Buch lesen: «Isolde Kurz – Gesammelte Werke», Seite 4

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Umzug nach Kirchheim

In un­ser letz­tes Obe­reß­lin­ger Jahr fiel die Auf­re­gung über einen un­heim­li­chen Fund in der Nach­bar­schaft. In ei­nem eben erst er­wor­be­nen Schup­pen grub der neue Be­sit­zer zwei mensch­li­che Ge­rip­pe, ein großes und ein klei­ne­res, aus der Erde. Al­les eil­te hin, sie zu se­hen, wir Kin­der na­tür­lich auch. Sach­ver­stän­di­ge er­klär­ten, dass die Kno­chen ei­nem etwa vier­zig­jäh­ri­gen Mann und ei­nem drei­zehn- bis vier­zehn­jäh­ri­gen Mäd­chen an­ge­hör­ten, und dass sie jahr­zehn­te­lang in der Erde ge­le­gen hät­ten. Äl­te­re Leu­te er­in­ner­ten sich auch ei­nes Man­nes, der vor vier­zig oder mehr Jah­ren mit sei­nem Töch­ter­chen aus Ess­lin­gen ver­schwun­den war und den man in Ame­ri­ka ge­glaubt hat­te. Der frü­he­re Be­sit­zer des Schup­pens, ein al­ter, rei­cher, als Men­schen­feind ver­schrie­ner Bau­er, der sich lan­ge Zeit ge­gen den Ver­kauf die­ses vom Nach­bar be­gehr­ten Grund­stücks ge­sträubt ha­ben soll­te, wur­de gleich nach der Ent­de­ckung vom Schla­ge ge­rührt. Dunkle Ver­mu­tun­gen span­nen sich um die­se Be­ge­ben­hei­ten, ohne Ge­stalt zu ge­win­nen, denn das Ver­bre­chen war ver­jährt, so­mit wur­de ihm nicht wei­ter nach­ge­forscht. Aber nun tauch­ten auf ein­mal an­de­re un­heim­li­che Ge­schich­ten auf, die uns Tan­te Ber­ta und Jo­se­phi­ne an den lan­gen Aben­den mit rau­nen­der Stim­me er­zähl­ten. Ich be­gann in je­dem fremd­ar­tig oder fins­ter aus­se­hen­den Men­schen, ob er nun schiel­te oder sonst fehl­ge­schaf­fen war, den ge­hei­men Tä­ter ir­gend­ei­ner grau­en­vol­len, un­auf­ge­deck­ten Tat zu ah­nen. Die gu­ten Hol­den zeig­ten da ihr Dop­pel­ge­sicht der wohl­tä­ti­gen Fee und der düs­te­ren Schick­sals­schwes­ter, in­dem sie im­mer mehr Grau­en in mei­ne Näch­te tru­gen. So­gar die alte Mär vom Kro­ko­dil von Ess­lin­gen er­wach­te wie­der, das sich in einen Kel­ler ver­irrt hat­te und die zum Wein­zap­fen hin­un­ter­ge­sand­ten Mäg­de rumpf und stumpf auf­fraß, ein leib­haf­ti­ger Nach­kom­me der al­ten Tat­zel­wür­mer. Vi­el­leicht lag es jetzt eben in dem uns­ri­gen und sperr­te den Ra­chen ge­gen Jo­se­phi­ne auf, denn sol­che Un­ge­tü­me le­ben be­kannt­lich ewig. Mit der Ver­nunft mach­te ich mich zwar äu­ßer­lich über den Aber­glau­ben lus­tig, aber die Un­ver­nunft glaub­te heim­lich doch. Mei­ne Schutz­her­rin Pal­las Athe­ne hat­te mir lei­der nur ihre Tap­fer­keit, aber nichts von ih­rer Weis­heit ein­flö­ßen kön­nen. Und auch die Tap­fer­keit ver­lieh sie mir nur für die kur­z­en Stun­den, wo ich mit ih­rem Wahr­zei­chen, Eu­len­helm und Gor­go­nen­schild, be­wehrt im Gar­ten toll­te. So ab­ge­schlos­sen hat­te man mich ge­hal­ten, dass ich nicht ein­mal ohne Furcht al­lein durch die Dorf­gas­sen ging. Man konn­te da ei­nem lan­gen, stroh­gel­ben Idio­ten be­geg­nen, der zwar nie­mand ein Lei­des tat, der aber ein so selt­sam lee­res Ge­sicht hat­te, dass es war, als ob ein see­len­lo­ser Ge­gen­stand auf zwei Bei­nen da­her­käme und einen an­schau­te ge­gen al­les Na­tur­ge­setz. Wenn ein sol­cher Blick mich traf, be­gann ich zu zit­tern und drück­te mich scheu an die Wand oder lief wie ein Häs­lein.

Nun sehe ich mich selbst mit Mut­ter und Ge­schwis­tern zu­samt Jo­se­phi­nen (der Va­ter war vor­aus­ge­reist) in einen mit Kis­sen und an­de­rem Be­darf ge­füll­ten, ge­schlos­se­nen Wa­gen ver­packt, über ein fla­ches, hoch­ge­le­ge­nes Wie­sen­land hin­rol­len, das sich für mei­ne Au­gen in eine step­pen­haf­te Unend­lich­keit ver­lor, mit ei­nem ein­sa­men Schä­fer nebst Her­de und rot­ge­stri­che­nem Pfer­ch­kar­ren als un­ver­ge­ss­li­chem Bei­werk. Es war un­ser Aus­zug aus dem ge­lieb­ten Obe­reß­lin­gen, wo Freund Hopf sein Haus, den Schau­platz un­se­res Ju­gend­pa­ra­die­ses, ver­kauft hat­te. Wie wir in Kirch­heim u. Teck in ei­ner öden Stadt­woh­nung lan­de­ten, wo wir Kin­der wie ein­ge­sperr­te Vö­gel im Kä­fig um­her­flat­ter­ten und un­ser Müt­ter­lein sich für uns und mit uns un­glück­lich fühl­te, weiß ich mehr aus den Be­rich­ten an­de­rer. Wohl er­in­ne­re ich mich, wie ich in der Däm­mer­stun­de zu­wei­len aus­brach und zu ei­nem rau­schen­den Wehr hin­rann­te, um mich durch über­lau­tes Schrei­en und Sin­gen in wil­den Rhyth­men, die nie­mand hör­te, von dem ein­ge­schlos­se­nen Drang zu ent­las­ten. Das al­ter­tüm­li­che, da­mals noch sehr stil­vol­le Stadt­bild ver­haf­te­te sich, nicht mit klar­ge­se­he­nen Ein­zel­hei­ten, aber als Stim­mungs­zau­ber in mei­ner See­le und wur­de spä­ter, als ich in der Frem­de leb­te, ein lie­ber Hin­ter­grund mei­ner Hei­mat­träu­me, in de­nen meist die bei­den Flüss­chen von Kirch­heim, die Lau­ter und die Lin­dach, plät­scher­ten. Die eine rausch­te rasch und trü­be da­her, die an­de­re aber recht­fer­tig­te ih­ren Na­men, denn sie war lind und rie­selnd wie die­ser, und in bei­den konn­te man ba­den.

Bald da­nach sehe ich uns wie­der in ei­ner länd­li­chen Woh­nung vor der Stadt auf dem Wege nach der Teck, die mit ih­ren Alb­ge­schwis­tern ein­la­dend nie­der­sieht, in­mit­ten ei­nes von der Lau­ter durch­flos­se­nen Gar­tens mit Lau­be und Gar­ten­haus. Die Brü­der ge­hen zur Schu­le, ich wer­de al­lein zu Hau­se un­ter­rich­tet, aber der Lernei­fer hat merk­lich nach­ge­las­sen, weil der ge­wohn­te Wett­lauf mit Ed­gar ab­ge­stellt ist. Die­ser wur­de nun schon ein ganz ge­lehr­tes klei­nes Haus und pfleg­te mich we­gen mei­ner gräu­li­chen Feh­ler im la­tei­ni­schen Ar­gu­ment weid­lich aus­zu­la­chen, aber er gab mir von sei­ner jun­gen Weis­heit nichts ab. Mein gu­tes Müt­ter­lein stu­dier­te sei­ne la­tei­ni­schen Schul­hef­te nach, um mir dar­aus vor­wärts zu hel­fen. Mehr Freu­de mach­ten mir die le­ben­den Spra­chen, das Fran­zö­si­sche und das Ita­lie­ni­sche, das sie mir so ne­ben­her bei­brach­te, ich weiß selbst nicht wie. Aber ich hat­te gar kei­nen Ehr­geiz mehr und ver­träum­te am liebs­ten mei­ne Zeit im Gar­ten. Eine zah­me Els­ter war mei­ne Spiel­ka­me­ra­din, die mich über­all hin be­glei­te­te und mir die Haar­na­deln vom Kop­fe und mei­ne klei­nen Schmuck­sa­chen vom Hal­se stahl. Ge­le­sen wur­de über die Ma­ßen viel, mit aus­ge­spro­che­nem Für und Wi­der, Ein­drücke, für die das Kind na­tür­lich kei­ne Er­klä­rung hat­te, die sich aber beim spä­te­ren Le­sen im­mer wie­der­hol­ten. So ent­zück­te mich vor al­lem die Tu­ran­dot, die­se rei­zen­de Ve­rei­ni­gung von großem Schil­ler­schem Fal­ten­wurf mit leicht­be­weg­li­cher ita­lie­ni­scher Gra­zie. Die Vor­stel­lungs­wel­ten, die ich in den Bü­chern fand, wa­ren mir alle schon ge­läu­fig. Un­se­re Mut­ter leb­te und web­te in Hel­las und hat­te da­ne­ben einen star­ken Zug zur ro­ma­ni­schen Kul­tur. Der Va­ter wies auf deut­sches Volks­tum hin und hul­dig­te auf Spa­zier­gän­gen dem Ge­ni­us loci, in­dem er von den Sa­gen der Schwä­bi­schen Alb er­zähl­te. Da er aber meist eben­so still und wort­karg wie die Mut­ter leb­haft und mit­teil­sam war, ge­riet das Deutsch­tum zu­nächst in Nach­teil. Nur mit den alt­ger­ma­ni­schen Göt­tern wa­ren wir von klein­auf ver­traut und sie bil­de­ten bei ih­rer na­hen Ver­wandt­schaft mit den grie­chi­schen eine tief­sin­ni­ge Er­gän­zung zu die­sen.

Die Kirch­hei­mer Zeit ist für mei­ne El­tern wohl die schwers­te ih­rer Ehe ge­we­sen; die Le­bens­aus­sicht war eine Zeit lang nach al­len Sei­ten ver­baut. Mei­ne Mut­ter fühl­te sich dort töd­lich ver­ein­samt; sie ver­miss­te nun auch die treue Hopf­sche Fa­mi­lie, bei der sie doch im­mer die ihr so nö­ti­ge An­spra­che ge­fun­den hat­te. Sie ar­bei­te­te sich ab, um ne­ben den häus­li­chen Ge­schäf­ten die Hö­schen und Jäck­chen ih­rer vier Bu­ben aus al­ten Män­ner­klei­dern zu­recht­zu­schnei­dern, eine Kunst, für die das Freifräu­lein von Brun­now nicht er­zo­gen war. Für mich sorg­ten zar­te Feen­hän­de, dass ich fast im­mer nied­lich ge­klei­det ging und ihr auch von die­ser Sei­te kei­ne Mühe mach­te. Des Abends las sie uns den He­ro­dot vor; ihre un­ge­heu­re Spann­kraft schnell­te gleich wie­der auf, wenn sie bei ih­ren Grie­chen war. Ne­ben­her er­schwang sie noch die Zeit, sich mit­ten im Kin­der­lärm schrift­stel­le­risch zu be­tä­ti­gen; sie hat­te kei­ne Spur von li­te­ra­ri­schem Ehr­geiz und woll­te nur zum Er­werb ein klei­nes Scherf­lein bei­tra­gen. So ent­stand ein Band Mär­chen, teils in Pro­sa, teils in Ver­sen, der ei­ni­ge Jah­re spä­ter (1867) bei Scho­ber in Stutt­gart er­schi­en. Sie sei­en um einen Ton zu hoch ge­grif­fen, sag­te mein Va­ter, der üb­ri­gens sei­nen Se­gen dazu gab, nach­dem sie die Scheu, ihm ihre Sa­chen zu zei­gen, über­wun­den hat­te. Die Er­zäh­lun­gen in Ver­sen ge­lan­gen ihr bes­ser, weil ihr die me­tri­sche Spra­che na­tür­li­cher und ein­fa­cher lag als der Pro­sa­ton. Da wir wie Ge­schwis­ter zu­sam­men­leb­ten, ließ sie mich Neun­jäh­ri­ge in eine auf Is­land spie­len­de Ge­schich­te auch ein paar ge­reim­te Zei­len hin­ein­pfu­schen. Als das fer­ti­ge Ge­dicht, das am Ende eine ge­wis­se Hast ver­riet, mei­nem Va­ter vor­ge­legt wur­de, schrieb er ne­ckend im glei­chen Vers­maß dar­un­ter:

Und zap­pelnd und ver­zwei­felnd ei­len

Zum letz­ten Zug die letz­ten Zei­len.

So et­was kränk­te sie nicht nur nicht, son­dern sie freu­te sich, dem erns­ten, stil­len Mann, ne­ben dem sie im­mer wie ein über­le­ben­di­ges Kind er­schi­en, einen Strahl sei­nes al­ten Hu­mors ent­lockt zu ha­ben. Auch eine Er­zäh­lung aus dem Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg hat­te sie da­mals un­ter der Fe­der, die spä­ter gleich­falls ge­druckt wur­de. Da die Ver­fas­se­rin Men­schen und Din­ge we­nig kann­te, und mehr in der Idee als in der An­schau­ung leb­te, blie­ben ihre Ge­stal­ten et­was ab­strakt und farb­los. Sie war sich dar­über voll­stän­dig klar, ja sie un­ter­schätz­te ihre Be­ga­bung weit, da sie auch ihre Ver­se, zu de­nen ein in­ne­res Be­dürf­nis sie von klein­auf trieb, nicht als wirk­li­che poe­ti­sche Er­zeug­nis­se, son­dern nur als un­ent­behr­li­che in­ne­re Ent­las­tung gel­ten ließ. Mein Va­ter äu­ßer­te sich da­mals in sei­ner bild­li­chen Re­de­wei­se zu mir über ihre dich­te­ri­schen Ver­su­che:

Ihre Muse ist ein ganz hüb­sches Kind, aber sie hat zer­ris­se­ne St­rümp­fe an.

Als ich die­ses Ur­teil ein­mal ganz spät am Ende ih­rer Tage der in­zwi­schen acht­zig­jäh­rig Ge­wor­de­nen er­zähl­te, ant­wor­te­te sie lä­chelnd: Ich habe sie seit­dem ge­flickt. Es hat­te sei­ne Rich­tig­keit. Ihre Gabe, sich poe­tisch aus­zu­drücken, ent­wi­ckel­te sich mit den Jah­ren im­mer mehr, wie über­haupt ihre gan­ze Per­sön­lich­keit be­stimmt war, erst im höchs­ten Grei­sen­al­ter, das bei ihr noch im­mer quel­len­de Ju­gend war, eine süße duf­ten­de Rei­fe zu er­lan­gen wie eine al­le­re­dels­te Wein­sor­te. Da­mals war sie noch brau­sen­der Most und gär­te mit ih­ren Kin­dern um die Wet­te.

Was üb­ri­gens die zer­ris­se­nen St­rümp­fe be­trifft, so gab es de­ren im Haus nur all­zu vie­le; das moch­te mei­nem Va­ter das Bild na­he­ge­legt ha­ben. Wenn Mama und Jo­se­phi­ne sie nicht mehr be­wäl­ti­gen konn­ten, so wur­de ein großer Pack dar­aus ge­macht und an das ge­lieb­te »Wald­fe­ger­lein« ge­sandt, Ru­dolf Kaus­lers1 Nich­te, so ge­nannt nach mei­nes Va­ters gleich­na­mi­gem, ihr ge­wid­me­ten Ge­dicht. Sie war die Hol­des­te von den gu­ten Hol­den, die un­se­re Kind­heit be­treu­en hal­fen, auch äu­ßer­lich zart und leicht wie eine Elfe. Sie stopf­te die St­rümp­fe mit Hin­ge­bung und mit dem Ma­schen­stich, wo­nach sie wie neu wur­den, und wenn der Pack zu­rück­kam, fiel im­mer et­was Be­glücken­des für uns Klei­ne mit her­aus. Die El­tern aber er­quick­ten sich an ih­ren geist­vol­len und ei­gen­ar­ti­gen Brie­fen, die ganz in der Stil­le blüh­ten, doch man­cher be­rühm­ten Brief­samm­lung nicht an künst­le­ri­schem Reiz nach­stan­den.

Über­haupt, was gab es da­mals für Freund­schaf­ten auf der Welt, und wie leb­ten sie sich in Brie­fen aus, ver­schwen­de­risch und über­schweng­lich mit den in­ne­ren Gü­tern schal­tend. Um je­des edle Herz stand eine Schutz­mau­er von Lie­be. Die Erde mit all ih­ren Küm­mer­nis­sen wäre ja gar nicht be­wohn­bar ge­we­sen ohne den En­gel der Freund­schaft, der zwi­schen den Men­schen hin und her ging. Man krit­tel­te und zer­glie­der­te auch noch gar nicht, son­dern nahm sich ge­gen­sei­tig so wie man war schlecht­hin als Gan­zes, und lieb­te sich ohne viel zu tüf­teln und zu deu­teln. Die psy­cho­lo­gi­sche Neu­gier, die nicht ru­hen kann, bis sie einen Cha­rak­ter in sei­ne Ein­zel­hei­ten zer­legt hat, kam erst in der jün­ge­ren Ge­schlechts­rei­he auf, und man dünk­te sich wun­der wie klug, als man zu zer­fa­sern be­gann. Es fragt sich aber sehr, ob nicht jene die Klü­ge­ren wa­ren, die das Le­ben ganz un­be­fan­gen leb­ten und, vom blo­ßen Ah­nungs­ver­mö­gen ge­lei­tet, ge­wiss nicht öf­ter fehl­grif­fen als die Jun­gen mit ih­rer Weis­heit.

Wenn ich an Kirch­heim den­ke, steigt noch ein blas­ses, aber un­ver­wisch­ba­res Bild vor mir auf: eine grü­ne Fest­wie­se mit Bän­ken und Ti­schen, an de­nen ge­ta­felt wur­de, und ei­nem sich dre­hen­den Ka­rus­sell, dem Höchs­ten von ir­di­scher Se­lig­keit, was ich da­mals kann­te! Dann ein lan­ger Zug von klei­nen weiß­ge­klei­de­ten Mäd­chen, die meis­ten von mei­nem Al­ter, mit Krän­zen um die Stirn, je zwei und zwei sich bei der Hand hal­tend, wäh­rend von der Wie­se her die Mu­sik tön­te. Ich war eben­falls weiß und fest­lich ge­klei­det und trug den schöns­ten Kranz von Mai­en­blu­men im Haar, aber ich ging nicht mit im Zug, der aus den Schul­kin­dern ge­bil­det war, son­dern stand ab­seits an der Hand der Mut­ter, um zu­zu­se­hen. Die Brü­der wa­ren ein­ge­reiht und schrit­ten je­der mit sei­ner Klas­se. An mir aber ging der Zug vor­über, der grü­nen Wie­se, dem Pa­ra­dies­gar­ten, dem Fes­te der ewi­gen Freu­de zu. Da über­kam es mich plötz­lich, was es heißt, »nicht da­bei zu sein«. Es war ein maß­lo­ser Schmerz wie ein er­zwun­ge­ner ewi­ger Ver­zicht auf alle Freu­den die­ser grü­nen Erde. Und Mama be­griff ihr dum­mes klei­nes Mä­del nicht, das nur mit Mühe un­ter Auf­bie­tung al­len Stol­zes den Trä­nen wehr­te. Kann aber ein Er­wach­se­nes, auch das lie­be­volls­te, nach­füh­len, was je­nes Nicht­da­bei­sein dem Kin­de be­deu­te­te?

Und nun läu­ten auf ein­mal in mei­ner Erin­ne­rung Os­ter­glo­cken. Aus Mün­chen, wo­hin mein Va­ter sich auf ein paar Wo­chen zu sei­nem Freund Paul Hey­se be­ge­ben hat­te, kam die Heils­bot­schaft, dass wir alle bin­nen kur­z­em nach der großen bay­ri­schen Kunstre­si­denz über­sie­deln wür­den, wo uns end­lich ein frei­es, ein wahr­haft men­schen­wür­di­ges Le­ben er­war­te­te. Dort wür­den die El­tern einen gleich­ge­sinn­ten, fein ge­bil­de­ten Freun­des­kreis fin­den, die Bu­ben Mit­tel zum Stu­die­ren, ich die Ge­le­gen­heit, das Kunst­ta­lent, das man mir zu­schrieb, weil ich noch im­mer eif­rig für mich zeich­ne­te, aus­zu­bil­den. Die Mut­ter ging in ei­nem be­stän­di­gen Glücks­rausch um­her. Aber das Ver­hei­ßungs­land ver­sank, wie es auf­ge­taucht war; wie und warum, steht in mei­nes Va­ters Le­bens­ge­schich­te. Es war der höchs­te Wel­len­berg der Hoff­nung, den un­ser Schiff­lein je er­klet­ter­te, und nun schoss es jäh in einen trost­lo­sen Ab­grund hin­un­ter, in dem mein ra­sches Müt­ter­lein schon den Un­ter­gang sah. Doch es tauch­te wie­der auf und schwamm ei­nem nicht so ver­lo­cken­den, aber si­che­ren Ha­fen zu, dem al­ten Tü­bin­gen, wo un­ser Va­ter vor Jahres­schluss einen Biblio­the­kars­pos­ten an der Uni­ver­si­tät an­trat.

1 Ju­gend­freund mei­nes Va­ters und gleich­falls Dich­ter, von ihm un­ter dem Na­men Ru­wald in der No­vel­le Das Wirts­haus ge­gen­über ein­ge­führt. Da­mals Pfar­rer in Klein-Eis­lin­gen. <<<

Das alte Tübingen

Den Ort, an den mich jetzt mei­ne Erin­ne­rung führt, wür­de man heu­te auf Er­den ver­geb­lich su­chen. Zwar hat sich mein al­tes Tü­bin­gen äu­ßer­lich nicht all­zu viel ver­än­dert. Sei­ne Ge­stalt ist durch den hü­ge­li­gen Bo­den, der es trägt, und durch die ge­schlos­se­nen Li­ni­en des mit­tel­al­ter­li­chen Städ­te­baus für alle Zei­ten fest­ge­legt. Noch im­mer spie­gelt sich die hohe und stei­le Gie­bel­rei­he der Neckar­front mit dem aus der Asche von 1875 wie­der­er­stan­de­nen Höl­der­lin­sturm in dem still zie­hen­den Fluss, und un­ver­rückt steht auf der höchs­ten Hü­gel­kup­pe Schloss Ho­hentü­bin­gen mit sei­ner ge­streck­ten Mas­se und den stump­fen Tür­men, die noch die Spu­ren Tu­ren­nes und Me­lacs am Lei­be tra­gen. Und die be­herr­schen­de Stifts­kir­che aus ei­nem stei­len, hoch­ge­mau­er­ten Vor­sprung reckt sich trot­zig wie ein ge­wapp­ne­ter Erz­en­gel im Stadt­in­nern em­por. Sol­che Züge sind un­ver­wisch­bar. Aber was die­sen Zü­gen in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren ih­ren ur­ei­ge­nen geis­ti­gen Aus­druck gab, die mit­tel­al­ter­li­che Ro­man­tik, ist für im­mer dar­aus ver­schwun­den. Das Stu­den­ten­le­ben hat sich in die häss­li­chen neu­zeit­li­chen Kor­po­ra­ti­ons­häu­ser auf den An­hö­hen zu­rück­ge­zo­gen, die für die wei­chen, nie­de­ren Hü­gel viel zu groß sind und laut aus der Har­mo­nie des Gan­zen her­aus­fal­len. Da­mals spiel­te sich die­ses Le­ben noch in den krum­men und stei­len Stra­ßen ab, wo das Trei­ben und Tol­len nie­mals ruh­te. Zwar sei­ner Lieb­lings­be­schäf­ti­gung, dem Trunk, lag der Mu­sen­sohn, mit Aus­nah­me der be­lieb­ten »Na­tur­knei­pe­rei­en« auf dem Wöhrd oder dem Schänz­le, auch da­mals im ge­schlos­se­nen Rau­me ob, aber die Fol­gen tob­ten sich im Frei­en aus. Es sang und klang stra­ßen­auf und -ab, noch öf­ter brüll­te und gröl­te es. Dann gab es die An­rem­pe­lun­gen mit nach­fol­gen­der »Kon­tra­ha­ge« nach dem be­rühm­ten Mus­ter: Ge­sch­ah das mit Vor­satz? – Nein, mit dem Ab­satz – und sol­che Scher­ze mehr. Fer­ner die Kei­le­rei­en zwi­schen Far­ben, die sich nicht lei­den moch­ten, und end­lich die ganz großen Stu­den­ten­schlach­ten, wo die ge­sam­te Stu­den­ten­schaft ein­mü­tig ge­gen die Ob­rig­keit oder das Phi­lis­te­ri­um oder was sonst in ihre Vor­rech­te ein­ge­grif­fen hat­te, zu Fel­de zog.

Gleich­falls ein Au­gen­blick voll­kom­me­ner Ein­tracht war es, wenn die Schwarz­wald­flö­ßer an Tü­bin­gen vor­über­fuh­ren. So­bald fluss­auf­wärts die Spit­ze ei­nes Flo­ßes er­schi­en, füll­te sich die Neckar­brücke und der alte Hir­schau­er­steg mit Stu­den­ten, die der An­blick wie mit Be­ses­sen­heit er­griff. Und so lan­ge sich un­ten der viel­glie­dri­ge Wurm, von mäch­ti­gen Ge­stal­ten in ho­hen Flö­ßers­tie­feln ge­steu­ert, vor­über­schob, brüll­te es oben von den Brücken und aus den Fens­tern der Neckar­hal­de in lang­ge­zo­ge­nen Tö­nen: »Jo­cke­le, sp-e-e-e-err!« und dann schnel­ler: »Jo­cke­le, sperr, ’s geit en Ai­le­bo­ga!« (Ell­bo­gen). Ent­fern­te­re hin­gen, um nicht un­be­tei­ligt zu blei­ben, ge­wal­ti­ge Schaft­s­tie­fel zu den Neckar­fens­tern her­aus, was die Flö­ßer gleich­falls zu er­bo­sen pfleg­te. Der Jo­cke­le war für sei­ne saf­ti­ge Grob­heit in Schwarz­wäl­der Mund­art be­rühmt, zu mei­ner Zeit aber war er es schon müde ge­wor­den, auf den jahr­hun­der­te­al­ten Ruf zu ant­wor­ten. Schwei­gend, in phi­lo­so­phi­scher Ruhe steu­er­ten die Rie­sen mit lan­gen Stan­gen ihre Flö­ße zwi­schen den Pfei­lern der Neckar­brücke durch, noch eine lan­ge Stre­cke ver­folgt von dem Ge­brüll, in das auch die Gas­sen­ju­gend ein­stimm­te. Es soll gleich­wohl eine schmerz­lich-hei­te­re Ab­schieds­fei­er ge­we­sen sein, als 1899 der letz­te Jo­cke­le an Tü­bin­gen vor­bei zu Tale fuhr.

Ein an­de­rer löb­li­cher Brauch war, des Nachts die La­ter­nen zu lö­schen oder zu zer­schla­gen oder das Brenn­holz, die so­ge­nann­te »Schei­ter­beug«, die nach Ur­vä­ter­ge­wohn­heit vor den Häu­sern auf­ge­sta­pelt lag, zu ver­schlep­pen. Kam der Nacht­wäch­ter oder ein Po­li­zei­die­ner hin­zu, so gab es tau­send Mit­tel, ihn an der Haft­bar­ma­chung der Schul­di­gen zu ver­hin­dern. Es war der Geist der sü­ßen Zweck­lo­sig­keit, der die Ju­gend von da­zu­mal be­seel­te und ihr als höchs­ter Le­bens­wert er­schi­en. Im­mer blieb der Mann der Ord­nung der Ge­prell­te, und der Phi­lis­ter selbst, ob­gleich der Scha­ber­nack sich ge­gen ihn rich­te­te, stand mit sei­ner ge­hei­men Sym­pa­thie auf sei­ten der Stu­den­ten. Die Mensch­heit zer­fiel da­mals in zwei Haupt­gat­tun­gen, die zu­gleich ihre äu­ßers­ten Pole dar­stell­ten: Stu­dent und Phi­lis­ter. Aber bei­de brauch­ten ein­an­der, wa­ren in jahr­hun­der­te­lan­gen Rei­be­rei­en ei­ner um des an­de­ren wil­len da. Als eine der äl­tes­ten und kleins­ten Uni­ver­si­tä­ten, dazu ganz ab­seits der grö­ße­ren Ver­kehrs­we­ge ge­le­gen, hat­te Tü­bin­gen noch ge­wis­se stu­den­ti­sche Über­lie­fe­run­gen, die weit ins Mit­tel­al­ter zu­rück­gin­gen; im Un­ter­grund des stu­den­ti­schen Be­wusst­seins leb­te noch ein Rest vom Geis­te der Fah­ren­den, dem auch ge­le­gent­li­ches »Schie­ßen« (Steh­len) zum Scha­den der Phi­lis­ter nicht für un­eh­ren­haft galt. So schwärm­te ei­nes Ta­ges eine Schar Mu­sensöh­ne über die Wie­sen nach Lust­nau aus und fand un­ter­wegs in ei­nem Wäs­ser­lein zwölf wohl­ge­nähr­te En­ten lus­tig schwim­mend. Nur eine da­von sah der Be­sit­zer wie­der. Sie trug einen Zet­tel am Hals mit den Wor­ten:

Wir ar­men zwölf En­ten

Sind ge­fal­len un­ter die Stu­den­ten,

Ich zwölf­te komm zu­rück al­lein

Und bring’ von elf den To­ten­schein.

Die Ge­schich­te stammt al­ler­dings aus ei­ner äl­te­ren Zeit, wäre aber in je­nen Ta­gen noch eben­so gut mög­lich ge­we­sen. Auch hoch­ver­ehr­te Leh­rer wur­den nicht ge­schont. So hat­te ein­mal der be­rühm­te Kli­ni­ker Nie­mei­er, ei­ner der we­ni­gen nord­deut­schen Pro­fes­so­ren, die es in Tü­bin­gen zu großer Volks­tüm­lich­keit brach­ten, in der Neu­jahrs­nacht, wo der Spuk am wil­des­ten tob­te, ein fet­tes Gäns­lein am Kü­chen­fens­ter hän­gen, das beim mor­gi­gen Fest­schmaus pran­gen soll­te. Da wur­de er in der Nacht her­aus­ge­schellt, und als sein Kopf am Fens­ter er­schi­en, rief eine nä­seln­de Stim­me hin­auf: Pro­sit Neu­jahr, Herr Pro­fes­sor, und ge­ben Sie acht auf Ihre Gans, dass sie nicht ge­stoh­len wird. Der An­ge­ru­fe­ne ver­stand und mach­te gute Mie­ne. Pro­sit, Herr Kep­ler, rief er zu­rück, ich habe Sie an der Stim­me er­kannt. Las­sen Sie sich die Gans gut schme­cken, aber stö­ren Sie die Leu­te lie­ber nicht im Schlaf.

Die­ser sel­be Kep­ler, der auch in mei­nem El­tern­haus ver­kehr­te und spä­ter als Arzt nach Ve­ne­dig ging, führ­te über­haupt ein be­weg­tes Le­ben. Er war der Held ei­ner An­ek­do­te, die in Tü­bin­gen un­ver­ge­ss­lich bleibt. Als er ein­mal nahe der Neckar­brücke mit ein paar Freun­den im Frei­en ba­de­te, er­schi­en die Po­li­zei, be­schlag­nahm­te die Klei­der und woll­te die Übel­tä­ter ver­haf­ten. Die­se ent­spran­gen und rann­ten split­ter­nackt das Ufer ent­lang bis nach Kir­chen­tel­lins­furt, wo sie end­lich fest­ge­nom­men wur­den. Da es aber kei­nen Pa­ra­gra­fen ge­gen das Nackt­ge­hen gab, so ver­don­ner­te sie eine wei­se Be­hör­de »we­gen Ver­mum­mung bis zur Un­kennt­lich­keit«.

Zum Cha­rak­ter­bild des al­ten Tü­bin­gen ge­hört aber noch eine drit­te dort le­ben­de Men­schen­gat­tung von ur­tüm­lichs­ter Be­schaf­fen­heit, die we­der dem Stu­den­ten noch dem Phi­lis­ter hold war, die man sich aber aus dem dor­ti­gen Le­ben nicht weg­den­ken kann: näm­lich die in den ma­le­ri­schen Schmut­z­win­keln der Un­te­ren Stadt oder »Gô­ge­rei« woh­nen­den »Win­ger­ter« (Wein­gärt­ner), auch »Gô­gen« oder »Rau­pen« ge­nannt. Wo­her die­se bei­den Be­zeich­nun­gen kom­men, weiß nie­mand, eine theo­lo­gisch ge­färb­te Ety­mo­lo­gie will die Gô­gen auf das bib­li­sche Gog und Magog zu­rück­füh­ren. Was die Rau­pen be­trifft, so soll der Name gar eine Ver­ket­ze­rung des la­tei­ni­schen Wor­tes Pau­per sein, wo­mit man in der ge­lehr­ten Mu­sen­stadt die am Frei­tag­mor­gen von Tür zu Tür sin­gen­den Volks­schü­ler be­zeich­net. Wie dem auch sei, bei­de Na­men, Gô­gen wie Rau­pen, wur­den von ih­ren Trä­gern un­gern ge­hört und pfleg­ten eine tät­li­che Ab­wehr nach sich zu zie­hen. Die Gô­gen un­ter­schie­den sich nach ih­rer gan­zen We­sens­art, vor al­lem aber nach den ei­gen­tüm­li­chen Kehl­lau­ten ih­rer Auss­pra­che und ei­ner ge­dehn­ten Be­to­nung, die et­was Mür­risch-Ver­bis­se­nes an sich hat­te, so stark von den üb­ri­gen Ein­woh­nern, dass man­che sie ge­ra­de­zu für Nach­kom­men ei­nes zu­ge­wan­der­ten Fremd­vol­kes hiel­ten und dass es zwi­schen der obe­ren und der un­te­ren Stadt wie ein un­sicht­ba­rer Sta­chel­zaun lag. Als tüch­ti­ge Taglöh­ner un­ent­behr­lich, mach­ten sich die­se Mit­bür­ger durch ihre ein­ge­bo­re­ne tie­fe Ab­nei­gung ge­gen die Hö­her­ge­stell­ten und ih­ren aus­ge­präg­ten Sinn für den ei­ge­nen Vor­teil, mehr noch durch ih­ren wort­kar­gen, aber äu­ßerst schla­gen­den Mut­ter­witz, der nicht im­mer von der rein­lichs­ten Art war, ge­fürch­tet. Auf eine Ge­gen­re­de konn­te nie­mand mehr einen Trumpf set­zen, au­ßer ein an­de­rer Gôg. Un­zäh­li­ge Gô­gen­wor­te und -wit­ze wa­ren und sind in Tü­bin­gen im Schwang. Am be­rühm­tes­ten ist das ein­sil­bi­ge Zwie­ge­spräch zwi­schen Va­ter und Sohn, wie sie zu­sam­men die stei­len Wein­berg­hal­den des Ös­ter­ber­ges hin­an­stei­gen und dem Jun­gen ein her­ren­lo­ser Schub­kar­ren aus ei­nem Nach­bar­grund­stück in die Au­gen sticht, auf den er den Va­ter durch einen stum­men Wink auf­merk­sam macht. Worauf der Alte nur die zwei la­ko­ni­schen Wor­te er­wi­dert: Im Ra! (Im Her­ab­stei­gen!) Oder die zun­gen­schnel­le Fra­ge des Ber­li­ner Stu­den­ten an den pfei­fen­rau­chen­den Wein­gärt­ner: Kann ich von Ih­nen Feu­er ha­ben, ja? Und die nach­drück­lich-lang­sa­me Ant­wort des al­ten Gô­gen: Airscht (erst), wenn i ja sag’.

Das Stra­ßen­bild von Tü­bin­gen be­herrsch­te der Cou­leur­stu­dent, be­son­ders der An­ge­hö­ri­ge der pau­ken­den Kor­po­ra­tio­nen. Die­se stan­den bei den Aus­rit­ten und Auf­zü­gen im stu­den­ti­schen Wichs, bei den Tanz­ver­gnü­gun­gen, den glän­zen­den Fa­ckel­zü­gen und über­haupt im ge­sell­schaft­li­chen und öf­fent­li­chen Le­ben oben­an. Ihre Ilia­den und Odys­seen füll­ten die un­ge­schrie­be­nen An­na­len der Stadt. Je­des Kind wuss­te, was für Men­su­ren in lau­fen­der Wo­che aus­ge­foch­ten wur­den, wel­ches Dorf­wirts­haus, wel­ches Ge­hölz dazu aus­er­se­hen war, wie vie­le Ab­fuh­ren es gab, mit wie viel Na­deln der je­weils Zer­hack­te vom Pauk­arzt ge­näht wur­de. Wenn es den Pau­kan­ten ge­lang, den ar­men Pe­dell, der sie ab­zu­fas­sen hat­te und der zu die­sem Zweck den wei­ten Weg atem­los auf Schus­ters Rap­pen an­ga­lop­piert kam, durch ihre aus­ge­stell­ten Fuch­sen­wa­chen ir­re­zu­füh­ren und das un­ter­bro­che­ne Op­fer­fest an ei­ner an­de­ren Stel­le des Wal­des fort­zu­set­zen, so war es ein Tri­umph der gu­ten Sa­che, wor­an die gan­ze Stadt teil­nahm. Uns­terb­lich war die im­mer wie­der auf­tau­chen­de Ge­schich­te von der ab­ge­haue­nen Na­sen­spit­ze, die der Hund ge­fres­sen hat­te. Die ver­erb­ten Feind­se­lig­kei­ten oder vor­über­ge­hen­den Span­nun­gen zwi­schen ge­wis­sen Far­ben wur­den mit der glei­chen Wich­tig­keit be­han­delt wie heu­te die Be­zie­hun­gen der Groß­staa­ten un­ter­ein­an­der. So­gar die jun­gen Mäd­chen nah­men Par­tei, je nach­dem ihre Brü­der oder be­vor­zug­ten Ver­eh­rer der oder je­ner Cou­leur an­ge­hör­ten. Der his­to­ri­sche Ge­gen­satz zwi­schen Korps und Bur­schen­schaf­ten, der längst kein grund­sätz­li­cher mehr war, aber noch als Ab­nei­gung fort­be­stand, muss­te auch ge­sell­schaft­lich stets be­rück­sich­tigt wer­den.

Ge­trun­ken wur­de, wie ich nie­mals wie­der habe trin­ken se­hen. Grö­ße­re Hel­den des Suffs fin­den sich auch im »Gös­ta Ber­ling« nicht. Die Zahl der Schop­pen, die für eine Fuch­sen­tau­fe nö­tig sein soll­te, wage ich nicht zu nen­nen; über die bei die­sem Vor­gang an­ge­wand­ten Zwangs­maß­re­geln gin­gen gru­se­li­ge Gerüch­te. Selbst bei Tanz­ver­gnü­gun­gen konn­te es vor­kom­men, dass ein Part­ner plötz­lich nicht mehr sa­lon­fä­hig war und dass aus den Rei­hen der Kom­mi­li­to­nen ein Er­satz­mann ge­stellt wer­den muss­te. Schan­de war kei­ne da­bei, sie be­haup­te­ten ihr An­se­hen auch noch in die­sem Zu­stand. Nur wer sich im Schnaps be­rausch­te, wie es den Nord­deut­schen bis­wei­len ein­fiel, statt im lan­des­üb­li­chen Gers­ten­saft oder Wein, der galt für wirk­lich las­ter­haft.

Da­bei sprach es doch für die Gut­ar­tig­keit die­ser aus­ge­las­se­nen Ju­gend, dass tät­li­che Aus­schrei­tun­gen ge­gen die Ne­ben­menschen äu­ßerst sel­ten wa­ren. Un­ser Haus am Markt­platz hat­te nach da­ma­li­ger Sit­te kei­ne Kor­ri­dor­tü­ren auf den ein­zel­nen Stock­wer­ken, aber ob­wohl im Un­ter­ge­schoss ein Stu­den­ten­café lag und die Haus­tür des­halb fast die gan­ze Nacht of­fen stand, fühl­te man sich doch in sei­nem Zim­mer völ­lig si­cher. Nur ei­nes Abends kam un­se­re schon be­tag­te Jo­se­phi­ne vol­ler Un­wil­len aus ih­rer Dach­kam­mer zu­rück­ge­stürzt, denn sie hat­te in ih­rem Bett einen un­be­kann­ten Schlä­fer ge­fun­den. Es war ein Stu­dent, der in tiefer Ver­dun­ke­lung die frem­den Trep­pen als sei­ne ei­ge­nen er­stie­gen und sich ohne wei­te­res zur Ruhe ge­legt hat­te. Mei­ne Brü­der, da­mals schon sel­ber Stu­den­ten, hat­ten alle Not, den Uner­weck­li­chen wie­der die lan­ge Trep­pe hin­un­ter und ins Freie zu schaf­fen.

Ab­seits von die­ser Bur­schen­herr­lich­keit trie­ben die »Stift­ler« ihr halb­klös­ter­li­ches, ei­gen­bröt­le­ri­sches We­sen. Es wa­ren dies Sti­pen­dia­ten, die, von klein auf zur theo­lo­gi­schen Lauf­bahn be­stimmt, erst in den nie­de­ren Se­mi­na­ri­en, dann im Tü­bin­ger evan­ge­li­schen Stift, ei­nem ehe­ma­li­gen Au­gus­ti­ner­klos­ter, für ih­ren Be­ruf her­an­ge­bil­det wur­den. Ob­gleich sie durch ihre Halb­klau­sur und viel­fa­che Be­schrän­kun­gen, de­nen sie un­ter­wor­fen wa­ren, ge­sell­schaft­lich hin­ter den glück­li­che­ren Stadt­bur­schen zu­rück­stan­den, bil­de­ten sie un­ter ih­rem un­schein­ba­ren und häu­fig un­ge­leck­ten Äu­ße­ren so et­was wie eine geis­ti­ge Aus­le­se des Lan­des und tru­gen viel zu der be­son­de­ren Phy­sio­gno­mie der Tü­bin­ger Uni­ver­si­tät bei. Kein Aus­wär­ti­ger kann zur Kul­tur des Schwa­ben­lan­des und zu sei­nen großen Söh­nen in ein nä­he­res Ver­hält­nis tre­ten, wenn er sich nicht ein­ge­hend mit dem Geis­te des Tü­bin­ger Stifts und sei­nen Ein­rich­tun­gen ver­traut ge­macht hat. Aus die­ser An­stalt ging ja be­kannt­lich die größ­te Zahl der füh­ren­den Geis­ter Alt-Würt­tem­bergs her­vor. Und zwar pfleg­te ent­spre­chend der Dop­pel­be­ga­bung des Stam­mes ein gu­ter Jahr­gang je einen Dich­ter und einen Phi­lo­so­phen gleich­zei­tig zu brin­gen: Höl­der­lin und He­gel, Mö­ri­ke und Strauß, mei­nen Va­ter und Ed. Zel­ler. Ge­le­gent­lich wuch­sen die großen Geis­ter im Stift so­gar bü­schel­wei­se wie in der so­ge­nann­ten »Ge­nie­pro­mo­ti­on«, der auch Fried­rich Vi­scher an­ge­hör­te. Der Mehr­zahl der Stift­ler ging aber die ein­sei­ti­ge Er­zie­hung le­bens­lang nach. Mit ei­nem äu­ßerst prall ge­stopf­ten Schul­sack ver­ban­den sie häu­fig die größ­te Un­kennt­nis des wirk­li­chen Le­bens und je­nes lin­ki­sche Un­ge­schick der äu­ße­ren Welt ge­gen­über, das man in Schwa­ben mit dem Wort »stift­ler­mä­ßig« be­zeich­net. Bei den sche­ma­ti­sche­ren Köp­fen ge­sell­te sich noch leicht eine geis­ti­ge Selbst­si­cher­heit hin­zu, die al­les, was nicht auf ih­rem ei­ge­nen Bo­den ge­wach­sen und ih­nen dar­um fremd­ar­tig war, als min­der­wer­tig be­trach­te­te. Man­cher der Bes­ten hielt es nicht bis zum Ende aus und ent­wand sich so oder so dem Zwan­ge. Ehe­ma­li­ge Stift­ler tru­gen deut­sche Wis­sen­schaft in alle Lan­de und wa­ren als Leh­rer wie als Er­zie­her gleich sehr ge­sucht. Die Da­heim­ge­blie­be­nen nah­men spä­ter­hin her­vor­ra­gen­de Kir­chen- und Schuläm­ter ein, sie ver­ewig­ten den Stift­ler­schlag, in­dem sie ihn wei­ter­züch­te­ten, und ga­ben dem gan­zen schwä­bi­schen Geist et­was von ih­rem Ge­prä­ge ab. Durch sie vor al­lem kam in die hohe geis­ti­ge Kul­tur des Schwa­ben­lan­des jene un­aus­füll­ba­re Kluft zwi­schen der Wei­te und Tie­fe des in­ne­ren Le­bens und der äu­ße­ren Form­lo­sig­keit, die nicht sel­ten bis zur be­wuss­ten Ver­ach­tung des Schö­nen ging.

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