Makroökonomik und Wirtschaftspolitik

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1.3 Prognose des wirtschaftlichen Wachstums

Mithilfe der Wachstumsprognose soll ein langfristiger Trend der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmt werden. Informationen darüber helfen den Unternehmen, ihren Einkauf, ihre Produktion sowie ihre Investitionstätigkeit zu planen. Zur Bestimmung |12|eines Wachstumstrends wird nach in der Vergangenheit aufgetretenen Regelmäßigkeiten Ausschau gehalten. Diese Regelmäßigkeiten in der Vergangenheit können mit statistischen Methoden z.B. der Regressionsberechnung in einem Trend abgebildet werden. Wird der Trend in die Zukunft fortgeschrieben, so ist dieses Verfahren der Extrapolation eine Methode zur Prognose wirtschaftlichen Wachstums.

Im Zentrum der Wachstumsprognose steht die gesamtwirtschaftliche Angebotsseite: das Produktionspotenzial der Unternehmen. Nimmt man an, dass das Produktionspotenzial in der Vergangenheit im Durchschnitt normal ausgelastet war, so verhilft eine Extrapolation der Zeitreihe des BIPs zu einer Prognose des wirtschaftlichen Wachstums. Um eine höhere Prognosegenauigkeit zu erreichen, können einzelne Produktionsfaktoren wie das Kapital, die Arbeit, der technische Fortschritt in die Analyse einbezogen werden. Daten zu diesen Einzelaspekten sind die Arbeitsproduktivität, die Kapitalintensität etc. Neben diesen sogenannten stilisierten Fakten sollen theoretische Ansätze u.a. der Prognose von wirtschaftlichem Wachstum dienen. Zwei Ansätze werden in Abschnitt 1.3.2 kurz dargestellt. Und schließlich verhelfen empirische Ansätze analog zu den stilisierten Fakten zu Aussagen über die künftige Entwicklung einer Volkswirtschaft (vgl. zu den folgenden Ausführungen Böschen 2015).

1.3.1 Stilisierte Fakten

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung von Volkswirtschaften weist – so haben Wirtschaftswissenschaftler festgestellt – gewisse Regelmäßigkeiten auf. Diese charakterisieren den Prozess des wirtschaftlichen Wachstums und werden als stilisierte Fakten bezeichnet.[6]

 Das BIP Y pro Kopf nimmt über die Zeit zu, und seine Wachstumsrate w nimmt tendenziell nicht ab. Die Entwicklung des realen Pro-Kopf-Einkommens in Deutschland seit 1990 ist hierfür ein Beispiel.

Abbildung 3:

Entwicklung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens in ausgewählten Volkswirtschaften in US-Dollar (Quelle: Eigene Darstellung mit Daten von UNCTAD 2015b).

|13|Auch das Pro-Kopf-Einkommen in z.B. Großbritannien nimmt im Durchschnitt über all die Jahre zu. Der starke Einbruch 2008/2009 ist auf die Weltwirtschaftskrise zurückzuführen, die bereits 2007 in den USA ausgelöst wurde und sich aufgrund der internationalen Verknüpfung der Kapitalmärkte weltweit niedergeschlagen hat. Da ein Großteil des BIP in Großbritannien im Finanzsektor generiert wird, ist der Einbruch der wirtschaftlichen Leistung dramatisch gewesen und der Erholungsprozess verläuft langsam.

Auch die Entwicklungen in den sogenannten ‚BRIC‘-Staaten untermauern die oben genannte These. Abbildung 3 veranschaulicht, dass die Pro-Kopf-Einkommen in Brasilien, Russland, Indien und China zwischen 1990 und 2014 durchschnittlich zugenommen haben. In Russland bzw. vormals der UdSSR und Brasilien lagen vor dem betrachteten Zeitraum einige deutliche Schwankungen vor. Hierfür waren in beiden Volkswirtschaften politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformversuche ursächlich. Insbesondere Brasilien war von einer Hyperinflation betroffen. In Russland hat der Übergang von der zentralen Planwirtschaft zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu Anpassungsschwierigkeiten geführt (dbresearch 2010).

 Die Entwicklung der sogenannten Kapitalintensität wird als weiteres stilisiertes Faktum herangezogen, um die Entwicklung einer Volkswirtschaft zu beurteilen.

Am Beispiel Deutschlands erläutert das Statistische Bundesamt: „Wie sich die beiden Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit im Verhältnis zueinander entwickelt haben, zeigt die Kapitalintensität, d.h. das Verhältnis von Bruttoanlagevermögen zu Erwerbstätigen.“[7] Am Ende des Jahres 2015 belief sich das Bruttoanlagevermögen für Produktionszwecke in Deutschland auf 17,2 Billionen Euro und es waren 43,29 Millionen Menschen erwerbstätig, d.h. die Kapitalintensität betrug 17,2 Billionen Euro geteilt durch 43,29 Millionen Erwerbstätige und damit war jeder Arbeitsplatz in Deutschland durchschnittlich mit Anlagegütern im Wert von 397320 € ausgestattet. Das Bruttoanlagevermögen ist preisbereinigt um 5,9 Prozent gegenüber 2010 und um 1,2 Prozent gegenüber 2014 gestiegen.[8]

 Der Quotient aus dem physischen Kapital und dem Output ist in etwa konstant. Das Verhältnis zwischen dem Kapitaleinsatz K und dem Output Y wird als Kapitalkoeffizient k bezeichnet. Im langfristigen Wachstumsprozess wachsen die Produktion und das Kapital im Durchschnitt mit der gleichen Rate, so dass der Kapitalkoeffizient – stilisiert – konstant bleibt.

wk = wK – wY = 0

Die Anteile der Arbeit und des physischen Kapitals am Volkseinkommen, d.h. die Lohnquote und die Gewinnquote, sind beinahe konstant. Die Lohnquote ergibt sich aus den Arbeitnehmereinkünften (ANE), die im Rahmen der Verteilungsrechnung besprochen wurden, anteilig am Volkseinkommen multipliziert mit 100. Die Gewinnquote |14|ergibt sich den Unternehmens- und Vermögenseinkünften anteilig am Volkseinkommen multipliziert mit 100. Zusammen sind die Lohn- und die Gewinnquote immer 100 Prozent des Volkseinkommens. Die leichten Schwankungen der beiden Quoten geben Hinweise auf die konjunkturelle Phase, in der die Volkswirtschaft sich befindet. In Deutschland liegt die Lohnquote im Durchschnitt der letzten Jahre bei 66,7 Prozent. Im Jahr 2007 betrug sie jedoch nur 63,5 Prozent des Volkseinkommens. Spiegelbildlich verhält sich die Gewinnquote. In der Folge der Finanzmarktkrise der Jahre 2007 und folgende, die mit einem Einbruch des Wirtschaftswachstums um nahezu 6 Prozent im Jahr 2009 einherging, ist die Gewinnquote auf 31,5 Prozent des Volkseinkommens gesunken. Die Unternehmen verzeichneten aufgrund des stagnierenden Welthandels und der schwächelnden Binnenwirtschaft Gewinneinbußen. Die Einkünfte aus Vermögen wie Zinsen und Dividenden gingen zurück.

Abbildung 4:

Lohn- und Gewinnquote in Prozent (Quelle: Eigene Darstellung mit Daten vom Statistischen Bundesamt 2017d).

In Abbildung 4 werden auf der vertikalen Achse die Lohn- bzw. Gewinnquote in Prozent dargestellt. Auf der horizontalen Achse werden die Jahre abgebildet. Während die Lohnquote um die 67 Prozent anteilig am Volkseinkommen schwankt, liegt die Gewinnquote um die 33 Prozent herum.

 Die Wachstumsrate des Outputs Y je Arbeiter A (die Arbeitsproduktivität[9]) weicht zwar zwischen einzelnen Ländern erheblich voneinander ab, nimmt aber in einer wachsenden Volkswirtschaft mit einer konstanten Rate zu. Abbildung 5 zeigt für Deutschland einen zwar nur leicht ansteigenden Verlauf der Trendlinie. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass die Folgen der Weltwirtschaftskrise sich insbesondere im Jahr 2009 gravierend auf die Entwicklung des Outputs (BIP) und damit bei sogar um 0,1 Prozent angestiegenen Erwerbstätigenzahlen auf die Arbeitsproduktivität ausgewirkt haben und das Bild ein wenig verzerren.

|15|Abbildung 5:

Entwicklung der Arbeitsproduktivität in Deutschland in Prozent (Quelle: Eigene Darstellung mit Daten vom Statistischen Bundesamt 2016g und 2017a).

Verschiedene Studien über unterschiedliche Volkswirtschaften und in verschiedenen Zeiträumen spiegeln die aufgeführten Punkte wider (Barro und Sala-i-Martín 1998, 6–11). Heubes fordert in diesem Zusammenhang: „Jede Wachstumstheorie, die als Erklärung der langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung akzeptiert werden will, muss in der Lage sein, diese stilisierten Fakten zu erklären.“ (Heubes 1991, 153) Bevor zwei einfache Wachstumsmodelle erläutert werden, sei hervorgehoben, dass folgende Bestimmungsgründe das Wachstum einer Volkswirtschaft maßgeblich beeinflussen:

 der technische Fortschritt;

 die Höhe der Humankapitalinvestitionen, d.h. der Investitionen in die Bildung der Wirtschaftssubjekte, die in der Volkswirtschaft agieren;

 die Produktivität der Arbeit, die in die vielfältigen Produktionsprozesse einfließt;

 die Rentabilität des Kapitals bzw. die Erhöhung des Kapitalstocks, das in die Produktionsprozesse eingebunden ist.

Tatsächlich sind die genannten, empirisch beobachteten Fakten unmittelbar eingängig und liefern doch zu wenige Argumente für die Beantwortung der Frage, wie wirtschaftliches Wachstum von statten geht. Zu diesem Zweck werden theoretischen Modelle herangezogen.

1.3.2 Theorien zur Erklärung des wirtschaftlichen Wachstums

Theorien und Modelle zum wirtschaftlichen Wachstum haben die Aufgabe, bestimmte Teilaspekte der langfristigen Entwicklung einer Volkswirtschaft anschaulich zu erklären. Sie sind wegen der Abstraktion nicht allumfassend und beinhalten üblicherweise unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte. Es können die neoklassische Wachstumstheorie |16|und die keynesianische unterschieden werden.[10] Die neoklassische Wachstumstheorie geht davon aus, dass der Output Y durch den Einsatz der Produktionsfaktoren Kapital K und Arbeit A hervorgebracht wird und dass jede zusätzlich in den Produktionsprozess eingebrachte Einheit Kapital bzw. Arbeit dafür sorgt, dass ein höherer Output produziert werden kann. Es nimmt jedoch der zusätzliche Output ab, je mehr Einheiten Kapital respektive Arbeit bereits im Produktionsprozess eingesetzt sind. Es werden abnehmende Grenzproduktivitäten der Produktionsfaktoren angenommen. Die keynesianische Wachstumstheorie orientiert sich vor allen Dingen an den Investitionen.

 

1.3.2.1. Eine keynesianische Wachstumstheorie

In der keynesianischen Wachstumstheorie versuchten Schüler von John Maynard Keynes das eigentlich Unmögliche: die kurzfristig und konjunkturorientierte Theorie nach Keynes (vgl. Kapitel 2) wurde um den längerfristigen Aspekt erweitert, der aus der Kapitalstockbildung resultiert. Es geht um die Frage, inwieweit zusätzliche Investitionen eine Ausweitung des Produktionspotenzials bewirken und eine neue Nachfrage schaffen. Eine Kapazitätserhöhung ist auf das Ausmaß der Investitionen zurückzuführen.

Nicholas Kaldor (1908–1986) stellte die These auf, dass es endogene Faktoren gibt, die in Form einer veränderten Einkommensverteilung dafür Sorge tragen, dass der Wachstumsprozess stabil verläuft.[11] Das Modell von Kaldor wird im Folgenden kurz dargestellt.

Ausgangspunkt des Modells sind die Investitionen. Es wird die ex post-Gleichheit von Ersparnissen und Investitionen angenommen. Mit anderen Worten: in einer Volkswirtschaft muss nach Abschluss einer Periode z.B. am 31.12. all das Kapital, das von den privaten Haushalten, den Unternehmen und dem Staat gespart wurde, von diesen investiert worden sein (Terlau et al. 2013). Kaldor geht davon aus, dass die Investitionstätigkeit vom Zins abhängt. Wenn der Zins zulegt, wird das Entleihen von Kapital auf dem Kapitalmarkt kostspieliger. Ein Unternehmer wird abwägen, ob die erwartete Rendite der geplanten Investitionen so hoch ist, dass die Fremdkapitalkosten wenigstens gedeckt sind. Hinsichtlich der Sparfunktion unterscheidet er das Verhalten der Lohneinkommensbezieher von dem der Bezieher von Gewinn- und Vermögenseinkünften. |17|Kaldor nennt diese Einkommen Profiteinkommen. Es gilt die Annahme, dass die Sparneigung der Bezieher von Lohneinkommen geringer ist als die der ‚Profiteinkommensbezieher‘. Dies hängt mit der Beobachtung zusammen, dass Lohneinkommensbezieher tendenziell ein geringeres Einkommen erwerben und der Anteil der Konsumausgaben an diesem Einkommen höher ist als ‚Profiteinkommensbeziehern‘. Insofern können die Lohneinkommensbezieher nur einen geringeren Anteil ihres Einkommens sparen als die Profiteinkommensbezieher. Die Investitionstätigkeit kann annahmegemäß bestimmt werden, indem der tatsächlich vorhandene Kapitalstock mit dem idealerweise vorhandenen Kapitalstock verglichen wird. Es wird unterstellt, dass dieser optimale Kapitalstock während einer Periode erreicht werden kann. Das bedeutet, dass der tatsächliche Kapitalstock zu Beginn einer Periode dem optimalen Kapitalstock der Vorperiode entspricht. Die Produktionshöhe der Vorperiode ist nun für das Investitionskalkül und damit für den Kapitalstock in der aktuellen Periode ausschlaggebend. Der Anteil des Profiteinkommens der Vorperiode am Kapitalstock der Vorperiode wird zur Ermittlung der Profitrate mit der Produktionshöhe der Vorperiode multipliziert. Kaldor nimmt an, dass der optimale Kapitalstock bzw. die Investitionstätigkeit von der Produktionshöhe und von der Profitrate abhängen. Mit Hilfe der Sparquote, dem Anteil der Ersparnis am Volkseinkommen, und der Investitionsquote, dem Anteil der Investitionen am Volkseinkommen, kann nach Kaldor analysiert werden, ob ein stabiles Wachstumsgleichgewicht erreicht werden kann.

Es gilt weiterhin die Annahme, dass die Investitionen gleich der Ersparnis sind. Die gesamtwirtschaftliche Sparquote setzt sich aus der gewichteten Sparneigung der Lohneinkommensbezieher und der Sparneigung der ‚Profitbezieher‘ zusammen. Beide Sparneigungen sind einkommensabhängig und unterschiedlich. Unter Berücksichtigung der Kapitalintensität und des Anteils der Profiteinkommen am Kapitalstock kann die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote ermittelt werden. Für beide relativen Größen liegen lineare Zusammenhänge vor. In der grafischen Darstellung haben beide Funktionen einen positiven Y-Achsenabschnitt und eine positive Steigung. Im Punkt (P/Y)* liegt ein Gleichgewicht vor, wobei P/Y die Profitquote ist. Hat sich die Wirtschaft zu diesem Gleichgewicht zwischen Spar- und Investitionsquote hin entwickelt, dann ist auch die Einkommensverteilung zwischen Lohneinkommen und ‚Profiteinkommen‘ stabil. Wenn jedoch der Anteil der ‚Profiteinkommen‘ am Volkseinkommen höher ist als im Gleichgewicht, dann ist die Ersparnisbildung größer als die Investitionstätigkeit. Dies führt zu sinkenden Preisen mit der Folge, dass die Unternehmen aufgrund sinkender Gewinnerwartungen weniger investieren. Die sinkende Investitionstätigkeit beinhaltet, dass die Profitquote P/Y fällt. Der Prozess läuft, bis die gleichgewichtige Profitquote erneut erreicht ist. Kaldor nimmt demnach in seinem Modell an, dass Preisveränderungen Anpassungen der Einkommensverteilung auslösen. Diese sorgen einerseits für eine Verhaltensänderung der Wirtschaftssubjekte hinsichtlich der Ersparnisbildung. Andererseits verändert sich durch Preisbewegungen die Investitionsnachfrage. Mit Hilfe des Akzelerators führt dies erneut zum alten Gleichgewicht mit der Profitquote (P/Y)*.

|18|Abbildung 6:

Spar- und Investitionsquote im Wachstumsmodell von Kaldor (Quelle: Eigene Darstellung nach Jürgen Heubes, Konjunktur und Wachstum, München 1991, 162).

Nachdem Kaldor zunächst die konjunkturelle Stabilität seines Modells nachgewiesen hat, versucht er in einem zweiten Schritt, die langfristigen Angebotsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft einzubeziehen. Kaldor nimmt an, dass die langfristige Wachstumsrate der Produktion bei konstantem Arbeitseinsatz – schließlich ändert sich das Erwerbstätigenpotenzial nur in der sehr langen Frist – von der Veränderung des Kapitalstocks abhängt. Die Wachstumsrate des Kapitals bzw. die Zunahme des Kapitalstocks hängt, so Kaldor und eine Vielzahl weiterer Ökonomen, vom technischen Fortschritt ab. Ein gleichgewichtiges Wachstum ist in dem Fall erreicht, in dem die Wachstumsraten von Output und Kapital übereinstimmen. Jedoch steigt die Wachstumsrate des Outputs infolge zunehmender Probleme bei der Umsetzung technischen Fortschritts unter Umständen nur unterproportional im Vergleich zur Wachstumsrate des Kapitals. Das bedeutet, dass die Kapitalproduktivität, d.h. das Verhältnis zwischen der Produktion und dem Kapitaleinsatz, während des Anpassungsprozesses zum gleichgewichtigen Wachstum zunimmt. Werden die Bedingungen der Investitionsquote erneut in die Überlegungen zur langfristigen Veränderung des Kapitalstocks einbezogen, dann kann sich die Wachstumsrate des Kapitalstocks der Wachstumsrate der Produktion anpassen. Hinsichtlich der Profitquote ergibt sich unter Beachtung der Sparquote und der Identität von Ersparnis und Investitionen, dass die Investitionsquote und auch die Profitquote während des Anpassungsprozesses ansteigen. Dies bewirkt eine weitere Beschleunigung der Anpassung. Diese Zusammenhänge weisen darauf hin, dass der langfristige Gleichgewichtspfad gemäß den Überlegungen von Kaldor stabil ist. Wenn die Wachstumsraten des Outputs und des Kapitalstocks voneinander abweichen, treten Anpassungsprozesse in Kraft, die zu einem gleichgewichtigen Wachstum hinführen. Der dargestellte Wachstumsprozess wird nach Kaldor immer wieder auf den langfristigen Gleichgewichtspfad zurückgeführt, auf dem das BIP und der Kapitalbestand mit der gleichen Rate wachsen.

|19|Kaldor stellte die These auf, dass endogene Faktoren existieren, die in Form einer veränderten Einkommensverteilung dafür Sorge tragen, dass der Wachstumsprozess stabil verläuft. Nachdem er gezeigt hat, dass Preisveränderungen Anpassungsprozesse hinsichtlich der Einkommensverteilung bewirken, legt er dar, dass gleichgewichtiges Wirtschaftswachstum auf dem gesamtwirtschaftlichem Güterangebot und der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage basieren. Kaldor bestätigt die oben genannten stilisierten Fakten und wird damit der Forderung von Heubes gerecht.

1.3.2.2. Das neoklassische Grundmodell

In den neoklassischen Wachstumsmodellen wird nicht mehr wie in dem keynesianischen Modell die Antwort auf die Frage nach der Stabilität des Wachstumsprozesses gesucht, sondern die Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen stabile Gleichgewichtspfade existieren. Eine Vorhersage des Modells der Wirtschaftswissenschaftler Robert M. Solow (geboren 1924) und Trevor Swan (1918–1989) ist, dass eine Volkswirtschaft umso stärker wachsen kann, je geringer das Pro-Kopf-Einkommen in der Ausgangssituation im Verhältnis zum langfristigen oder gleichgewichtigen Niveau ist. Eine weitere Vorhersage ist, dass das Pro-Kopf-Einkommenswachstum ohne ständige Verbesserungen der Technik stagniert.[12]

In der modellierten Volkswirtschaft wird der Output mit Hilfe von Arbeit und Kapital hergestellt. Es herrscht Vollbeschäftigung. Die Produktionsfunktion ist durch konstante Skalenerträge gekennzeichnet sowie durch fallende Grenzproduktivitäten der Produktionsfaktoren und positive und stetig bestimmbare Elastizitäten der Substitution zwischen den Produktionsfaktoren. Die Substitutionselastizität ist ein Maß für die Leichtigkeit, mit der die beiden Produktionsfaktoren bei konstantem Outputniveau gegeneinander ausgetauscht werden können. (In keynesianischen Modellen können die Produktionsfaktoren meistens nicht gegeneinander ausgetauscht werden). Es wird darüber hinaus unterstellt, dass die Grenzerträge der Produktionsfaktoren gleich den jeweiligen Faktorentlohnungssätzen – Lohn für den Einsatz von Arbeit und Rendite für den Kapitaleinsatz – sind. Das Wachstum der Bevölkerung liegt exogen fest, und weil Altersaufbau, Erwerbsquote etc. als konstant gelten, stimmt die Wachstumsrate der verfügbaren Arbeit mit der Wachstumsrate der Bevölkerung überein. Ein konstanter Anteil des BIP wird dem Kapitalstock als Nettoinvestition zugerechnet. Der Rest wird konsumiert. Dem Modell wird eine lineare Produktionsfunktion zu Grunde gelegt. Es gilt die Annahme, dass die Grenzproduktivitäten der Produktionsfaktoren ihrer jeweiligen Entlohnung, d.h. Lohn bei der Arbeit und Rendite beim Kapital, entsprechen und konstant sind. Bei einem Pro-Kopf-Einkommen von 1000 betragen die Bruttoinvestitionen pro Kopf in der Ausgangssituation 100 und die Abschreibungen auf den Kapitalstock ebenfalls 100 (vgl. Anhang). Weil die Nettoinvestitionen gleich Null sind, verändert sich der Kapitalstock in der Ausgangssituation nicht und damit ist auch das Pro-Kopf-Einkommen konstant. Unter der Annahme, dass die Investitionsneigung in dieser Situation auf 20 Prozent steigt, erhöhen sich im ersten Jahr die |20|Pro-Kopf-Investitionen auf 200, während die Abschreibungen für den Kapitalstock noch bei 100 liegen. Der Kapitalstock pro Kopf nimmt demnach von 1000 auf 1100 (=1000+200–100) zu. Dies steigert auch – allerdings weniger stark – das Pro-Kopf-Einkommen. Dieses beträgt dann 1065. In der zweiten Periode wächst der Kapitalstock nach wie vor, aber weniger stark. Zum einen erhöhen sich die Abschreibungen i.H.v. 10 Prozent auf 110, zumal der Kapitalstock zu Beginn der Periode 2 bei 1100 liegt. Die vom Einkommen abhängigen Investitionen belaufen sich nach wie vor auf 20 Prozent, so dass bei einem Pro-Kopf-Einkommen von 1065 für die Investitionen ein Wert von 213 resultiert. Die Investitionen nehmen damit um 6,5 Prozent gegenüber der Vorperiode zu, also nicht mehr so stark wie zuvor. Das Pro-Kopf-Einkommen steigt auf 1131. Bereits in Periode 3 ergib sich folgendes Resultat: Die Abschreibungen betragen 10 Prozent von 1100+213–110 = 1203, d.h. 120. Die Investitionen liegen bei 20 Prozent von 1131, d.h. sie betragen 226. Der Anstieg beläuft sich nur noch auf 6,1 Prozent gegenüber Periode 2. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt nun bei 1197. Das Pro-Kopf-Einkommen ist auch in Periode 3 gestiegen. Der Anstieg ist allerdings weniger hoch. In Periode 2 betrug er 6,1 Prozent gegenüber Periode 1 und in Periode 3 ist nur noch ein Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens von 5,8 Prozent gegenüber der Vorperiode zu verzeichnen. Auch der Kapitalstock steigt stetig, jedoch mit abnehmenden Wachstumsraten. Dieser Prozess dauert an, bis die Abschreibungen wieder so hoch sind wie die Investitionen. Unter den genannten Bedingungen ist dies in Periode 199 der Fall (vgl. die Berechnungen im Anhang). Hier verharren der Kapitalstock und das Volkseinkommen auf dem gleichen Niveau. Der sogenannte ‚steady state‘, das langfristige Gleichgewicht, ist erreicht. Eine höhere Sparquote kann dem Modell von Solow zufolge keine stetige Erhöhung des Volkseinkommens herbeiführen. Das wirtschaftliche Wachstum nimmt nur für einen bestimmten Zeitraum zu, nicht dauerhaft. Dieses Ergebnis hängt von der Annahme ab, dass der zusätzliche Kapitaleinsatz bei einem unveränderten Arbeitskräfteeinsatz mit abnehmenden Grenzerträgen verbunden ist.

 

Anfänglich wurde angenommen, dass die Sparquote konstant ist. Diese Annahme wird beibehalten. Es soll allerdings untersucht werden, wie sich die Konsummöglichkeiten bei unterschiedlich hohen, konstanten Sparquoten verändern. Dieser Analyse liegt die Frage zugrunde, welchen Betrag die Wirtschaftssubjekte investieren sollen, wenn sie möglichst viel konsumieren können wollen. Deutlich ist, dass ohne Nettoinvestitionen die Abschreibungen zu einer Verminderung des Kapitalstocks führen. Die Folge wäre, dass auch die Einkommen gegen Null gehen und nicht mehr konsumiert werden könnte. Demgegenüber würde ebenfalls nichts konsumiert werden können, wenn die Wirtschaftssubjekte ihre gesamten Einkommen investierten. Der Kapitalstock würde zwar stark zunehmen, aber auch die Abschreibungen würden steigen. Es müsste laufend viel investiert werden. Das Optimum liegt zwischen der Nullinvestition und dem Verausgaben des gesamten Einkommens für Investitionen. Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass eine Sparquote von 70 Prozent zu maximalen künftigen Konsummöglichkeiten führt (Bofinger 2011, 55ff.). Diese Sparquote wird als ‚goldene Regel der Kapitalakkumulation‘ bezeichnet. Logisch erscheint eine derart hohe Sparquote nicht. Die deutsche Sparquote liegt durchschnittlich in etwa bei 11 Prozent und gehört im internationalen Vergleich zu den höheren.

|21|Überträgt man diesen Gedanken auf die Analyse unterschiedlich weit entwickelter Volkswirtschaften, so wird deutlich, warum die z.T. relativ hohen Wachstumsraten von Entwicklungsländern mit dem Aufbau ihres Kapitalstocks erklärt werden können. China kann als ehemaliges Entwicklungsland und heutiges Schwellenland als Beispiel herangezogen werden: So waren in den 70er und 80er Jahren zweistellige Wachstumsraten eher die Regel als die Ausnahme. Diese Dynamik hat erst in den vergangenen Jahren nachgelassen und Anfang 2016 zu Irritationen auf den Kapitalmärkten geführt.[13] Demgegenüber ist bei Ländern mit einem vergleichsweise hohen Wohlstandsniveau beobachtbar, dass die Wachstumsdynamik weniger hoch ist, weil die Grenzerträge der eingesetzten Produktionsfaktoren zwar positiv sind, der zusätzliche Ertrag aber laufend geringer wird. Es gibt jedoch Ausnahmen. So können der technische Fortschritt und die qualitative Weiterentwicklung des Humankapitals Wachstumsschübe auslösen.

Analytisch bewirkt technischer Fortschritt, dass bei unveränderten Faktoreinsatzmengen ein höherer Output produziert wird. Die Produktionstechnologie kann durch Innovationen optimiert werden. Kontinuierliche Produktinnovationen sind eine ausschlaggebende Bedingung für hohe Unternehmensgewinne. Befördert wird eine kontinuierliche Innovationsfähigkeit sowohl durch eine unternehmensinterne Forschungs- und Entwicklungspolitik als auch durch eine staatliche Grundlagenforschungs- und Bildungspolitik. Ohne technischen Fortschritt können in entwickelten Volkswirtschaften, die eine sinkende Wachstumsdynamik aufweisen, keine Zuwächse der Pro-Kopf-Einkommen realisiert werden.

Mit technischem Fortschritt und der Entwicklung von Produktinnovationen geht die Qualifizierung des sogenannten Humankapitals, die (Aus-)Bildung der Erwerbstätigen bzw. Erwerbsfähigen, einher. In der neoklassischen Produktionsfunktion wird angenommen, dass der Produktionsfaktor Arbeit eine homogene Größe ist. Eine jede Arbeitsstunde führt immer zum selben Output. Diese Annahme ist bei der weniger abstrakten Modellierung des Modells aufzuweichen. Tatsächlich ist die Verbesserung des allgemeinen Bildungsstandes ausschlaggebend für die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft. So können sinkende Grenzerträge des Kapitaleinsatzes kompensiert werden, indem der zunehmende Kapitalstock von immer qualifizierteren Arbeitskräften genutzt wird. Zudem ist beobachtbar, dass in Volkswirtschaften mit zunehmendem Qualifikationsniveau der Dienstleistungssektor sowohl den primären als auch den sekundären Wirtschaftssektor ‚verdrängt‘. Da der Dienstleistungssektor weniger kapitalintensiv ist, als die beiden anderen Sektoren, nimmt das Qualifikationsniveau der Arbeitnehmer einen höheren Stellenwert im Produktionsprozess ein. Ein hohes Qualifikationsniveau beinhaltet zeitgleich, dass mehr Produkt- und Prozessinnovationen entwickelt werden können und technischer Fortschritt umsetzbar ist.

Als Schwächen der keynesianischen und der neoklassischen Wachstumstheorie sind der hohe Abstraktionsgrad zu nennen, die Annahme der Exogenität des technischen Fortschritts, das Fehlen der Berücksichtigung des Humankapitals sowie der |22|Verteilung der Einkommen und institutioneller Faktoren. Zudem wird in den Modellen automatisch das wirtschaftliche Wachstum mit der Veränderung der Investitionen gleichgesetzt. Die Wachstumsrate pro Kopf wird vollständig von der Rate des technischen Fortschritts determiniert. Die langfristige Wachstumsrate des Outputniveaus hängt außerdem von der Wachstumsrate der Bevölkerung ab, die jedoch ebenfalls exogen gegeben ist. Der Tatsache, dass die Umwelt durch wirtschaftliches Wachstum geschädigt werden könnte, wird in keinem der Modelle Rechnung getragen. Es liegt also ein Wachstumsmodell vor, das vieles, nur nicht das langfristige Wachstum erklärt.