­chen Zeit, die die Wucht sei­ner Muse nicht tra­gen konn­te, ge­trübt und ge­hemmt wor­den, und and­rer­seits war die Mut­ter nicht blo­ße Ur­kraft, nicht blo­ßes Schwungrad, son­dern eben­so schmerz­vol­le Lie­be, Ma­ter do­lo­ro­sa und Mit­trä­ge­rin al­les Men­schen­leids. Also wa­ren die Blut­strö­me der bei­den schon je­der in sich selbst wi­der­spruchs­voll, be­vor sie sich in mei­nen Adern zu neu­em, noch wi­der­spruchs­vol­le­rem Blut­ge­bil­de misch­ten. Wir alle sind ja nicht wir, son­dern hän­gen mit un­se­rem Sein und Tun von de­nen ab, die vor uns wa­ren.

Es hat wohl nie ein Fa­mi­li­en­haupt ge­ge­ben, das we­ni­ger von den An­ge­hö­ri­gen for­der­te als mein Va­ter. Die­ses We­ni­ge: Ein­schwin­gen in sei­nen Rhyth­mus, Sich­ein­füh­len in sei­ne au­gen­blick­li­chen Ge­müts­be­dürf­nis­se, konn­te er nur bei der Toch­ter fin­den, die schon als Kind die Ei­gen­heit hat­te, die See­len­schwin­gun­gen der an­de­ren in sich nach­zit­tern zu füh­len. Die Söh­ne in ih­ren Ent­wick­lungs­kri­sen wa­ren zum Ein­ge­hen in ein an­de­res In­nen­le­ben nicht ge­eig­net. Wenn ich lei­se in sein Zim­mer trat, glänz­te er auf, mei­ne Hand auf sei­ner Stir­ne nahm ihm den Kopf­schmerz weg, mit mir am Arm durch die Stra­ßen zu ge­hen mach­te ihn se­lig, denn mein Müt­ter­lein mit ih­rer stür­zen­den Ge­schwin­dig­keit und dem be­trächt­li­chen Grö­ßen­un­ter­schied zwi­schen ihr und dem hoch­ge­wach­se­nen Gat­ten konn­te nicht Schritt hal­ten. Als ich ein Jahr vor sei­nem Tod nach drei­mo­na­ti­gem Auf­ent­halt in Frank­reich wie­der dem Rauch des Heim­we­sens ent­ge­gen dampf­te, hielt er es in der Er­war­tung nicht aus, er muss­te mir zu Fuß bis Reut­lin­gen ent­ge­gen­ge­hen, um mich eine hal­be Stun­de frü­her in die Arme zu schlie­ßen. Wohl in noch hö­he­rem Gra­de als sie be­durf­te er mei­ner, doch hat­te er nichts For­dern­des und war­te­te scho­nend ab, was Kin­des­lie­be ihm ge­ben soll­te. Aber wie viel zwin­gen­der ist doch die Bin­dung an den Schoß, der uns ge­tra­gen, an die Brust, die uns ge­nährt, an die Hand, die un­se­re ers­ten Schrit­te ge­lei­tet hat, als an das vä­ter­li­che Haupt, wie ver­eh­rungs­wür­dig es auch sei. Ich kann mich von dem Vor­wurf nicht frei­spre­chen, ihm we­ni­ger Zeit ge­wid­met zu ha­ben, als ihm wohl­ge­tan hät­te. Nur dass ich in sei­nem letz­ten Brief­wech­sel mit Paul Hey­se sei­ne An­ti­go­ne hieß, weil ich ihn auf Wan­de­run­gen schein­bar sorg­los zu um­sor­gen wuss­te, trös­te­te mich spä­ter über man­ches Ver­säum­nis, des­sen Dorn ich im Her­zen trug.

Auch bei der po­li­ti­schen Mei­nungs­ver­schie­den­heit, die durch den deutsch-fran­zö­si­schen Krieg in die Ehe der bei­den Achtund­vier­zi­ger ein­drang, hielt mein Da­zwi­schen­ste­hen den in­ne­ren Riss zu­sam­men. Denn mei­ne Mut­ter, die Of­fi­zier­s­toch­ter, ver­ab­scheu­te das Waf­fen­werk und sah in je­dem Krieg nur im­mer eine Schläch­te­rei; einen ge­rech­ten Krieg konn­te es für sie über­haupt nicht ge­ben, am we­nigs­ten, wenn der Ho­hen­zol­lern­fürst, der die Re­vo­lu­ti­on blu­tig nie­der­ge­wor­fen hat­te, an der Spit­ze stand. Mein Va­ter, der Dich­ter, des­sen Se­her­blick über die Jahr­hun­der­te hin­ging und tief in die Völ­ker­see­len ein­drang, er­griff den ge­schicht­li­chen Au­gen­blick und be­grüß­te als höchs­te Wun­sch­er­fül­lung das neu­ge­bo­re­ne Reich, »nicht ein rö­mi­sches Reich deut­scher Na­ti­on, ho­hen und hoh­len Klangs von ehe­dem, son­dern zum ers­ten Mal im Lauf der Ge­schich­te ein deut­sches Reich«. Es hat­te schon über sei­nen Kna­ben­jah­ren als un­greif­ba­re Herr­lich­keit und Hei­lig­keit ge­glänzt in Ge­stalt der al­ten Reichs­ad­ler, die sei­ne kurz zu­vor noch reichs­un­mit­tel­bar ge­we­se­ne Va­ter­stadt Reut­lin­gen auf­be­wahr­te. In die­se Er­kennt­nis­tie­fe konn­te ihm sei­ne Gat­tin nicht fol­gen; für sie gab es kei­ne ge­schicht­li­che Wirk­lich­keit, nur das Prin­zip, das ja schon mit ihr ge­bo­ren war und sich, so­bald es ihr von ih­rem Haus­leh­rer auch be­griff­lich na­he­ge­bracht wur­de, blitz­ar­tig und für im­mer mit ih­rem Be­wusst­sein ver­band. Da­bei über­sprang sie das Na­tio­na­le zu­guns­ten ei­ner künf­ti­gen Mensch­heits­ge­mein­schaft; ihre Söh­ne im Gä­ren der Ju­gend teil­ten mehr oder we­ni­ger ihre Den­kart. Ihr zer­riss es das Herz, an­ders füh­len zu müs­sen als der Mann den sie an­be­te­te, aber was sie für wahr hielt, konn­te sie we­der ab­leug­nen noch un­ter­drücken. Mein Va­ter ver­mied Er­ör­te­run­gen und tat was sein Ge­wis­sen for­der­te, in­dem er in der Öf­fent­lich­keit für sei­ne Über­zeu­gung ein­trat, die für ihn kein Bruch mit sei­ner re­vo­lu­tio­nären Ver­gan­gen­heit war, son­dern nur die Um­bie­gung des all­zu hoch ge­spann­ten Wunsch­ziels ei­ner groß­deut­schen Re­pu­blik in das Er­reich­ba­re: ein Deutsch­land ohne Ös­ter­reich. Der Süd­deut­sche, der wäh­rend des Bru­der­kriegs mit gan­zer See­le auf sei­ten Ös­ter­reichs ge­stan­den hat­te, muss­te die­ses edle Glied am Lei­be des neu­en Rei­ches schmerz­lich ver­mis­sen, aber die Wie­der­ver­ei­ni­gung des Ge­trenn­ten blieb ihm »der si­che­re Zu­kunfts­ge­dan­ke«, des­sen Ver­ta­gung die Le­bens­kraft der Ge­gen­wart nicht be­ein­träch­tigt. In sei­nen frü­hen Schrif­ten fin­den sich die Wor­te »deutsch« und »Deutsch­land« mit ei­ner Häu­fig­keit, die da­mals nicht ge­wöhn­lich war, und im­mer hat das letz­te­re einen Sehn­suchts­klang, den Klang der un­er­füll­bar schei­nen­den Hoff­nung. Sein gan­zes Da­sein, das po­li­ti­sche Rin­gen wie das Dich­ten und For­schen, war Dienst an die­sem un­sicht­ba­ren Deutsch­land. Jetzt war die Hoff­nung er­füllt, und dar­auf kam es ihm doch vor al­lem an, dass Deutsch­land war: sein Haus wür­de es sich mit der Zeit schon wohn­lich ein­rich­ten. Je rei­ner und selbst­lo­ser bei­de El­tern zu ih­ren Idea­len stan­den, de­sto schmerz­haf­ter war die Ab­wei­chung. Die zwei eng­ver­bun­de­nen Men­schen, die sich ge­ra­de im Die­nen für das Volk ge­fun­den hat­ten, wa­ren mit ei­nem Male kei­ne Zeit­ge­nos­sen mehr, sie hiel­ten ver­schie­de­ne ge­schicht­li­che Stel­lun­gen. Da woll­te es ein gu­tes Ge­schick, dass in mei­ner Per­son ein Damm zwi­schen sie ge­scho­ben war, an dem die Ge­gen­sät­ze sich ver­lau­fen konn­ten. Ich war frei­lich zu jung und his­to­risch zu un­vor­be­rei­tet, um die un­ge­heu­re Be­deu­tung der Bis­marck­schen Schöp­fung klar zu be­grei­fen, und mein Va­ter ent­hielt sich je­der Be­ein­flus­sung, selbst durch ein ge­schicht­lich be­leh­ren­des Wort. Aber an­der­seits war ich von Na­tur voll­kom­men un­zu­gäng­lich für Par­tei­schlag­wör­ter. »Na­ti­on« er­schi­en mir auch ge­fühls­mä­ßig nicht als Ve­r­in­se­lung, son­dern als wür­di­ge Brücke zu ei­ner grö­ße­ren Ge­mein­sam­keit, wo­durch die el­ter­li­chen Stand­punk­te ge­wis­ser­ma­ßen in mir ver­söhnt wa­ren. Das Fa­mi­li­en­le­ben wur­de nicht ge­stört, die Un­stim­mig­kei­ten mit Dul­dung zu­ge­deckt.

Drittes Kapitel – Kindesseele und Überwelt

Nah ist

Und schwer zu fas­sen der Gott,

Wo aber Ge­fahr ist, wächst

Das Ret­ten­de auch.

Höl­der­lin

Ich weiß nicht, ob mein Va­ter mit der Art, wie sei­ne Gat­tin kraft ih­rer Zu­rück­erobe­rung je­nes vor­zeit­li­chen Mut­ter­rechts die re­li­gi­öse Fra­ge für sei­ne Kin­der lös­te, in­dem sie sie kur­zer­hand ab­schnitt, in­ner­lich durch­weg ein­ver­stan­den war. Da ich nie ein Wort dar­über von ihm hör­te, neh­me ich an, er habe auch auf die­sem Punk­te wie auf al­len an­de­ren maß­vol­ler, we­ni­ger um­stür­zend ge­dacht, aber doch im gan­zen grund­sätz­lich ihre Hal­tung nicht miss­bil­ligt. Mei­ne Mut­ter aber, die im Grun­de eine tie­fre­li­gi­öse Na­tur war, ver­warf lan­ge vor Nietz­sche, dem Pas­to­ren­sohn, mit dem glei­chen Nach­druck wie er das Chris­ten­tum, und aus der glei­chen Ur­sa­che: we­gen der Ver­ge­wal­ti­gung des Ge­wis­sens. Ich habe in mei­nem »Ju­gend­land« er­zählt, wie sie aus An­lass der ers­ten Kom­mu­ni­on ta­ge­lang ver­zwei­felt um­her­irr­te in Ge­wis­sens­angst, ob sie nicht etwa den hei­li­gen Leib un­wür­dig ge­nos­sen habe, und wie sie, um die glei­che Qual ih­ren Kin­dern zu er­spa­ren, die­se so­lan­ge wie mög­lich von der Be­kannt­schaft mit den Mys­te­ri­en des Chris­ten­tums ent­fernt hielt, was bei der Toch­ter, die kei­ne Schu­le be­such­te und au­ßer dem Haus gar kei­nen Um­gang hat­te, leicht durch­zu­füh­ren war.

Das Bei­spiel mei­ner Mut­ter ist mir ein Be­weis, dass ganz un­duld­sa­mer Glau­be und eben­sol­cher Un­glau­be nur eine win­zi­ge Span­ne von­ein­an­der woh­nen kön­nen: es fragt sich bloß, wo­hin der Wind die Flam­me we­hen wird. Die­sel­be Frau, die ein ge­lehr­ter Freund die sanc­ta athea nann­te, hät­te in sich auch das Zeug zu ei­ner Fa­na­ti­ke­rin des Glau­bens, ja zu ei­ner christ­li­chen Mär­ty­re­rin ge­habt. Aber der geis­ti­ge Wind weh­te nach der an­de­ren Sei­te. Als die da­ma­li­ge Kon­fir­man­din ih­rem um vie­les jün­ge­ren Schwes­ter­chen Ot­ti­lie ihre Zwei­fels­qua­len an­ver­trau­te, zeig­te sich’s, dass das Kind schon durch die glei­chen Nöte ge­gan­gen und zu dem­sel­ben Nein ge­kom­men war. Es soll dies nach Jo­se­phi­nens Schil­de­rung ein stil­les, sanf­tes, tief­grün­di­ges Kind ge­we­sen sein und von der Na­tur zu sol­cher Fröm­mig­keit an­ge­legt, dass ihre rüh­ren­de Er­schei­nung mir als das Ur­bild des from­men Esther­chens in »Va­na­dis« vor­schweb­te. Sie wur­zel­te im Über­sinn­li­chen und soll auch in ih­ren letz­ten Fie­ber­träu­men die Stun­de ih­res To­des vor­aus­ge­nannt ha­ben. Gleich­wohl hat­te die Stil­le, Zar­te trotz ih­res kind­li­chen Al­ters, eben­so wie ihre stür­mi­sche äl­te­re Schwes­ter und un­be­ein­flusst von die­ser, das über­kom­me­ne Dog­ma ab­ge­lehnt. Und was ist denn, um ein äu­ßers­tes Bei­spiel zu nen­nen, die Gott­lo­sen­be­we­gung in Russ­land an­de­res als die Um­keh­rung des re­li­gi­ösen Or­gi­as­mus, der die­sem Vol­ke ei­gen war und der in Ras­pu­tin zu­letzt noch sei­nen stärks­ten Aus­druck ge­fun­den hat?

Ich war ein viel zu für­wit­zi­ges Kind, als dass ich nicht ge­sucht hät­te, dem was mir vor­ent­hal­ten wur­de, auf an­de­rem Wege nach­zu­ge­hen. Neun- oder zehn­jäh­rig hol­te ich mir aus Va­ters Bü­cher­schrank heim­lich die Luth­er­bi­bel und ver­barg sie in mei­nem Bett, um dar­in zu le­sen, so oft ich mich un­be­ob­ach­tet sah. Im Al­ten Te­sta­ment hielt ich mich nicht auf, sei­ne har­ten und oft recht an­fecht­ba­ren Ge­stal­ten fan­den ne­ben der leuch­ten­den grie­chi­schen My­the kei­nen Platz; es war wohl der Schutz­geist des un­be­wach­ten Kin­des, der es so schnell an all den Be­denk­lich­kei­ten vor­über­führ­te. Auf der Früh­lings­wie­se des Neu­en er­ging ich mich lie­ber und war­te­te, ob der himm­li­sche Gärt­ner nicht auch zu mir kom­me. Aber ich hät­te wie Se­me­le ge­wollt, dass der Gott sich mir in sei­ner Gött­lich­keit ent­hül­le, dass er strah­lend ein­her­tre­te und wie ein Bru­der bei mei­nen an­de­ren ge­lieb­ten Göt­ter­ge­stal­ten ste­he; und das ge­sch­ah nicht. Mein Kin­der­herz war wohl wil­lig, sei­ne Leh­re auch so auf­zu­neh­men, al­lein es wuss­te nicht wo­hin da­mit. Das ste­te Re­den in Gleich­nis­sen be­frem­de­te mich und ließ mei­ne Hän­de leer. Gleich­wohl fuhr ich fort, mich als eine an­ge­hen­de Gläu­bi­ge zu be­trach­ten und nahm mir vor, auf die­sem Wege zu be­har­ren. Dass ich es so ganz ver­stoh­len trieb wie eine heim­li­che Sün­de, be­klemm­te mich zwar ei­ni­ger­ma­ßen, bis ich auf die Mah­nung stieß, der From­me sol­le sei­ne Fröm­mig­keit nicht zur Schau tra­gen, son­dern nur un­ge­se­hen in sei­nem Käm­mer­lein be­ten. Ob­gleich dies auf mei­nen Fall nicht pas­sen konn­te, was mir auch lei­se be­wusst war, be­schloss ich doch den Wort­laut für gut zu neh­men und mich da­bei zu be­ru­hi­gen. Da be­fand ich mich ei­nes Ta­ges in ei­nem Kreis von frei­re­li­gi­ös er­zo­ge­nen Kin­dern, die Ge­hör­tes miss­ver­ste­hend sich über den Aber­glau­ben der christ­li­chen Leh­re lus­tig mach­ten. Gleich fass­te mich ein klei­nes Rauscht­eu­fel­chen, dass ich ein­stimm­te und über­mü­tig mit den Wöl­fen heu­len muss­te. Als ich mich wie­der be­sann, er­kann­te ich mich mit Schre­cken als eine Ver­wor­fe­ne, mein Wer­ben um den Gott­men­schen fort­an zweck­los und mein Heil für im­mer ver­wirkt. Nun wag­te ich den Rück­weg in die Ge­fil­de des Glau­bens, die ich mir selbst ver­schlos­sen hat­te, gar nicht mehr zu su­chen, und nahm mir nur vor, künf­tig ohne das al­les in Tun und Re­den ein bes­se­rer Mensch zu wer­den. Vi­el­leicht gab es noch an­de­re Wege, wor­auf einen das Gött­li­che fin­den konn­te. Hät­te ich in der Pas­si­ons­ge­schich­te da­mals wei­ter­ge­le­sen und wäre bis zu Pe­trus und dem Hah­nen­kraht ge­kom­men, so wür­de ich wahr­schein­lich aus dem bö­sen Bei­spiel des Apos­tel­fürs­ten mil­dern­de Um­stän­de für mich sel­ber ab­ge­lei­tet ha­ben. So aber blieb mir ein bit­ter­bö­ser, mich tief be­schä­men­der Ein­druck haf­ten wie im­mer, wenn ich mich auf ir­gend­ei­nem Punkt nicht in Ein­klang mit mir sel­ber fühl­te, und ich nahm jah­re­lang das Buch der Bü­cher nicht mehr in die Hand, als ob ich es zum Schau­platz ei­nes Ver­bre­chens ge­macht hät­te. Aber war es wirk­lich nur Man­gel an Be­ken­ner­mut? muss ich mich nach­träg­lich fra­gen. War es nicht auch zum gu­ten Teil jene Scham des Her­zens, die mich so oft ab­hielt, all­zu wer­te Na­men aus­zu­spre­chen und mich lie­ber an­de­re, un­wich­ti­ge­re vor­schie­ben ließ, nur um nichts mir Hei­li­ges zu ent­wei­hen? – Der Kna­be Dan­te, der um die Neu­gier von sei­nem Ge­fühl für Bea­tri­ce ab­zu­len­ken, ei­ner An­de­ren, Gleich­gül­ti­gen hul­dig­te, fand bei mir ein of­fe­nes Ver­ständ­nis.

Wenn ich es mei­ner Mut­ter zu­wei­len im stil­len ver­argt habe, dass sie auf die­sem Punkt wie auf man­chem an­de­ren im vor­aus über mein un­mün­di­ges Haupt hin­weg für mich ent­schied, statt mich als Kind das Glück der Glau­bens­ge­mein­schaft mit den Al­ters­ge­nos­sen kos­ten zu las­sen und her­nach mei­nem ge­reif­ten Den­ken an­heim­zu­stel­len, was ich da­von als wahr an­neh­men woll­te und was nicht, so sehe ich jetzt, nach­dem ich mich bes­ser ken­nen­ge­lernt habe, dass sie mich mit mei­ner er­reg­ba­ren Fan­ta­sie und dem emp­find­li­chen Ge­wis­sen viel­leicht vor re­li­gi­ösen Wahn­vor­stel­lun­gen oder dau­ern­der Ver­düs­te­rung be­wahrt hat. Mir will schei­nen, dass nur See­len, die durch den re­li­gi­ösen All­tag ab­ge­stumpft sind, an die­ser Ge­fahr sorg­los vor­über­ge­hen und sich an ih­ren Kon­fir­ma­ti­ons­ge­schen­ken er­freu­en. Chris­tus sprach es aus, er habe das Schwert ge­bracht und nicht den Frie­den, und wahr­lich die­ses Schwert durch­schnei­det seit sei­nem Kom­men das Herz der Mensch­heit. Luther soll – ich weiß nicht mehr wo – ge­sagt ha­ben, es gebe See­len, die gar nicht aus dem Fe­ge­feu­er her­aus­wol­len – ein qual­vol­les Wort, in dem alle Schau­er des Ge­wis­sens zit­tern! Aber die­se Schau­er sind nur für die Gu­ten, die großen Ver­bre­cher ha­ben ein bes­se­res Ru­he­kis­sen.

Kei­ne Re­li­gi­on hat es ih­ren Be­ken­nern so schwer ge­macht wie das Chris­ten­tum, kei­ne hat ihre Her­zen so mit Schwer­tern zer­fleischt. Wie soll­te das wehr­lo­se Kin­der­herz die Nacht in Geth­se­ma­ne er­tra­gen, die furcht­bars­te, die je über die Erde ge­gan­gen ist, wo dem Gott­men­schen der Angst­schweiß aus al­len Po­ren bricht, wäh­rend die Jün­ger, bra­ve Leu­te, de­ren gro­bir­di­sche Na­tur dem Schlaf nicht weh­ren kann, ihn sei­ner Not al­lein über­las­sen. Ich muss­te von Ju­gend auf je­den Ver­bre­cher mit mei­nen Ge­dan­ken zum Richt­platz be­glei­ten – ich tat es be­wusst, weil es mir schmäh­lich schi­en, der ei­ge­nen Ruhe zu­lie­be von dem Men­schen­bru­der, auch dem ver­wor­fens­ten, in der letz­ten Angst die Au­gen weg­zu­wen­den. Wie nun die­sen so zu wis­sen! Und der un­aus­denk­ba­re Au­gen­blick, wo der ir­di­sche Zwil­ling, der dem Gött­li­chen zur Wohn­statt ge­dient hat, jetzt in der Mar­ter sein Ent­wei­chen fühlt und ihm nach­schreit: Wa­rum hast du mich ver­las­sen?

O wie konn­te er ihn ver­las­sen? Wa­rum hat er ihm das ge­tan, dass er ihn nicht bis zum Letz­ten stütz­te? Oft ge­nug mag sich das in Ge­schich­te und Ein­zel­ge­schick wie­der­ho­len, dass der stür­men­de Geist einen Sterb­li­chen er­greift und ihn sich zum Zeug­nis an den Ab­grund reißt, wo er den Stür­zen­den grau­sam al­lein lässt. – Und Ju­das, wer denkt an ihn? Seit zwei­tau­send Jah­ren ver­flucht die Mensch­heit den, der am Tage von Gol­ga­tha noch gräss­li­che­re Qua­len litt als der am Kreuz und dem doch auf­er­legt war, zu tun was er tat. Im­mer wie­der wirft er den An­stif­tern sei­nes Ver­rats die Sil­ber­lin­ge vor die Füße und hört im­mer wie­der ihr kalt­schnäu­zi­ges: Da sie­he du zu! Ob der Be­richt wahr sei oder Sinn­bild, das än­dert nichts an der Tat­sa­che, dass Ju­das war und ist und im­mer sein wird mit sei­ner Verzweif­lung, die tiefer als alle Höl­le ist, und dass ihm nicht ein­mal ein Schwamm mit Es­sig in sei­ne Höl­le hin­un­ter­ge­reicht wur­de. Und dass auch der Al­lie­ben­de dem Un­se­ligs­ten von al­len kei­nen Trop­fen Lab­sal aus dem Rie­sen­kelch sei­ner Ver­zei­hung ge­spen­det hat, nach­dem er doch sel­ber be­foh­len hat: Lie­bet eure Fein­de, tuet Gu­tes de­nen die euch Bö­ses tun. Wa­rum Er selbst nur dem einen nicht, den die ver­zwei­fel­te Reue sich zu ih­rem ei­ge­nen Ur­bild ge­prägt hat. O wie rät­sel­haft be­gann schon das Er­lö­sungs­werk!

Nein, ich dan­ke es doch mei­ner Mut­ter, dass sie mich nicht in zar­ten Jah­ren die­sen Wi­der­sprü­chen aus­ge­setzt hat. So lern­te ich die herz­zer­flei­schen­de Leh­re von der Pas­si­on Chris­ti erst ken­nen, als ich schon mit den an­de­ren re­li­gi­ösen Vor­stel­lungs­wel­ten be­kannt war und mir der Ur­ver­wandt­schaft Al­ler als Spie­ge­lun­gen ei­ner und der­sel­ben ewi­gen un­er­reich­ba­ren Grund­wahr­heit be­wusst ge­wor­den. Das Chris­ten­tum wäre aber schon da­durch vor al­len an­de­ren Glau­bens­krei­sen ge­hei­ligt, dass seit sei­nem Be­ste­hen alle Trä­nen der Mensch­heit da zu­sam­men­flie­ßen. Ob wir uns zu sei­nen Dog­men be­ken­nen oder nicht, es ist die Kul­tur­luft die wir at­men und die uns al­len die nicht zu bre­chen­de in­ne­re For­mung ge­ge­ben hat. Chris­tus konn­te das blu­ti­ge Le­bens­ge­setz des Pla­ne­ten nicht wen­den. Er steht nur wie je­ner er­schüt­tern­de Kru­zi­fi­xus über dem Schlacht­feld, dem sie das stüt­zen­de Kreuz im Rücken weg­ge­schos­sen ha­ben und der doch noch im­mer die ge­mar­ter­ten Arme aus­ge­spannt hält, da­mit sich alle Not und Verzweif­lung da hin­ein­stür­zen kann. Aus ur­al­ter öst­li­cher Weis­heit raunt eine Ver­kün­di­gung her­über, dass der Licht­geist mit je­dem neu­en Wel­tal­ter wie­der­kom­men müs­se um das Er­lö­sungs­werk ein Stück vor­wärts zu tra­gen. Möge er bei sei­ner nächs­ten Kunft sich vor al­lem de­rer er­in­nern, die schwe­rer als der Mensch und un­schul­di­ger als er an dem ers­ten Schöp­fungs­feh­ler lei­den. Wer ohne den Stab der Über­lie­fe­rung, die für mich ab­ge­ris­sen war, al­lein die Su­che an­tritt aus Wust und Zorn und Gram der Welt nach dem lie­be­glü­hen­den Got­tes­her­zen, der fühlt wohl an dem zu­neh­men­den Er­war­men des ei­ge­nen, dass er ihm schritt­wei­se nä­her­kommt. Aber zu­gleich mit der wach­sen­den Lie­be zu al­lem Ge­schaf­fe­nen wächst die Verzweif­lung dar­über, dass al­les, was Tier­leib trägt, zu der grau­si­gen Mar­ter der ge­gen­sei­ti­gen Zer­flei­schung ge­schaf­fen ist, und dass wir selbst, wie wir auch zu scho­nen su­chen, doch im­mer ir­gend­wie aus der Ver­til­gung von Le­ben un­ser Le­ben zie­hen. So­lan­ge aber der Mensch den Bru­der Ochs mor­det um sich an ihm zu sät­ti­gen, so­lan­ge mor­det er auch den Men­schen­bru­der um an­de­rer Ge­lüs­te wil­len, und so­lan­ge bleibt die Er­lö­sung ein schö­ner Traum. Vor die­sem fürch­ter­li­chen, un­lös­li­chen Zwie­spalt legt der Wan­de­rer zu Gott rat­los sei­nen Stab nie­der.

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Wenn es auch mei­nen kin­di­schen Be­mü­hun­gen nicht ge­lin­gen konn­te, den Gott­men­schen, nach dem ich such­te, zu fin­den, so fand ich da­für die An­leh­nung an das Hö­he­re in der Dich­tung. Wir Kin­der hat­ten an un­sern El­tern das höchs­te Bei­spiel vor Au­gen, aber eine ei­gent­li­che ethi­sche Un­ter­wei­sung als ab­strak­te Leh­re gab es für uns nicht, sie lag nur gleich­sam in der Luft. Auch die zehn Ge­bo­te lern­te ich erst ken­nen, als Al­fred sie selt­sam miss­ver­stan­den aus der Schu­le mit­brach­te. Und doch be­darf die jun­ge, su­chen­de See­le ei­ner Form­ge­bung im Wort, wo­durch das Er­fühl­te Kör­per wird. Die­ses Be­dürf­nis be­frie­dig­ten mir in der Kind­heit die Ge­dich­te Schil­lers. Nicht die »Glo­cke«, ge­gen die ich trotz mei­ner Ab­kunft aus der Glo­cken­gie­ßer­zunft eine un­be­sieg­li­che Ab­nei­gung hat­te als all­zu bür­ger­lich und ver­stan­des­mä­ßig, son­dern sei­ne phi­lo­so­phi­schen Ge­dich­te, vor al­lem »Das Ide­al und das Le­ben«, die­ses von al­len Schil­ler­schen Ge­dich­ten mit der größ­ten Flug­kraft aus­ge­rüs­te­te, des­sen Dun­kel­heit mich eben­so an­däch­tig stimm­te wie mich sein Schwung mit em­por­riss. Ich ent­deck­te es für mich al­lein und be­wahr­te es als mein Ge­heim­nis, wie al­les was ich lieb­te. Ich trat da in eine von Sil­ber­tö­nen schim­mern­de See­len­land­schaft, worin sich die viel­ge­lieb­ten Ge­bil­de des grie­chi­schen My­thos ver­traut aber fei­er­li­cher als sonst be­we­gen. Dass »oben in des Lich­tes Flu­ren gött­lich un­ter Göt­tern die Ge­stalt« wan­delt, mach­te mich reich und se­lig. Ich wuss­te zwar nicht, wer die Ge­stalt war, aber das brauch­te es nicht, sie war da, sie gab Ge­wiss­heit, und man muss­te vor ih­ren stil­len Au­gen be­ste­hen kön­nen. Dass man »die Angst des Ir­di­schen« (wie schwer wog die­ses Wort für mich!) von sich tun und »hoch auf ih­ren Flü­geln« schwe­ben konn­te, be­wirk­te in mir eine Art in­ne­rer Le­vi­ta­ti­on. Ich be­grei­fe es, wenn Re­li­gi­on ihre hei­li­gen Hand­lun­gen in eine Spra­che klei­det, die der Ge­mein­de dem Wort­laut nach dun­kel und nur dem Ge­fühl er­reich­bar ist. So wur­de Schil­ler – Hera­kles, als der er sich selbst am Schluss in der Ver­klä­rung ent­hüllt, ge­wis­ser­ma­ßen der geist­li­che Füh­rer mei­ner ers­ten Ju­gend. Sei­ne Ver­se ho­ben und tru­gen mich durch ih­ren Rhyth­mus und durch die blo­ße Fol­ge hel­ler und dunk­ler Vo­ka­le. Dass ich mich da­nach mit mei­nen poe­ti­schen Kin­der­ver­su­chen an ihn, an sei­ne grie­chi­schen Bal­la­den zu leh­nen such­te, ver­steht sich von selbst. Ein von mei­nem be­geis­ter­ten Müt­ter­lein höchst ge­schätz­tes Be­mü­hen, das sie bald sel­ber zu­nich­te mach­te, in­dem sie dem scheu­en Kind sei­ne Heim­lich­kei­ten weg­nahm und un­ter die Leu­te brach­te, da­mit den vor­ei­li­gen Trieb er­tö­tend, was ihr zum Schmerz, mir aber ge­wiss zum Hei­le war. Goe­the – Pro­me­theus, ein Pro­me­theus ohne Gei­er, wie ich mit dem gan­zen ehe­ma­li­gen Deutsch­land mein­te, trat erst für die Er­wach­se­ne auf den Plan, die er­kann­te, dass Er­ha­ben­heit auch au­ßer­halb der er­ha­be­nen Töne woh­nen kann. Dass er eben­so sei­nen Gei­er hat­te wie je­der große Deut­sche, den Gei­er des Un­ver­stan­den­seins, das frei­lich blieb erst der selbst­stän­di­gen Ein­sicht der reifs­ten Jah­re vor­be­hal­ten. Denn un­se­re Gro­ßen müs­sen im­mer wie­der von der Na­ti­on ver­kannt sein, da­mit sie von den nach­wach­sen­den Ge­schlech­tern je­weils auf ei­ner hö­he­ren Er­kennt­nis­stu­fe neu er­stie­gen wer­den.

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Das Le­ben die­ses selt­sa­men Kin­des und jun­gen Mäd­chens kann nicht ver­stan­den wer­den, wenn man es nicht auf der Grund­la­ge des ver­ei­nig­ten Grie­chen- und Ger­ma­nen­tums liest, des­sen Dop­pel­my­thos als dau­ern­des Wun­der­zei­chen an mei­nem Ju­gend­him­mel stand. Aus den Schick­sa­len mei­ner schö­nen, frühster­ben­den Lieb­lings­hel­den, Achill und Sieg­fried, be­son­ders des ers­te­ren, des Halb­got­tes, der mit sei­nem un­ver­gleich­lich hö­he­ren Le­ben den Sieg der ge­rin­ge­ren Waf­fen­ge­fähr­ten er­kauft, wuss­te ich schon als Kind, dass das Le­ben an sich tra­gisch ist, dass das Schö­ne kein Recht auf Dau­er hat und das Gro­ße dem Ge­mei­nen (das Wort im Sin­ne un­se­rer Klas­si­ker ge­nom­men) den Platz räu­men muss. Aber ich wuss­te auch oder fühl­te es, dass es eben der Sieg des Hö­he­ren ist, was durch sei­nen Un­ter­gang er­kauft wird. Die Küs­te von Tro­ja kann­te ich, be­vor ich noch eine gan­ze Stra­ßen­län­ge über un­se­ren Obst­gar­ten in Obe­reß­lin­gen hin­aus­ge­kom­men war, und im Heran­wach­sen lern­te ich bald auch die Trüm­mer­hau­fen der Ed­da­lie­der ken­nen. Mei­ne tiefs­te und dau­ernds­te Lie­be aber blieb für im­mer dem Soh­ne der The­tis, der dem Wäl­sun­gen­spross in eben dem über­le­gen ist, was wir ge­neigt sind, als un­ser be­son­de­res Erb­teil in An­spruch zu neh­men: der Treue und Wahr­heit. Denn Sieg­fried, der in trun­ke­ner Ju­gend­kraft nur sich sel­ber sieht und kennt, ver­rät nicht nur die eben­bür­ti­ge Braut aus Göt­ter­stamm, er zwingt sie auch durch Be­trug und Ge­walt in die Arme des ih­rer un­wür­di­gen Man­nes, um durch ihr Elend sein arm­se­li­ges Stück­chen Glück zu er­kau­fen. So ist sein Ende durch Sip­pen­ver­rat wohl der Un­ter­gang hel­di­scher Herr­lich­keit, er ist zu­gleich aber ge­rech­te Süh­ne ei­nes Fre­vels, wie er ruch­lo­ser nicht vom Mann am Wei­be be­gan­gen wor­den ist. Wenn Heb­bel fin­det, dass durch die­se Meu­chel­tat »der alte Kampf ums Vor­recht (der Ge­schlech­ter) aus­ge­kämpft« sei, so blei­be ihm die­se Ge­nug­tu­ung über­las­sen. »Vor­recht«, ein ar­mes Wort an­ge­wandt auf die tra­gi­sche Ver­wick­lung zwei­er Mäch­te, die nur in gleich­schwe­ben­der Waa­ge ihr hö­he­res Sein er­fül­len kön­nen. Es ist eine un­aus­ge­spro­che­ne, viel­leicht noch nir­gends be­ach­te­te Fein­heit in der Sieg­fried­my­the, dass der Held aus der Ehe mit Gun­thers Schwes­ter nicht den Hel­den­sohn ge­winnt, den er aus Göt­ter­stamm hät­te zeu­gen müs­sen, und ihm nur eine Toch­ter hin­ter­bleibt, die, gleich­falls durch Sip­pen­ver­rat, zu schau­ri­gem Ende be­stimmt ist. Aus dem my­thi­schen Stamm des Achill da­ge­gen er­wuchs durch die zeu­gen­de Kraft des Ideals der his­to­ri­sche Alex­an­der.

Mit Trug und Hin­ter­list hat der Sohn der Meer­göt­tin und En­kel des Zeus nichts zu schaf­fen: ver­hasst ist ihm »wie die Pfor­te des Aïs, wer ein an­de­res spricht und ein andres im Bu­sen be­we­get«. Der Un­be­sieg­ba­re, der mit sei­ner Per­son al­lein das gan­ze Heer der Grie­chen auf­wiegt, kämpft auch nicht für sich, ihn treibt we­der Ge­winn­sucht noch Ruhm­gier, nur das Ge­fühl der Ehre. Er hat sich der Sa­che der Grie­chen ver­schwo­ren, die ihn im Grun­de nichts an­geht, weil er ja gar nicht un­ter den Frei­ern der He­le­na war, und er kämpft für sie, ob­gleich er weiß, dass ihr Sieg nur durch sei­nen frü­hen Tod er­kauft wer­den kann. Sein Le­ben und Ster­ben sind eine Dar­brin­gung: mit die­ser Auss­trah­lung des Gött­li­chen tritt uns der tod­ge­weih­te Halb­gott schon bei sei­nem ers­ten Er­schei­nen ent­ge­gen. Und ob er im Zelt die He­rol­de emp­fängt, die kom­men ihm die Brysëis weg­zu­füh­ren – wer könn­te sie ihm ent­rei­ßen, hät­te er nicht ge­lobt sich sel­ber zu be­zäh­men! –, oder ob er wei­nend am Ge­sta­de sitzt, die gött­li­che Mut­ter an­ru­fend in sei­nem Leid –, im­mer ist es um ihn wie eine lei­se schmel­zen­de Mu­sik, die alle sei­ne Be­we­gun­gen be­glei­tet. Wo­ge­gen um sei­nen ger­ma­ni­schen Zwil­lings­bru­der nur im­mer wie­der die Jagd­f­an­fa­ren der un­ge­bän­dig­ten Ju­gend­lust er­tö­nen. Aber end­lich, wenn das Maß voll ist, der ge­lieb­tes­te Mensch er­schla­gen liegt und Verzweif­lung den Hel­den auf­rei­ßt, dann ist er nicht mehr Mensch, dann ist er Na­tur­ge­walt, ist ufer­los, ist das Ra­sen sei­nes müt­ter­li­chen Ele­men­tes selbst, das die Ebe­ne von Tro­ja mit Lei­chen über­schwemmt, dann ver­folgt er sei­ne Fein­de noch in das Bet­te des auf­brau­sen­den Strom­got­tes wie das Meer, wenn es sei­ne Flut strom­auf­wärts jagt.

Den gan­zen ho­me­ri­schen My­thos um­wogt das Meer als sei­ne na­tür­li­che Beglei­tung; es singt ver­nehm­lich mit sei­nem An­rau­schen und Zu­rück­wo­gen im Rhyth­mus des Hexa­me­ters, der auch sei­ne tiefs­te Be­deu­tung ver­liert, wenn er auf bin­nen­län­di­sche Ge­gen­stän­de an­ge­wen­det wird. Für das ho­me­ri­sche Epos eine an­de­re Form zu su­chen, ist dar­um ein un­be­greif­lich falsches Be­gin­nen, seit der Hexa­me­ter durch das Rin­gen un­se­rer größ­ten Dich­ter der deut­schen Spra­che ge­won­nen ist, die da­durch al­lein vor al­len an­de­ren den Schlüs­sel zu dem he­ro­i­schen Stil der Al­ten emp­fing. Wir sol­len uns dar­um des phi­lo­lo­gi­schen Be­den­kens ganz ent­schla­gen, dass wir nicht wis­sen, wie der grie­chi­sche Hexa­me­ter dem Ohr der Grie­chen ge­klun­gen hat: si­cher ist, dass er für sie wie für uns den Rhyth­mus des Mee­res in sich trug. – Die na­tur­ge­ge­be­ne Form der Ed­da­lie­der da­ge­gen ist der Stab­reim, den ich auch schon als Kind lieb­te und mich so ger­ne von ihm auf sei­ne kurz­sto­ßen­den Flü­gel neh­men ließ, wenn das Fal­ken­hemd der Fre­ya schwirr­te, die Dra­chen­schif­fe der Nord­lands­re­cken auf­ein­an­der­prall­ten oder die Schild­jung­frau ih­ren Er­we­cker, der sie spä­ter so schmäh­lich be­trog, Heil­se­gen und Siegs­ru­nen lehr­te.

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