Buch lesen: «Isolde Kurz – Gesammelte Werke», Seite 15

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Der Brand und die Flamme. Hat der Mann ein Seelenleben?

Ich weiß nicht, ob die klei­nen Epi­so­den, die ich hier er­zäh­len will, nicht viel­mehr in die Zeit nach mei­nes Va­ters Tode fal­len. Mein Ge­dächt­nis schiebt sie an die­ser Stel­le ein, weil mir nach­träg­lich al­les Hei­te­re vor je­nem dun­keln Tage zu lie­gen scheint.

In der Kro­nen­gas­se, schräg­über von un­se­rer Woh­nung, lag eine Stu­den­ten­wirt­schaft, die Flam­me­rei ge­nannt, wo Ed­gar und zu­wei­len auch die jün­ge­ren Brü­der die Aben­de ver­brach­ten. Dass es da­bei mun­ter und wit­zig her­ging, muss­te ich den Be­tei­lig­ten glau­ben, als Un­be­tei­lig­te sah ich aber im­mer nur den un­fro­hen Aus­klang der fröh­li­chen Stun­den. Zwar trie­ben sie es ge­wiss nicht schlim­mer als die an­dern Mu­sensöh­ne auch, nur dass jene der Mehr­zahl nach nicht un­ter den Au­gen ih­rer Müt­ter leb­ten. Die mei­ni­ge konn­te sich an das Nacht­schwär­men ih­rer Söh­ne nicht ge­wöh­nen und woll­te nie­mals schla­fen ge­hen, be­vor sie alle da­heim in ih­ren Bet­ten wuss­te, wenn es auch noch so spät wur­de. Hat­te ich sie end­lich doch da­hin ge­bracht, dass sie sich nie­der­leg­te, so horch­te sie schlaf­los, bis sie Ed­gars Tritt auf der Trep­pe ver­nahm, denn ihm, für den sie von klein auf am meis­ten ge­zit­tert hat­te, gal­ten vor al­lem ihre Ängs­te. Im Nu war sie aus dem Bet­te und auf dem of­fe­nen Gang, ich eben­so schnell, in einen Über­wurf gehüllt, an ih­rer Sei­te, um den auf­grol­len­den Sturm zu be­schwö­ren. Da­bei ver­dien­te ich mir, wie es den Frie­dens­stif­tern zu ge­hen pflegt, bei kei­nem der bei­den Tei­le Dank, da der eine nur den ge­stör­ten schö­nen Abend, der an­de­re nur die in Sor­ge durch­wach­ten Stun­den se­hen woll­te. Ma­mas Rasch­heit en­de­te ge­wöhn­lich da­mit, dass der eben­so ra­sche Sohn als­bald wie­der in die Nacht hin­aus­stürm­te und erst zum Mor­gen­kaf­fee nach Hau­se kam. Mir lag es dann ob, das auf­ge­reg­te Mut­ter­herz zu be­schwich­ti­gen, sie ins Bett zu­rück­zu­füh­ren und bei ihr zu sit­zen, bis sie sich in Schlaf ge­grämt hat­te. Die wun­der­ba­re Frau, die bei der Ge­dan­ken­tie­fe ei­nes Phi­lo­so­phen nicht mehr welt­li­che Klug­heit als ein Kind be­saß, woll­te sich nie­mals über­zeu­gen las­sen, dass die Stun­de, wo ein Stu­dent in er­höh­ter Stim­mung aus dem Wirts­haus kommt, nicht die ge­eig­ne­te ist, ihn vom Wirts­h­aus­ge­hen zu be­keh­ren. Leich­ter hat­ten es die jün­ge­ren Brü­der, be­son­ders Er­win, der die Kunst­schu­le von Rot­ten­burg be­such­te und in den stu­den­ti­schen Krei­sen sei­ner Zei­chen­küns­te und sei­nes hei­te­ren mi­mi­schen Ta­len­tes we­gen ein gern ge­se­he­ner Gast war. Wenn sich ein­mal die müt­ter­li­chen Vor­wür­fe über ihn er­gos­sen, so nahm er die klei­ne leich­te Frau sin­gend in den Arm und tanz­te mit ihr, bis ihr Wort und Atem aus­gin­gen und ihr Un­mut sich in La­chen lös­te.

Ei­nes Ta­ges bat er mich für einen Streich, den er vor­hat­te, um mein hüb­sches hell­grau­es Stra­ßen­kleid. Ich half ihm sel­ber in den An­zug, be­müh­te mich, sei­ne schlan­ke Län­ge mit­tels ein­ge­stopf­ter Ta­schen­tü­cher et­was ins Weib­li­che zu run­den, gab ihm noch An­lei­tung, ge­sit­tet in den Rö­cken zu ge­hen und entließ ihn mit mei­nem Se­gen. Der Ben­gel sah bild­hübsch aus, be­gann aber auch gleich, sei­ne Au­gen auf eine Wei­se im Kopf zu dre­hen, dass mir Ar­ges schwan­te. Ed­gar stell­te ihn in der Flam­me­rei als eine von aus­wärts ge­kom­me­ne Base vor, nie­mand er­kann­te ihn, und die schö­ne, ge­schmei­di­ge Er­schei­nung er­reg­te na­tür­lich das stärks­te Auf­se­hen, denn es war un­er­hört, dass ein jun­ges Mäd­chen aus gu­ter Fa­mi­lie des Abends un­ter den Stu­den­ten saß. Das Däm­chen ko­ket­tier­te ge­wal­tig, zech­te, rauch­te, ließ sich mit je­dem ein­zel­nen heim­lich ein und gab Be­tu­lich­kei­ten be­tu­lich zu­rück. Ein hüb­scher, et­was leicht­sin­ni­ger Phi­lo­lo­ge je­doch sah sich für den Meist­be­güns­tig­ten an und fing ernst­lich Feu­er. Sei­ne Hul­di­gun­gen wur­den so stür­misch, dass Ed­gar es ge­ra­ten fand, die ge­fähr­li­che Ver­wand­te, durch de­ren Be­tra­gen er sich nach­ge­ra­de et­was bloß­ge­stellt fühl­te, ge­räusch­los ver­schwin­den zu las­sen. Der er­reg­te An­be­ter stürz­te ihr auf die Stra­ße nach und rann­te die gan­ze Stadt nach dem Ge­gen­stand sei­ner Flam­me ab, wäh­rend der Schalk schon still da­heim im Bet­te lag. Er be­hielt je­doch mei­ne Klei­der und fuhr dann und wann wie­der hin­ein, um schnell ir­gend­wo auf­zut­au­chen und spur­los zu ver­schwin­den, wor­über der Su­chen­de in im­mer grö­ße­re Lei­den­schaft ge­riet. Ed­gar warn­te ihn vor der Ko­ket­te, de­ren Be­such man ih­rer un­ziem­li­chen Hal­tung we­gen habe ab­kür­zen müs­sen, der an­de­re be­haup­te­te da­ge­gen, sie sei noch in der Stadt und wer­de grau­sa­mer­wei­se vor ihm, der es doch ehr­lich mei­ne, ver­steckt. Ed­gar muss­te schließ­lich dem Jam­mer ein Ende ma­chen und er­klä­ren, dass das schö­ne bac­chan­ti­sche Kind sein jün­ge­rer Bru­der sei. Der Gef­opp­te kam wie von Sin­nen, wein­te, sprach vom Tot­schie­ßen, fand aber am Ende sei­nen Trost dar­in, das zier­li­che Bür­sch­chen, das ihn an der Nase ge­führt hat­te, wärms­tens ins Herz zu schlie­ßen. Ich er­hielt nun end­lich auch mein Kleid zu­rück, muss­te es aber weg­schen­ken, denn nach­dem es sol­che Or­gi­en ge­se­hen hat­te, moch­te ich es nicht mehr an mei­nem Lei­be füh­len.

Die Zu­sam­men­künf­te in der Flam­me­rei gin­gen im­mer wei­ter und die Ängs­te mei­ner gu­ten Mut­ter eben­falls. Sie sah es des­halb gern, wenn auch un­se­re jun­gen Haus­freun­de die Flam­me­rei be­such­ten, denn von je­dem hoff­te sie, er wür­de einen güns­ti­gen Ein­fluss üben und die Sit­zung ab­kür­zen. Aber jene ver­fie­len al­so­bald dem Ge­ni­us loci und blie­ben eben­falls sit­zen. Da­rum ent­zog sie ih­nen ihre Gunst und sah im­mer in dem zu­letzt­ge­kom­me­nen Ver­führ­ten den Ver­füh­rer. Nicht an­ders er­ging es un­se­rem Freun­de Ernst Mohl. Ei­nes Abends, da die Wir­kun­gen der Flam­me­rei an den jun­gen Her­ren gar zu deut­lich her­vor­tra­ten, schloss der äl­te­re Freund sich ih­nen als ge­treu­er Eckard auf dem Heim­weg an, um den häus­li­chen Zu­sam­men­stoß ab­zu­schwä­chen. Als sie mit­ein­an­der nicht eben ge­räusch­los zur Tür her­ein­ka­men, woll­te Mama gleich mit Vor­wür­fen ge­gen den ver­meint­li­chen An­stif­ter los­bre­chen, aber ich kam zu­vor, in­dem ich sel­ber das Straf­ge­richt über­nahm und schließ­lich den Reui­gen ver­ur­teil­te, des an­de­ren Mor­gens um neun Uhr mit ei­nem Buß­ge­dicht über das The­ma: Der Brand und die Flam­me an­zu­tre­ten.

Da­durch be­kam der Auf­tritt un­er­war­tet eine hei­te­re Wen­dung. Wäh­rend je­ner buß­fer­tig die Stra­fe auf sich nahm und das Ge­dicht im Kat­zen­jam­mer zu schmie­den ver­sprach, ge­wan­nen die Haupt­schul­di­gen Muße, sich fried­lich in ihre Bet­ten zu ver­zie­hen.

Rich­tig stell­te sich der Ge­maß­re­gel­te des an­de­ren Ta­ges zur be­stimm­ten Stun­de ein und brach­te sein Ge­dicht, das als lau­te­te:

Der Brand und die Flam­me Dass ich, die­weil ich in der Flam­me Mir an­trank einen klei­nen Brand, Ob­gleich ich sehr noch auf dem Dam­me, Dir mei­ne Schwä­che ein­ge­stand, Das hat in dir des Zor­nes Flam­me Zu sol­chem Über­maß ent­facht, Dass du, Herz­lo­se und Grau­sa­me, Mir eine Stra­fe zu­ge­dacht: Ich sol­le gleich nach Hau­se ge­hen, Aus­schla­fen von der Knei­pe­rei, Und dann in Ver­sen dir ge­ste­hen, Wie sehr ich zu ver­dam­men sei. Ich wer­de – ehr­lich es zu sa­gen, Ist Ra­che eben­so wie Pf­licht – Noch man­chen aus der Flam­me tra­gen: Die Ente lässt das Schwim­men nicht.

Frei­lich, die Ente am Schwim­men zu hin­dern, hät­te es ein Wun­der ge­braucht. Der Trunk galt da­mals noch beim deut­schen Mann in viel hö­he­rem Maß als heu­te für einen Aus­weis von Männ­lich­keit und war zu­gleich von ei­ner Art Wei­he um­ge­ben, denn man glaub­te noch das We­ben alt­ger­ma­ni­schen Hel­den­geis­tes beim Hum­pen zu ver­spü­ren. Die­ses deut­sche Er­bü­bel drück­te dem gan­zen Le­ben sei­nen Stem­pel auf und trug viel zu der ge­sell­schaft­li­chen Form­lo­sig­keit bei, weil es die Ge­schlech­ter trenn­te. Äl­te­re Her­ren hiel­ten es meist in Da­men­ge­sell­schaft nicht aus; kam solch ein männ­li­cher Gast in die Fa­mi­lie, so er­ging in kur­z­em an den Haus­herrn die Fra­ge: Wol­len wir stre­ben? Da­rauf er­ho­ben sie sich und streb­ten – na­tür­lich nach dem Wirts­haus. Dort wur­den erst die tiefe­ren Ge­sprä­che ent­bun­den, die kein weib­li­ches Ohr ver­nahm als das der Kell­ne­rin. Wie durf­te man nun er­war­ten, brau­sen­de Jüng­lin­ge von ei­ner Sit­te fern­zu­hal­ten, die von ih­ren Leh­rern und Vor­bil­dern mit In­brunst ge­übt und von den Dich­tern als ei­ner der höchs­ten Le­bens­wer­te be­sun­gen wur­de? Auf die­sem Punk­te konn­te man sich nie ver­ste­hen. Ich war na­tür­lich den Wirts­häu­sern, die mich so vie­le schlaflo­se Näch­te kos­te­ten, spin­ne­feind, und wenn man auf ge­mein­sa­men Spa­zier­gän­gen in eine Wirt­schaft ge­riet, wo die männ­li­che Ju­gend sich als­bald fest­hak­te, so saß ich nach kur­z­em wie auf Koh­len. Ed­gar klag­te, dass ich den Kom­ment nicht er­fasst hät­te, und such­te mich aus dem Ha­fis und Ana­kre­on von der Poe­sie der Schen­ke zu über­zeu­gen. Aber ver­geb­lich: auf ei­ner Holz­bank vor dem Bier­glas zu sit­zen, ge­hör­te für mich zu den schwers­ten Ge­dulds­pro­ben, und selbst dem grü­nen Blät­ter­dach der Roß­kas­ta­nie wur­de ich gram, so schön sei­ne lenz­li­chen Blü­ten­ker­zen wa­ren, weil die­ser Baum sich in mei­ner Vor­stel­lung mit dem Sonn­tags­pu­bli­kum der Wirts­gär­ten und dem Ge­gröl der Ke­gel­bahn un­zer­trenn­lich ver­band. Da ge­gen den ger­ma­ni­schen Durst in kei­ner Wei­se auf­zu­kom­men war und ich die Er­fah­rung mach­te, dass auch die­je­ni­gen un­se­rer jun­gen Freun­de, die mir die rit­ter­lichs­te Er­ge­ben­heit be­zeig­ten, so­bald sie zwi­schen mei­ner See­len­ru­he und dem Wirts­haus zu wäh­len hat­ten, dem Wirts­haus den Vor­zug ga­ben, und kein Vor­satz, kein Ver­spre­chen stark ge­nug war, sie zu bin­den, wur­de ich all­mäh­lich am männ­li­chen Ge­schlecht völ­lig irre. Und in mei­ner Verzweif­lung setz­te ich mich ei­nes Ta­ges nie­der, um eine Un­ter­su­chung zu schrei­ben über die Fra­ge: Hat der Mann ein See­len­le­ben? Oder ist er nur ein Ge­fäß zur Auf­nah­me von Flüs­sig­keit? Ich brach­te es aber nicht wei­ter als bis zur Über­schrift, denn ich kam über das Für und Wi­der nicht ins kla­re.

Als ich ein­mal nach Jahr­zehn­ten, kurz be­vor Ed­gars ar­beits­rei­ches Le­ben vor­zei­tig schloss, mit ihm in Flo­renz bei­sam­men saß und wir der al­ten Zei­ten ge­dach­ten, be­kann­te ich ihm, mit wel­chem li­te­ra­ri­schen Vor­satz ich mich da­zu­mal in Tü­bin­gen ge­tra­gen hat­te und wie­so ich über die Be­wei­se für das See­len­le­ben des Man­nes nicht schlüs­sig ge­wor­den war. Da strich er sich schmun­zelnd über den Bart und sag­te: Ich glau­be jetzt die Fra­ge da­hin ent­schei­den zu kön­nen, dass der Mann un­be­streit­bar ein See­len­le­ben hat, dass ihn aber die­ses nicht hin­dert, auch ein Ge­fäß zur Auf­nah­me von Flüs­sig­keit zu sein. – Sprach’s und leer­te mit An­dacht sein Glas Chi­an­ti.

Der 10. Oktober

Wäh­rend die Geis­ter der Ju­gend im stärks­ten Brau­sen wa­ren und noch kaum ir­gend­wo die Li­ni­en ei­ner künf­ti­gen Ent­wick­lung her­vor­tra­ten, neig­te sich das Le­ben des Va­ters still und un­be­merkt zum plötz­li­chen Ende. Ich soll­te ihn ver­lie­ren, ohne der Schät­ze, die er zu ge­ben hat­te, an­ders als durch die Luft, die ihn um­weh­te, teil­haft ge­wor­den zu sein. Ei­nen zärt­li­che­ren Va­ter hat es nie ge­ge­ben. Er lieb­te alle sei­ne Kin­der mit glei­cher Stär­ke, ich aber war ihm mehr als bloß ein heiß­ge­lieb­tes Kind, er glänz­te auf, wenn ich nur ins Zim­mer trat, denn in der ein­zi­gen Toch­ter sah sei­ne ab­göt­ti­sche Zärt­lich­keit die Har­mo­nie der Din­ge selbst, den Be­ginn der Ord­nung im Cha­os. Bei sei­ner ho­hen Schät­zung des weib­li­chen Ge­schlech­tes sprach er mit mir gar nicht wie der Va­ter mit sei­nem Kin­de, son­dern wie ein Rit­ter mit der Dame sei­nes Her­zens. Aber ge­ra­de das hat­te zur Fol­ge, dass ich geis­tig nicht so viel von ihm emp­fan­gen konn­te, wie es für bei­de Tei­le wohl­tu­end ge­we­sen wäre. Bei ihm ge­sell­te sich zu ei­ner an­ge­bo­re­nen Zu­rück­hal­tung, die der fast mi­mo­sen­haf­ten Zart­heit sei­ner See­le ent­sprach, die Scheu, der in­ne­ren Ent­wick­lung vor­zu­grei­fen, da­her ich meis­tens nur ahn­te, aber es nicht aus sei­nem Mun­de wuss­te, wie er sel­ber die Din­ge an­sah. Die­se Scheu wirk­te nun aber hem­mend auf mich zu­rück, dass ich nicht wag­te, ihm von dem zu re­den, was ei­gent­lich in mir vor­ging. So fand ich auch nicht den Mut, mit ihm über sei­ne Wer­ke zu spre­chen, die mir doch längst ver­traut wa­ren, und wie wohl hät­te dem Un­ver­stan­de­nen die­se Teil­nah­me ge­tan! Die Schweig­sam­keit, die ich von je­her an ihm kann­te, ließ mich den Weg nicht fin­den, und den Brü­dern ging es, wie sie mir spä­ter ge­stan­den, eben­so. Im­mer ver­schob ich, was ich ihm ger­ne sa­gen woll­te, bis es plötz­lich zu spät war. Er sel­ber war ja ohne Fa­mi­lie auf­ge­wach­sen und hat­te sich erst in vor­ge­rück­teren Jah­ren, nach ei­ner Ju­gend voll Kampf und Ent­beh­rung, ver­hei­ra­tet; so trat er schwer mehr aus der in­ne­ren Ein­sam­keit her­aus. Und das drän­gen­de jun­ge Wachs­tum über­wu­cher­te nun fast den ed­len Stamm. Vor al­lem stand der Al­ters­un­ter­schied von vier­zig Jah­ren ei­nem so un­mit­tel­ba­ren Aus­tausch wie mit der Mut­ter ent­ge­gen. Man­ches Wort von ihm, das wie ein Licht­strahl auf die Din­ge fiel, wür­de mir erst im spä­te­ren Le­ben rich­tig aus­ge­gan­gen sein, hät­te das un­ge­treue Ge­dächt­nis mehr da­von be­wahrt. So frag­te ich ihn ein­mal über das Ho­he­lied: Was meint nur Sa­lo­mo, wenn er sagt: Du bist schön wie der Mond und schreck­lich wie Hee­res­s­pit­zen? Da lä­chel­te der Dich­ter: Dem Lie­ben­den ist der An­blick der Ge­lieb­ten im­mer furchter­re­gend. Das klang mir ganz si­byl­li­nisch, weil ich die Macht, von der die Rede war, sel­ber noch nicht er­fah­ren hat­te.

Dass ich ihn ver­lie­ren könn­te, trat mir nie so recht deut­lich vor die See­le, be­nom­men, wie ich war, von der ste­ten Sor­ge um die Mut­ter. Es ka­men ja jetzt die Tage, wo sie ganz in der Pfle­ge ih­res herz­kran­ken Jüngs­ten auf­ging, sich nicht mehr schla­fen leg­te und nie­mals von ih­rer ge­lieb­ten Pf­licht ab­ge­löst sein woll­te. Sie al­ter­te und wur­de bleich wie ein Sche­men; frei­lich ge­nüg­te dann ein Wort, das in ih­rem In­nern zün­de­te, sie au­gen­blicks zu ver­wan­deln und zu ver­jün­gen. Der Va­ter aber stand noch hoch und auf­recht, mit den ers­ten Schnee­flo­cken in Haar und Bart und dem im­mer wie­der her­vor­bre­chen­den Glanz der Au­gen. Der hei­ße Som­mer 1873 brach­te eine ängs­ti­gen­de Er­schei­nung. Geis­ti­ge An­stren­gung und ein leich­ter Son­nen­stich hat­ten eine Über­rei­zung des Ge­hirns ver­ur­sacht, die ihn rast­los um­trieb. In die­sem Zu­stand woll­te er nur mich um sich ha­ben, weil er bei mir die Ruhe fand, die sei­nen Ner­ven not­tat. Täg­lich mach­ten wir da­mals zu­sam­men lan­ge, stür­men­de Gän­ge über Fel­der und Wie­sen, die ihn zu er­fri­schen schie­nen. Da­bei er­leb­te ich ein­mal einen hef­ti­gen Schre­cken, als auf dem Heim­weg un­ter dem Mu­se­um ein stark an­ge­trun­ke­ner Korps­stu­dent mir mit gla­si­gen Au­gen all­zu frech ins Ge­sicht starr­te und mein Va­ter auf ihn zu­trat, wie um ihn zu zer­mal­men; zum Glück ris­sen die Kom­mi­li­to­nen den Berausch­ten weg. Mit Ein­tritt der küh­le­ren Jah­res­zeit schi­en sich das Lei­den zu bes­sern. Aber ich er­in­ne­re mich noch gut, dass die Ban­gig­keit nicht mehr aus mei­ner See­le wich, Angst­träu­me such­ten mich heim, ich fühl­te in al­len Ner­ven das Her­an­rücken ei­nes Un­glücks, wuss­te aber nicht, von wel­cher Sei­te es er­war­ten, denn der Sor­gen wa­ren so vie­le. Da kam der ver­häng­nis­vol­le 10. Ok­to­ber, der uns den Va­ter un­vor­be­rei­tet und ohne Ab­schied hin­weg­nahm.

Ich weiß nicht, ob es See­len gibt, die im­stan­de sind, einen jä­hen, un­er­mess­li­chen Ver­lust, be­son­ders wenn es der ers­te ist, au­gen­blick­lich mit sei­ner gan­zen Schwe­re ins Be­wusst­sein auf­zu­neh­men. Wenn ich spä­ter Men­schen in sol­chen Fäl­len so­gleich in ein ver­zwei­fel­tes Wei­nen aus­bre­chen sah, so blieb es mir im­mer un­ge­wiss, ob dies nicht eher eine Ab­wehr­be­we­gung ge­gen die Er­kennt­nis oder gar ein un­be­wusst voll­zo­ge­nes Her­kom­men sei. Ich je­den­falls konn­te, auf der Stra­ße von der Schre­ckens­bot­schaft über­rascht, das Ge­sche­he­ne im vol­len Sinn des Wor­tes nicht fas­sen, und die­ses Un­ver­mö­gen ver­ur­sach­te eine schau­ri­ge Lee­re, die quä­len­der war als der wil­des­te Schmerz. Beim atem­lo­sen Heim­stür­zen gin­gen die Stim­men des Ta­ges wei­ter in mei­nem Ohr, die jähe Läh­mung des Ge­fühls war durch das Wort »tot«, das ich mir in­ner­lich zu­rief, ohne einen Sinn dar­in zu fin­den, nicht zu he­ben. Und das frie­de­vol­le, aber zu Stein ge­wor­de­ne Haupt in den Kis­sen, leicht zur Sei­te ge­neigt, als woll­te es die Welt nicht mehr se­hen, mach­te mir das Rät­sel des To­des nur noch rät­sel­haf­ter. Ein Mär­ty­rerant­litz, in dem das tie­fe Le­bens­leid durch über­ir­di­sche Ho­heit nicht aus­ge­löscht, aber über­wun­den war. Kein Nach­glanz ei­ner Freu­de lag dar­auf, nur das Er­lö­sungs­wort: Es ist voll­bracht. Ich lern­te nun plötz­lich sein We­sen, das ich bis­her nur bruch­stück­wei­se im Licht der Stun­de ge­se­hen hat­te, als ein Gan­zes zu über­schau­en und be­griff den nie aus­ge­spro­che­nen Schmerz um die un­ver­stan­de­nen Wer­ke sei­nes Ge­ni­us und den noch grö­ße­ren um die nicht ge­schaf­fe­nen, die durch den Druck des Le­bens in ihm er­tö­tet wor­den wa­ren. Und sein Al­lein­ste­hen in­mit­ten ei­ner lie­ben­den, aber für ihn zu lau­ten Fa­mi­lie. Es fehl­te die See­le, die nur für ihn ge­lebt und ihm in wunsch­lo­ser Hin­ga­be durch ihr Ein­ge­hen ver­gü­tet hät­te. Sei­ner Gat­tin war un­ter den zer­rei­ben­den Mut­ter­pflich­ten und dem he­ro­i­schen Kamp­fe ge­gen die Not die Zeit für ihn im­mer knap­per ge­wor­den. Ich war zu jung und von in­nen und au­ßen zu sehr be­drängt für das, was er be­durft hät­te: ein stil­les Hand in Hand durch fei­er­li­che Abend­lan­de Ge­hen. Und jetzt kam al­les Er­ken­nen zu spät. Wie oft hat­te ich schon ge­träumt, ich hät­te ei­nes mei­ner Lie­ben ver­lo­ren, und als der Mor­gen durchs Fens­ter sah, war al­les wie­der gut. Dass es jetzt nie wie­der gut wer­den konn­te, muss­te erst Tag für Tag neu er­lebt wer­den.

In die­ser jä­hen Wen­de lern­te ich mei­ne Mut­ter von ei­ner völ­lig neu­en Sei­te ken­nen, die sie aber spä­ter­hin bei al­len schwe­ren Schick­sals­schlä­gen her­vor­ge­kehrt hat: die lei­den­schaft­li­che Frau, die je­des Un­glück Jah­re vor­aus be­wein­te, stand je­des Mal, wenn es wirk­lich ein­traf, in der er­ha­bens­ten Fas­sung da. Am Mor­gen nach un­se­res Va­ters Tode fand ich sie, wie sie im Wohn­zim­mer, das sie sorg­li­cher als sonst auf­ge­räumt hat­te, dem Ka­na­ri­en­vo­gel das Was­ser wech­sel­te. Du sollst nicht mit uns lei­den müs­sen, ar­mes Tier­chen, hör­te ich sie sa­gen. War’s hel­den­haf­te Selb­st­über­win­dung oder ver­moch­te auch sie den Tod nicht zu er­fas­sen? Ich konn­te es nie er­grün­den. Eine Ge­ho­ben­heit lag über ih­rem gan­zen We­sen, die mich den schwers­ten Rück­schlag fürch­ten ließ. Es kam kei­ner. Sie fass­te sich ganz fest in die Zü­gel. Mit ei­nem Blick über­sah sie un­se­re un­säg­lich schwie­ri­ge Lage und ihre Pf­licht, das Gan­ze zu­sam­men­zu­hal­ten. Jetzt zeig­te sich erst recht die sitt­li­che Macht ih­rer Na­tur in der Wir­kung auf ihre Um­ge­bung, da die wil­den Jun­gen trotz der Er­zie­hungs­feh­ler, die sie be­gan­gen hat­te, nicht um Haa­res­brei­te von dem en­gen Wege ab­wi­chen, auf dem es nun wei­ter­zu­ge­hen galt. Die Jün­ge­ren muss­ten im Heran­wach­sen auf all das ver­zich­ten, was sie den Äl­tes­ten hat­ten ge­nie­ßen se­hen. Sie ta­ten es, ohne zu mur­ren. Es war ja das Selbst­ver­ständ­li­che, aber das Selbst­ver­ständ­li­che ist nicht im­mer das, wor­auf man mit Si­cher­heit zäh­len kann.

Das All­tags­le­ben renk­te sich wie­der ein. Aber eine Stil­le lag jetzt über dem Hau­se, in der die Stim­me des To­ten lau­ter zu den Sei­ni­gen re­de­te als es je die des Le­ben­den ge­tan hat­te. Paul Hey­se, der ihm in sei­nem letz­ten Jahr­zehnt nahe Ver­bun­de­ne, nahm sich mit Freun­de­streue des geis­ti­gen Nach­las­ses, dem wir noch nicht ge­wach­sen wa­ren, an und gab schon im fol­gen­den Jahr die ge­sam­mel­ten Wer­ke her­aus. Man hat­te Kor­rek­tu­ren zu le­sen, Tex­te zu ver­glei­chen und Stoff für die Le­bens­be­schrei­bung her­bei­zu­schaf­fen. Im Som­mer 1874 über­sand­te sein al­ter Freund Mö­ri­ke nach ei­ner er­grei­fen­den Be­geg­nung mit mir in Stutt­gart und ei­nem dar­auf­fol­gen­den Be­such, den Mama und ich ihm in Be­ben­hau­sen mach­ten, un­se­res Va­ters Ju­gend­brie­fe, die zu­sam­men mit de­nen Mö­rikes einen köst­li­chen, spä­ter von J. Bächtold bei der Her­aus­ga­be nicht völ­lig ge­ho­be­nen Schatz bil­de­ten. Da­zwi­schen ka­men neue Er­schüt­te­run­gen durch die wie­der­keh­ren­den schwe­ren Krank­heits­an­fäl­le, die un­se­ren Jüngs­ten mit stei­gen­der Ge­fahr heim­such­ten. Die bei­den Me­di­zi­ner Ed­gar und Al­fred konn­ten schon mit ärzt­li­cher Hil­fe bei­sprin­gen und teil­ten die Nacht­wa­chen mit der angst­ge­quäl­ten Mut­ter. Ich saß fast die gan­ze Zeit am zwei­ten Ban­de mei­ner Nie­vo­über­set­zung. Über den Er­trag war im vor­aus be­stimmt. Der lee­re, schon ein­sin­ken­de Hü­gel auf dem Fried­hof, wo un­se­re Blu­men­grü­ße von der Son­ne ge­dörrt und vom Re­gen zer­klatscht wur­den, sah mich bei je­dem Be­such wie ein stil­ler Vor­wurf an. Eine Zeit lang war­te­te ich, ob sich nicht die Hei­mat jetzt ih­res ver­kann­ten großen Soh­nes er­in­nern und ihm den spä­ten Dank an sei­nem Gra­be ab­tra­gen wür­de. Als aber al­les still blieb, trat ich selbst mit ei­nem Bild­hau­er in Un­ter­hand­lung. Und nun soll­te das Denk­mal auch so fei­er­lich wie nur mög­lich sein, kein blo­ßer be­haue­ner Stein, son­dern ein Stück at­men­der Kunst. Man ei­nig­te sich über die Ko­pie ei­ner le­bens­großen an­ti­ken Muse in Sand­stein auf ho­hem So­ckel. Der ge­for­der­te sehr hohe Preis stand au­ßer al­lem Ver­hält­nis zu mei­ner Le­bens­la­ge, aber ge­ra­de das emp­fand ich wohl­tu­end. Solch ein To­ten­op­fer für den Ab­ge­schie­de­nen, der sich nicht mehr dar­an freu­en konn­te, der mit ei­nem Zehn­tel die­ser Hin­ga­be im Le­ben glück­lich ge­we­sen wäre, moch­te wohl ei­ner küh­len Ver­nunft wi­der­strei­ten, aber der er­schüt­ter­ten See­le war es ein Be­dürf­nis. Und auch die Ver­nunft woll­te sich der ma­te­ria­lis­ti­schen Zeit­strö­mung zum Trotz nicht völ­lig über­zeu­gen, dass zwi­schen dem Ge­stor­be­nen und uns kein Band mehr mög­lich sei; aus Träu­men kam es oft wie ein tröst­li­ches Zei­chen. Schrit­te führ­ten in das dunkle Land hin­ein, de­nen man ein­mal ru­hig nach­ge­hen konn­te. Vi­el­leicht dass sich dann von drü­ben eine Hand ent­ge­gen­streck­te, de­ren Berüh­rung wie­der Schutz gab. Aber das, was hier noch üb­rig war und da un­ten lag in der un­end­li­chen Ver­ein­sa­mung des Gra­bes, ängs­te­te die Vor­stel­lung. Denn die Wohl­tat der Ver­bren­nung, die er sich er­sehnt hat­te, ge­stat­te­ten die Sat­zun­gen sei­ner Zeit noch nicht. Die Win­ter­käl­te der zu­frie­ren­den Erde wur­de et­was Ent­setz­li­ches. Je­der Schritt auf der Eis­bahn, die sonst das Win­ter­pa­ra­dies ge­we­sen, schi­en fühl­los über die ver­las­se­nen To­ten weg­zuglei­ten. Und je­der kal­te Wind­stoß fuhr mit ei­nem schau­ri­gen Griff ins Herz:

Die wei­ßen Flo­cken fal­len dicht

Auf Dach und Mau­ern;

Ich drück’ ins Kis­sen mein Ge­sicht

Mit Schau­ern.

An einen Schlä­fer denk’ ich, hart

Im stei­ni­gen Bet­te.

Sein Pfuhl ist kalt, von Eise starrt

Die Stät­te.

Im en­gen Schrei­ne hin­ge­streckt,

Ruht er ver­bor­gen,

Kein Licht­strahl wärmt ihn mehr, ihn weckt

Kein Mor­gen.

Und um sein kal­tes Kis­sen, weh,

Die Win­de bla­sen,

Mit weißem Lin­nen deckt der Schnee

Den Ra­sen.

Mich schau­ert und die Ruh’ ist fort

In näch­ti­ger Stun­de,

Denk’ ich an je­nen Schlä­fer

dort Im Grun­de.

In der tie­fen Stil­le je­ner Tage war plötz­lich der un­sicht­ba­re Ge­fähr­te mei­ner ers­ten Ju­gend zu­rück­ge­kehrt. Er re­de­te wie­der ver­nehm­bar in den Näch­ten, und ich schrieb al­les un­be­denk­lich nach, was er sag­te. Ich nann­te ihn bei mir den »An­de­ren« und mein­te mit­un­ter sei­ne Nähe kör­per­lich zu spü­ren. Es konn­te vor­kom­men, dass ich des Nachts bei plötz­li­chem Er­wa­chen sei­ne Stim­me noch nach­klin­gen hör­te mit ir­gend­ei­ner Traum­ga­be, hin­ter der ich dann einen tiefe­ren Sinn such­te. Aber es blieb al­les nur Selbst­ge­spräch und ver­schö­nern­de Um­ge­stal­tung des ei­ge­nen Le­bens. Wir Schwa­ben­kin­der wuss­ten nicht, wie man aus Poe­sie Li­te­ra­tur macht. Nur ein paar mei­ner Sa­chen fan­den durch Ver­mitt­lung un­se­rer treu­en Freun­de Hem­sen und Voll­mer den Weg in ich weiß nicht mehr wel­ches Dich­te­r­al­bum. Im­mer­hin war es schon ein Trost, den Schwer­punkt in sich sel­ber zu füh­len, da jede neue Ver­lo­ckung, das Le­bens­steu­er be­quem in an­de­re Hän­de zu le­gen, an ei­nem neu­en Nein des Her­zens schei­ter­te. Da war ei­ner, der mir in sehr schwe­rer Zeit zart und hilf­reich zur Sei­te ge­stan­den und der in der Stil­le sein Le­ben auf mich ein­ge­rich­tet hat­te. Da er mich nie­mals be­dräng­te, glaub­te ich eine wah­re und tie­fe Dank­bar­keit für ihn zu emp­fin­den. Aber wie schnell nimmt sich das Herz sein Recht zum Un­dank, wenn es ent­deckt, dass mit den Lie­bes­diens­ten er­wor­ben wer­den soll, was au­ßer je­dem Prei­se steht. So kam der Tag, wo ich zu mei­nem ei­ge­nen Leid auch die­se Er­war­tung ver­nich­ten und ein wer­tes Band zer­schnei­den muss­te. Es war im­mer der­sel­be gute Geist, der von in­nen her­aus un­heil­ba­re Miss­grif­fe ver­hin­dern woll­te, aber er schuf da­mit eine Lee­re um mich her, in der die jun­ge See­le bis­wei­len an sich sel­ber irre ward. Der Kreis le­bens­fro­her jun­ger Men­schen, der uns in den letz­ten Jah­ren um­ge­ben hat­te, war in alle Win­de zer­streut, denn in ei­ner Uni­ver­si­täts­stadt wech­seln die Ge­sich­ter schnell. Neue ka­men und glit­ten wie ein Schat­ten­spiel vor­über. Dazu die dunkle Pein der Ju­gend, kei­nen Zu­sam­men­hang in den Din­gen zu se­hen und von sich sel­ber nichts zu wis­sen. Gest­ri­ges war gleich ver­wischt, das Heu­te hat­te nur eine hal­be Wirk­lich­keit und fiel je­den Abend wie wel­ke Blät­ter zu Bo­den; da war nur im­mer­dar ein lo­cken­des, ver­spre­chen­des Mor­gen, das vor ei­nem her­wich wie der Ho­ri­zont.

Ed­gar leb­te un­ter­des­sen mit In­brunst den Tag, von dem er kei­ne Stun­de ver­lie­ren woll­te. Die in­ne­ren Hin­der­nis­se, die mir im­mer wie­der den Be­cher vom Mun­de zo­gen, be­griff er nicht und sah mein Tun mit Ver­wun­de­rung. Er hat­te es ei­lig mit dem Le­ben, ei­li­ger als wir an­de­ren, als ahn­te er, dass sei­ne Zeit knapp be­mes­sen sei. Doch hat­te die­se Le­bens­gier nichts mit der scha­len Ge­nuss­sucht ei­ner spä­te­ren Ju­gend ge­mein: er woll­te das Le­ben he­ro­isch aus­schöp­fen; auch Kampf und Qual wa­ren ihm nur an­de­re For­men der Freu­de und eben­so will­kom­men. Da­bei war sein Le­bens­ge­fühl von sol­cher Stär­ke, dass er mir ein­mal ge­stand, so sehr er als Arzt die Er­fah­rung des To­des habe, kön­ne er sie doch nicht auf sich sel­ber an­wen­den, ja er füh­le die kör­per­li­che Ge­wiss­heit in sich, dass er nie­mals ster­ben wer­de. Die­se Wor­te, so wun­der­lich sie klan­gen, wa­ren mir ganz aus der See­le ge­spro­chen. Das­sel­be un­be­zwing­li­che kör­per­li­che Hoch­ge­fühl der Ju­gend, die­ses wie in ei­nem Sie­ge­stan­ze Da­hin­ge­hen und sich als un­zer­stör­bar Emp­fin­den war auch in mir. Wir Ge­schwis­ter stan­den uns in den Jah­ren zu nahe und wa­ren uns auf man­chen Punk­ten zu ähn­lich, um uns in der Dür­re des Le­bens zu er­set­zen, was bei­den fehl­te. Wie in­nig wür­de er ein klei­nes, hilflo­ses, nur an sei­nen Au­gen hän­gen­des Schwes­ter­lein be­schützt ha­ben! Wie wohl hät­te mir die rei­fe Männ­lich­keit ei­nes viel äl­te­ren Bru­ders ge­tan! So pil­ger­ten wir zwar im­mer­dar nach dem­sel­ben Mek­ka der See­le, aber häu­fig, wie einst auf un­se­rer Schwei­zer Fahrt, auf bei­den Sei­ten der Stra­ße. Je­des gab dem an­dern die Schuld. Er fühl­te sei­ne Lie­be als die lei­den­schaft­li­che­re und hielt sie des­halb für un­er­wi­dert, ohne zu be­grei­fen, wie schwer es bei sei­nen auf und ab zu­cken­den Stim­mun­gen und der Ge­walt­sam­keit sei­nes We­sens war, ihn zu be­glei­ten. Ein­mal ver­glich ich uns bei­de in ei­nem nur für mich be­stimm­ten Ge­dicht mit dem Ge­schwis­ter­paar der nor­di­schen Sage, das den Rei­gen von Tag und Nacht führt und sich bei al­ler Lie­be nie be­geg­nen kann. Mama steck­te ihm das Ge­dicht zu. Er nahm das Gleich­nis auf in ei­ner schmerz­li­chen Ant­wort, worin die Wor­te stan­den:

Weißt du denn, wel­che Geis­ter in mir woh­nen?

Kennst du mich, der ein Le­ben durch­ge­lebt?

Nicht Schat­ten, nein, le­ben­di­ge Dä­mo­nen

Sind es, in de­ren Zwang mein Herz er­bebt.

Er hat­te recht, ich kann­te ihn nicht und hielt auch die­se Wor­te nur für eine poe­ti­sche For­mel. In der Fa­mi­lie be­ob­ach­tet man eine all­mäh­li­che Wand­lung am al­ler­we­nigs­ten. Für mich hat­te er im­mer noch viel von dem Jüng­lings­kna­ben, der mir in Nie­der­nau im ei­fer­süch­ti­gen Schmerz die Krän­ze vom Arm ge­ris­sen und mich auf dem Rigi durch sei­ne Wun­der­lich­kei­ten ge­pei­nigt hat­te, weil er je­nem auch äu­ßer­lich noch so ähn­lich sah. Dass nach sei­nem Über­gang von der Phi­lo­lo­gie zur Me­di­zin der schwär­me­ri­sche Blick sei­ner Au­gen nach und nach ei­nem Aus­druck durch­drin­gen­der Be­stimmt­heit wich, das voll­zog sich zu lang­sam, um in die Wahr­neh­mung zu fal­len. Ich wuss­te auch vor al­lem nichts von den Her­zens­stür­men, die schon über ihn her­ein­ge­braust wa­ren, und wie Frau­en­lie­be an ihm ge­mo­delt hat­te. Und die dä­mo­ni­schen Plötz­lich­kei­ten, de­nen man aus­wei­chen muss­te, lie­ßen den dar­un­ter ver­bor­ge­nen, straff ge­spann­ten und ste­ti­gen Wil­len nicht in sei­ner wah­ren Be­deu­tung er­schei­nen. An die Schnel­lig­keit sei­ner wis­sen­schaft­li­chen Ent­wick­lung aber war man schon so ge­wöhnt, dass sich nie­mand groß ver­wun­der­te, ihn mit 21 Jah­ren als As­sis­tenz­arzt an der ge­burts­hilf­li­chen Kli­nik zu se­hen, wo er sei­ne Al­ters­ge­nos­sen und zum Teil noch äl­te­re Stu­die­ren­de zu Schü­lern hat­te.

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